Kategoriale Bildung inklusiv

Gymnasiale Lehrerbildung und Inklusion in Marburg

HLZ 7-8/2019: Inklusion

In dieser Ausgabe der HLZ setzen wir die Diskussion über Fragen der sonderpädagogischen Förderung und des inklusiven Unterrichts mit weiteren Beiträgen und ersten Reaktionen auf die Artikel in der HLZ 6/2019 fort.

Vor ziemlich genau 10 Jahren, am Abend des 21.12.2008, ratifizierte der Deutsche Bundestag die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Mit ihrer Entscheidung lösten die damaligen Abgeordneten eine bis heute andauernde und längst nicht abgeschlossene Diskussion über die Struktur des deutschen Schulsystems aus. Der diesbezüglich ebenso zentrale wie strittige Paragraph 24 zum Thema „Bildung“ sieht vor, dass die Vertragsstaaten bei „der Verwirklichung dieses Rechts“ sicherzustellen haben, „dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“ und „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“.

Stein des Anstoßes bei der Auslegung dieser Rechtsnorm war und ist die Frage, ob aus ihr zu folgen habe, das Förderschulwesen aufzulösen oder beizubehalten. Während die eine Seite für seine Abschaffung argumentiert, weil Förderschulen nicht als Teil des allgemeinen Bildungssystems anerkannt werden, betrachtet die andere Seite Förderschulen als integralen Bestandteil eines funktionierenden allgemeinen Bildungssystems und plädiert für ihren Erhalt.

Ein Blick auf die bundesdeutsche Schullandschaft zeigt, dass sich am Bestand des Förderschulwesens seit 2009 wenig geändert hat. Lediglich in Bremen wurden die Förderschulen abgeschafft. Jüngste Zahlen des deutschen Bildungsberichtes der Bundesregierung verdeutlichen, dass weiterhin eine beträchtliche Zahl an Schülerinnen und Schülern, die als behindert gelten und einen sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert bekommen, an Förderschulen unterrichtet werden. 2016/2017 wurden in Deutschland 7,1 % aller Schülerinnen und Schüler mit Vollzeitschulpflicht „sonderpädagogisch“ gefördert. 4,3 % besuchten eine Förderschule und 2,8 % wurden „inklusiv auf einer Regelschule“ beschult. Im Vergleich zum Jahr 2000/2001, in dem lediglich 0,7 % von insgesamt 5,3 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv beschult wurden, bedeutet dies eine Steigerung an inklusiver Beschulung um 2,1 %. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der an Förderschulen unterrichteten Kinder um 24,4 % verringert. Dennoch ist der Bestand an Förderschulen seit 2000/2001 gemessen am deutlich gestiegenen Inklusionsanteil vergleichsweise konstant geblieben. In den Zahlen bildet sich damit der bildungspolitische Trend in den meisten Bundesländern ab. Die Ratifizierung der UN-BRK hat in der Breite nicht zu einer rechtlich bindenden Entscheidung für die Abschaffung des Förderschulwesens geführt. Die Förderschulpflicht hingegen wurde aufgehoben, der Elternwillen und das Recht auf inklusive Beschulung wurden gestärkt.

Die Zahlen des Bildungsberichtes machen außerdem deutlich, dass das Thema Inklusion auch an den Gymnasien angekommen ist. Es finden sich vereinzelt Gymnasien, die sich in der Ausrichtung ihrer Schulprogrammatik durchaus auf den Weg zu einer inklusiven Schule begeben und somit neue Sondertypen dieser Schulform ausgebildet haben. Dies hat zu einer Erhöhung der Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Gymnasien von rund 1.500 (Schuljahr 2008) auf 3.300 (2012) und schließlich auf 6.500 (2016) geführt. Gemessen an der Gesamtzahl aller Schülerinnen und Schüler an Gymnasien (2,3 Millionen im Schuljahr 2016) drückt sich diese nominale Steigerung jedoch nur marginal im Nachkommastellenbereich des prozentualen Anteils aus (von 0,1 % auf 0,3 %).

Trotz dieser bundesweit kaum „spürbaren“ Zunahme der inklusiven Beschulung an Gymnasien erhält die Debatte um die Aufnahme von behinderten Kindern an Gymnasien große bildungspolitische Brisanz. Diese Brisanz ist darin zu sehen, dass mit der Ratifizierung der UN-BRK neben das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit das der Teilhabegerechtigkeit gerückt ist. Dies hat zur Folge, dass unzureichende „Leistungsfähigkeit“ keinen hinreichenden Grund mehr darstellt, die Beschulung von Kindern mit den Förderbedarfen „Lernen“ und „Geistige Entwicklung“ an einem Gymnasium abzulehnen. Lernzieldifferenter Unterricht könnte daher auch an Gymnasien bald zur Regel werden.

Die Philipps-Universität Marburg widmet sich bereits seit einigen Jahren auf verschiedenen Ebenen dem Thema „Inklusion“. Mit der erfolgreich eingeworbenen Anschlussfinanzierung für das Projekt ProPraxis im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung wird Inklusion ab 2019 – neben dem Querschnittsthema „Digitalisierung“ – ins Zentrum der Weiterentwicklung des Marburger Lehramtsstudiums rücken. Im Bereich des Fachstudiums liegt die Stärke der Marburger Lehrerbildung bei den besonderen Förderbedarfen „Sehen“ und „Sprache“, die im Arbeitsschwerpunkt „Sport mit Sehgeschädigten“ (Sportpädagogik) verortet sind, im Projekt „Meaningful Learning“ (Chemie) sowie im Schwerpunkt „sprachsensibler Fachunterricht“ (Germanistik). Mit einem Wahlpflichtmodul im erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Studium (EGL) ist das Thema „Heterogenität“ bereits curricular in der Marburger Lehrerbildung verankert. Das Lehrangebot in diesem Modul umfasst die Differenzkategorie „Behinderung“ ebenso wie die Themen „Geschlecht“, „Migration“ und „soziale Herkunft“. Das Selbstverständnis der Marburger Lehrerbildung ist damit an einem weiten Inklusionbegriff orientiert. Von diesem lässt sich sprechen, insofern ein Professionsverständnis angehender Lehrerinnen und Lehrer angestrebt wird, in dem der Blick geschärft wird für die Unterstützung von Kindern mit besonderen Förderbedarfen und auch für Kinder, die ihre Schullaufbahn aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder ihrer Sprachkenntnisse unter schlechten Voraussetzungen beginnen mussten. Insofern wird ein zentraler Anspruch der Marburger Lehrerbildung auch darin bestehen, die bildungstheoretisch fundierte gymnasiale Pädagogik, die in Marburg nicht zuletzt mit dem Namen Wolfgang Klafki verbunden ist, für das Unterrichten inklusiver Lerngruppen in Gymnasien neu zu denken: Kategoriale Bildung inklusiv.

Jürgen Braun und Wolfgang Meseth

Prof. Dr. Wolfgang Meseth hat seit 2013 einen Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt „Bildung und Heterogenität“ am Institut für Schulpädagogik an der Philipps-Universität Marburg im FB 21 – Erziehungswissenschaften. Jürgen Braun arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Lehrerbildung an der Philipps-Universität Marburg.