Inklusion und Lehrerbildung

Die Ausbildung für das Lehramt an Förderschulen

HLZ 7-8/2019: Inklusion

„Ich wollte Lehrerin werden.“ „Ich war als Schülerin gerne in die Schule gegangen und habe noch immer große Freude am Lernen und Neugier auf die Welt.“ „Als Lehrerin möchte ich Schule so gestalten, dass sie für Kinder ein Ort für Freude am Lernen und in der Welt ist.“ Mit diesen oder ähnlichen Erfahrungen und Motiven entscheiden sich Menschen für das Studium eines Lehramts. Auch die Wahl des jeweiligen Lehramts basiert dann auf persönlichen Erfahrungen oder Motiven. „Ich habe mich für das Lehramt Sonderpädagogik entschieden, weil Menschen mit Behinderung meine familiäre Normalität sind und mir ihre gesellschaftliche Teilhabe am Herzen liegt.“ Allen Studierenden des Lehramts Sonderpädagogik/Förderschule/sonderpädagogische Förderung ist gleich, dass sie Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt ihrer Berufstätigkeit stellen möchten. Sie wollen die Entwicklung und das Lernen von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen unterstützen. Als angehende Förderschullehrkräfte haben sie also zwei Entscheidungen getroffen: Zum einen möchten sie Lehrerin oder Lehrer werden und zum anderen möchten sie Lernende mit Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt ihrer Berufstätigkeit stellen.

Wer will ich sein ...

Über viele Jahrzehnte war die Förderschule der Ort, der durch die Förderschullehrkräfte zu einem Lernumfeld für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen gestaltet wurde. Im Mittelpunkt der Tätigkeit und Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer an der Förderschule stand der Unterricht, der die individuellen Lernvoraussetzungen und beeinträchtigungsspezifischen (oder auch sonderpädagogischen) Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigte. Doch das Lernumfeld der Kinder und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen ist im Wandel. Seit zehn Jahren soll in Deutschland ein inklusives Bildungssystem umgesetzt werden, dass das System Förderschule auflöst. Damit verlieren die Förderschullehrkräfte ihr Arbeitsumfeld, dass sie bisher als Lernumfeld für Lernende mit Beeinträchtigungen gestaltet haben. Sie wechseln mit ihren Schülerinnen und Schülern in ein fremdes System: in die Regelschule als neues Arbeits- und Lernumfeld.

Welchen Einfluss hat der Verlust des Arbeitsumfelds Förderschule auf das Berufsbild und Berufsverständnis der Förderschullehrkräfte? Welche Funktion nehmen sie im neuen System ein und wird ihnen zugewiesen? Wer will (oder muss) ich sein – und wenn ja, wie viele Funktionen muss ich erfüllen? Inwieweit steht die Gestaltung von Lernumgebungen noch im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit? Und wer darf und kann eigentlich diese Fragen beantworten?

Die Gestaltung eines inklusiven Schulsystems erfordert auch eine Neugestaltung der Lehrerausbildung, denn sie prägt das Berufsbild und -selbstverständnis der Lehrkräfte. Menschen, die Lehrerin oder Lehrer für Lernende mit Beeinträchtigungen werden möchten, brauchen eine Orientierung, welche Funktion sie in einem inklusiven Schulsystem einnehmen können oder sollen. In der Publikation „Inklusionsorientierte Lehrerbildung – vom Schlagwort zur Realität?!“, die im Rahmen des Monitors Lehrerbildung entstand (1), wurden 2015 folgende Herausforderungen formuliert:

  • Der Begriff der „Inklusion“ wird nicht einheitlich gebraucht.
  • Die Rollenklärung von Lehrkräften in inklusiven Settings steht noch aus.
  • Inklusion ist im Lehramtsstudium häufig ein isoliertes Thema.
  • Ablehnende Haltungen beeinflussen die Bereitschaft zur Inklusion negativ.
  • Relevante Akteure haben noch nicht zusammengefunden.

... und wenn ja, wie viele?

