Hartmut Esser und Julian Seuring haben in ihrer Studie „Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit“ drei Typen von Übergangsregelungen nach der Grundschule in den Bundesländern identifiziert: eine „komplett liberale“ Variante mit der freien Elternwahl, eine „mittelmäßig strikte“ Variante und eine „strikte, leistungsbezogene“ Regelung. Sie haben diese Variablen verknüpft und abgeglichen mit Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), das längsschnittliche Daten zu Bildungsprozessen und Kompetenzentwicklungen in Deutschland erhebt. In einem Interview im Schulportal stellen sie als Ergebnis ihrer Untersuchung heraus:
„Je strikter die Länder beim Wechsel von der Grundschule zu der weiterführenden Schule vorgehen, desto höher fallen die durchschnittlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den siebten Klassen aus, ganz unabhängig von der Schulform. Die sozialen Effekte nehmen dabei nicht zu, wie häufig vermutet. Stattdessen werden sie gedeckelt.“ (2)
Blind für inklusive Förderung
Esser und Seuring sehen mit ihrer Untersuchung die in der empirischen Forschung seit der ersten PISA-Studie 2000 entwickelte Standardposition widerlegt, wonach die frühe Leistungsdifferenzierung soziale Bildungsungleichheiten verschärft, aber wenig Gewinn für das Leistungsniveau insgesamt bringt. Die internationalen Leistungsvergleiche, aber auch die meisten nationalen Untersuchungen hätten die Effekte der sozialen Herkunft, aber nicht der kognitiven Fähigkeiten untersucht. Die Forscher machen die kognitive Homogenisierung in Schulen und Schulklassen zur Gretchenfrage eines leistungseffizienten Schulsystems, während sie der Gliederung und damit der Strukturfrage keine bedeutsamen Effekte zuschreiben. Die sozialen Ungleichheiten bestünden unabhängig vom Schulsystem und würden durch Leistungsdifferenzierung „gedeckelt“ bzw. „gedämpft“. Eine vollständige Entkopplung des Bilddungserfolgs von der sozialen Herkunft sei zudem unrealistisch. Diese pragmatische Argumentation zeigt, wie stark die beiden Autoren im traditionellen gegliederten Schulsystem ideologisch verhaftet sind und wie wenig sie die nachgewiesenen positiven Effekte der Leistungsheterogenität in integrierten und inklusiven Schulsystemen wahrnehmen wollen.
Integrierte und inklusive Strukturen einerseits und neue Lernkulturen, Praktiken und professionelle Einstellungen für den pädagogischen Umgang mit Verschiedenheit andererseits bedingen und stärken sich gegenseitig. Zusammen ermöglichen sie ergebnisoffene Lernprozesse und individuelle Potentialentfaltung und streben erfolgreiche Lernentwicklungen für alle Lernenden unabhängig von ihrer Herkunft und anderen individuellen Merkmalen an. Während mit strikter Leistungsdifferenzierung eine „leistungsgerechtere“ Platzierung in überkommenen gegliederten Schulformen erreicht werden soll, orientieren sich integrierte und inklusive Systeme an sozialer Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit und dem Recht auf inklusive Bildung. Das sind auch die Zielmarken, die die Vereinten Nationen mit der Kinderrechtskonvention, der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und dem aktuellen Programm Education for Sustainable Development (ESD 2030) zusammen mit der UNESCO vorgegeben haben (3).
Für die positive Wirkung von Heterogenität im Schulsystem brauchen wir nicht ins Ausland zu schauen. Neben den vielen Grundschulen, integrierten Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen sind besonders die Berliner Gemeinschaftsschulen zu nennen, die als Pilot von 2008 bis 2018 wissenschaftlich begleitet und evaluiert wurden und seit 2018 auch im Berliner Schulgesetz verankert sind. Sie beweisen, dass alle Schülerinnen und Schüler, besonders jene aus sozial benachteiligten Familien, ohne äußere Leistungsdifferenzierung und Noten erfolgreiche Lern- und Leistungsentwicklungen erzielen. Sie ermöglichen auch Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf beachtliche Lernfortschritte (4).
Darüber hinaus ist wissenschaftlich belegt, dass mit der Konzeption der durchgängigen Langformschule von Klasse 1 bis 13 und einem an die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler angepassten Lernen ein für Deutschland bislang unvorstellbares, sensationelles Ziel erreichbar ist. Im Abschlussbericht heißt es dazu:
„Es ist gelungen, Schülerinnen und Schüler in heterogenen Lerngruppen so zu fördern, dass die in den untersuchten Kompetenzbereichen ermittelten Lernentwicklungen weitgehend von der sozialen Entwicklung entkoppelt sind.“
Die Integrierten Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen haben sich inzwischen fast alle von dem von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgeschriebenen Standardmodell der äußeren Fachleistungsdifferenzierung gelöst.Aus gutem Grund: Sie haben festgestellt, dass die „Sortierung“ der Schülerinnen und Schüler nach Leistung im Kurssystem für die lernschwächeren besonders abträglich ist, weil sie sich „abgeschrieben“ fühlen, während binnendifferenzierendes gemeinsames Lernen allen Lernenden nützt. Die Abkehr von leistungsbezogener Differenzierung hat zusätzlich durch die inklusive Entwicklung an Gesamtschulen eine starke Dynamik erfahren.