Daraus ergaben sich die folgenden Empfehlungen für das Thema Inklusion in der Lehrerbildung:

  • das Inklusionsverständnis präzisieren und im Lehramtsstudium implementieren
  • Veränderungen pragmatisch und beherzt angehen
  • Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner für die Vermittlung von Inklusion qualifizieren
  • die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer zeitgemäß interpretieren
  • den Praxisbezug stärken
  • ein phasenübergreifendes Gesamtkonzept umsetzen, das alle Akteure einbezieht
  • Die Ausbildung von Förderschullehrkräften in der zweiten Phase liegt in Hessen in der Verantwortung der Hessischen Lehrkräfteakademie (HLA) und der Studienseminare für Grund-, Haupt-, Real- und Förderschulen (GHRF). Sie sollen an die Inhalte des Studiums anknüpfen und die Lehrkräfte auf das schulische Tätigkeitsfeld vorbereiten. Nach einem Strategiepapier und einer Handreichung der HLA zur Implementierung der Thematik Inklusion in den Vorbereitungsdienst (2) soll die Ausbildung bis 2019 nicht nur für die Förderschullehrkräfte an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden.
  • Die inhaltlichen Schwerpunkte können für die verschiedenen Lehrämter unterschiedlich sein. Im Mittelpunkt stehen die Themen Umgang mit Heterogenität und Vielfalt, individuelles und kooperatives Lernen und die Arbeit in multiprofessionellen Teams.
  • Das schulische Tätigkeitsfeld von Förderschullehrkräften ist inzwischen häufiger das Regelschulsystem als die Förderschule. Damit benötigen Förderschullehrkräfte neue Ausbildungsangebote in ihrem pädagogischen Vorbereitungsdienst. Einzelne hessische Studienseminare versuchen bereits, Antworten auf folgende Fragen zur Ausbildung der LiV im Bereich des Lehramts Förderschule zu geben:
  • Was müssen sie können und wissen, um ihrer Funktion im aktuellen Regelschulsystem (und im zukünftigen inklusiven Schulsystem) gerecht werden zu können?
  • Gehört die Unterrichtsgestaltung noch zur Aufgabe von Förderschullehrkräften?
  • Wo ist der geeignete schulische Ausbildungsort?
  • Welche neuen Ausbildungsangebote benötigen sie, um ihrer Aufgabe im Regelschulsystem gerecht werden zu können?
  • Wie können die neuen Ausbildungsangebote mit der Ausbildung der anderen LiV im Bereich GHR verknüpft werden?
  • Am Studienseminar GHRF Fulda mit Außenstelle Bad Hersfeld, wo ich als Ausbildungsbeauftragte tätig bin, haben wir dazu folgende Ideen entwickelt:
  • Die Fähigkeit zur sachkundigen Mitgestaltung der Bildung und Erziehung von Schülerinnen und Schülern (HLbG §1) bleibt auch das Ziel des pädagogischen Vorbereitungsdiensts von Förderschullehrkräften. Deshalb müssen Förderschul-LiV weiterhin für die Unterrichtsgestaltung qualifiziert werden.
  • Förderschullehrkräfte sind derzeit vor allem an den Beratungs- und Förderzentren (BFZ) tätig. Deshalb sollten die LiV dort mindestens zwei Hospitationsstunden absolvieren und die Erfahrungen im Rahmen des Ausbildungsmoduls „Diagnostizieren, Fördern und Beraten“ (DFB) reflektieren.
  • Bei der Planung und Durchführung von inklusiver Beschulung sollen Förderschullehrkräfte und Lehrkräfte der allgemeinen Schule zusammenwirken (HSchG §51). Dies sollten alle LiV im Rahmen eines Teamteachings im Modul „Diversität in Lehr- und Lernprozessen nutzen“ (DLL) erproben und auswerten können.
  • Um inklusiven Unterricht ermöglichen zu können, sollten die Förderschul-LiV mit den GHR-LiV in den Fachmodulen individuelle und kooperative Lernformen und differenzierte Aufgabenstellungen und ihre Bewertung und Beurteilung entwickeln, erproben und reflektieren können.
  • Die Beratung für die inklusive Beschulung ist eine zentrale Funktion der BFZ (HSchG § 51). Für diese Aufgabe sollten Förderschul-LiV unterschiedliche Beratungskonzepte (Kooperative Beratung, Systemische Beratung, Coaching) und Beratungskontexte (inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung, Diagnostik, Förderplanung, Förderausschuss) erproben und reflektieren können. Die Beratung von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Lehrkräften kann in allen allgemeinen Ausbildungsmodulen thematisiert werden.
  • Die LiV benötigen Kenntnisse über regionale außerschulische Unterstützungssysteme, die in die individuelle Förderplanung eingebunden werden sollen. Der individuelle Förderplan soll mit allen am Unterricht beteiligten Lehrkräften erstellt werden (VOSB §5). Im Rahmen des Moduls DLL können die Unterstützungssysteme eingeladen und ihre Angebote vorgestellt werden.
  • Im Modul DFB kann die Entwicklung von individuellen Förderplänen lehramtsübergreifend erfolgen.
  • Die Förderschullehrkräfte benötigen Kenntnisse über Förderkonzepte, die unter den Bedingungen der inklusiven Beschulung tragfähig und gemeinsam mit den Regelschullehrkräften umsetzbar sind. Konzepte wie ETEP, TEACCH oder STEP können in den allgemeinen Modulen und den förderschulspezifischen Modulen aufgegriffen werden. (3)
  • Die LiV sollen in der Ausbildung qualifiziert werden, an der Weiterentwicklung des Schulwesens mitzuwirken. Um ein inklusives Schulsystem mitgestalten zu können, sollten alle LiV Qualitätskriterien (Index für Inklusion) und Praxisbeispiele für eine inklusive Schulentwicklung kennenlernen. Im Rahmen des Ausbildungsangebots „Selbstständige Schule mitgestalten“ (SMS) oder des Moduls DLL können sie in einer inklusionsorientierten Schule hospitieren und die eigene Rolle in einer inklusionsorientierten Schul- und Unterrichtsentwicklung reflektieren.Bei der Zuweisung der angehenden Förderschullehrkräfte an die Ausbildungsschulen sollen die individuellen Voraussetzungen der LiV sowie die regionalen Entwicklungen der Schullandschaft berücksichtigt werden.

Verzahnung von Theorie und Praxis

Ob die Verzahnung von Theorie und Praxis im Vorbereitungsdienst von Förderschullehrkräften gelingt und sie erfolgreich auf die Berufswirklichkeit im BFZ vorbereitet, hängt maßgeblich auch von den Akteurinnen und Akteuren und Bedingungen in den Ausbildungsschulen und späteren schulischen Tätigkeitsfeldern ab.

Alle Akteure im Regelschulsystem definieren die Funktion der Förderschullehrkräfte in der inklusiven Beschulung mit. Welchen Gestaltungsspielraum Förderschullehrkräfte letztendlich für ihr eigenes Berufsverständnis in einem inklusiven Schulsystem zugestanden bekommen, ist die zentrale Herausforderung der Zukunft.

Ines Homburg

Ines Homburg ist ambulante Förderschullehrerin, Ausbildungsbeauftragte am Studienseminar GHRF Fulda mit Außenstelle Bad Hersfeld und zweite Vorsitzende des GEW-Kreisverbands Hünfeld.

(1) Inklusionsorientierte Lehrerbildung – vom Schlagwort zur Realität?! (2015); www.monitor-lehrerbildung.de; konkrete Ideen findet man in „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2018), www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Perspektiven_fuer_eine_gelingende_Inklusion.pdf
(2) Die Dokumente und Praxisbeispiele findet man u.a. auf der Homepage des GHRF-Studienseminars Friedberg unter den Stichworten > Service > Inklusion (http://lakk.sts-ghrf-friedberg.bildung.hessen.de).
(3) ETEP = Entwicklungstherapie/Entwicklungspädagogik, STEP = Systemisches Training für Eltern und Pädagogen, TEACCH = Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children