Aus den wissenschaftlich begleiteten Schulversuchen zum Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen, aus der interkulturellen Bildungsforschung und der Geschlechterforschung sind wissenschaftliche Heterogenitätsdiskurse entstanden. Über Ausbildung und Fortbildung könnten sie sehr viel stärker, als es derzeit geschieht, in die pädagogische Praxis hineinwirken und die Haltung und den professionellen Umgang mit Heterogenität in ihren vielen Facetten positiv beeinflussen. Heterogenität ist lernbar und gewinnbringend! Die Schulen des Deutschen Schulpreises, die mehrheitlich integrierte Schulformen mit inklusiver Praxisorientierung repräsentieren, sind ein Beweis dafür.
Vorbild Bayern?
Esser und Seuring verweisen in ihrem Beitrag auf die besseren Leistungser- gebnisse in Bayern und führen diese auf die kognitive Homogenisierung im bayerischen Schulsystem zurück. Ist die Annahme abwegig, dass die Leistungsunterschiede weniger der „lernförderlichen“ Wirkung kognitiver Homogenisierung als der stärkeren sozialen Selektivität des Gymnasiums in Bayern zuzuschreiben sind? In Bayern verhilft die strikte Übergangsregelung zum Gymnasium den in Mittelschulen umbenannten Hauptschulen zu einer stabilen Übergangsquote von 30 % und verhin- dert so, dass sie sich zu sozial segregierten Schulen wie in NRW entwickeln.
Die Förderschule Lernen konnte natürlich nicht Gegenstand der Untersuchung sein, da die Übergänge dorthin anders geregelt sind. Da die Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf Lernen durch sonderpädagogische Feststellungsverfahren, auch unter Gebrauch von Intelligenztests, ermittelt werden, könnte man annehmen, dass in den Förderschulklassen kognitive Homogenisierung weitgehend erreicht wird. Warum sind hier die Leistungsergebnisse besonders gering? Versagt hier die These von den Vorzügen der lernförderlichen kognitiven Homogenisierung, weil noch ganz andere Faktoren für eine gute Lernentwicklung bedeutsam sind? Oder muss man sich dann nicht doch mit der geringeren Heterogenität und der fehlenden Möglichkeit, mit Peers aus unterschiedlichen sozialen Milieus mit anderen Kompetenzen und Verhaltensweisen zu lernen, befassen? Klemm und Preuss-Lausitz hat die Stigmatisierung von Schülerinnen und Schülern mit Armutshintergrund schon 2011 in ihrem Gutachten „Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen“ bewogen, das Auslaufen dieser Schulart als „Armenschule“ dringend zu empfehlen Die folgende bildungspolitische Empfehlung von Esser und Seuring erweist sich letztlich als ein krasser Verstoß gegen die Kinderrechte:
„Nicht die weitere Öffnung und Abkehr von dem Kriterium der Leistungsdifferenzierung hilft, die Effizienz des Bildungswesens zu steigern und die sozialen (und ethnischen) Bildungsungleichheiten zu dämpfen, sondern eine wieder stärkere Orientierung daran.“
Lupenrein sortieren
Mit der Empfehlung, Fehlplatzierungen bei der „Sortierung“ möglichst vollständig zu vermeiden, meinen die Wissenschaftler allerdings auch die „fehlplatzierten“ Kinder aus unteren sozialen Schichten, die trotz einer Gymnasialempfehlung nicht das Gymnasium besuchen. Das Ziel solle durch verbindliche Empfehlungen und „stärkere Kontrollen schulischer Abläufe“ erreicht werden. Zur Ermittlung der kognitiven Fähigkeiten seien Noten allein nicht ausreichend. Es sollten „regelmäßige standardisierte Evaluationen der Fähigkeiten“ vorgenommen werden. Auch Intelligenztests könnten helfen, „um den Übergang zu objektivieren“.
Hier werden Kinder von Subjekten ihres Lernens mit eigenen Rechten zu Testobjekten, um sicherzustellen, dass die Kinder zu den Schulformen passen, die ihnen nach möglichst „lupenreiner Sortierung“ zugewiesen werden. Die Pädagogik der Vielfalt, zu der sich auch die Grundschulpädagogik bekennt, ist herausgefordert, sich den kinderfeindlichen Vorstellungen entgegenzustellen.
Es geht nicht um kognitive Gleichheit, sondern um inklusive Gleichheit. Inklusive Gleichheit im Schulsystem verlangt, dass alle Schulen lernen, sich Kindern und Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit anzupassen und sie in ihrem Selbstwertgefühl, dem Bewusstsein ihrer menschlichen Würde, ihrer Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die natürlichen Lebensgrundlagen zu stärken und handlungsfähig zu machen.
Inklusive Gleichheit herstellen!
Inklusive Gleichheit wird gerade in einer Gesellschaft, die durch soziale Spaltung zunehmend auseinanderdriftet und ihre demokratische Fundierung damit gefährdet, zu dem zentralen Ankerpunkt. Dagegen wird mit kognitiver Homogenisierung eine Gleichheit propagiert, die das Recht auf inklusive Bildung nicht nur ignoriert. Sie macht seine Umsetzung völlig unmöglich.
Dr. Brigitte Schumann
(1) Hartmut Esser und Julian Seuring: Kognitive Homogenisierung, schulische Leistungen und soziale Bildungsungleichheit, in: Zeitschrift für Soziologie 2020, 49 (5-6), Seite 277-301
(3) www.unesco.de/bildung/bildung-fuer-nachhaltige-entwicklung/unesco-programm-bne-2030
(4) www.berlin.de/sen/bildung/schu-le/bildungswege/gemeinschaftsschule