Im Gespräch mit Barbara Wenders

Arbeit in multiprofessionellen Teams in Berg Fidel

HLZ 7–8/2018: Multiprofessionelle Teams

HLZ: Frau Wenders, Sie haben lange Jahre an der inklusiven Grundschu­le Berg Fidel in Münster unterrich­tet und an zwei Filmen mitgewirkt: „Berg Fidel – eine Schule für alle“ (2011) und „Schule, Schule – die Zeit nach Berg Fidel“ (2017). Wie kam es dazu?

Barbara Wenders: Ich bin ausge­bildet als Grund- und Hauptschul­lehrerin und Lehrerin für Sonderpä­dagogik und habe 18 Jahre lang an der Grundschule Berg Fidel, der jet­zigen PRIMUS-Schule Berg Fidel- Geist, gearbeitet, davon über zehn Jahre als Klassenlehrerin und Leh­rerin für Sonderpädagogik in einer Person in der Sonnenblumenklasse. Beim ersten Film könn­te man von einer Mitwirkung reden, weil ich da selbst in ei­nigen Phasen bei meiner Arbeit aufgezeichnet wurde. Der zweite Film handelt nicht mehr von der Schule Berg Fidel, sondern begleitet die Protagonistinnen und Protagonisten in den weiterführenden Schulen. Die Fotokünstlerin Donata Wenders hospitierte aus Interesse an meiner Arbeit einmal in unserer Schule. Sie sah auch einen Klassenrat und war an­schließend völlig begeistert: So etwas müsste es überall ge­ben. Hella Wenders studierte damals an der Deutschen Schule für Film und Fernsehen in Berlin und Berg Fidel wurde das Thema ihres Abschlussfilms. Meine Mitwirkung bestand da­rin, dass ich den Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen der anderen Teams, den Kindern und deren Eltern eröffnete, die mich natürlich alle gut kannten.

HLZ: Im Film „Berg Fidel – eine Schule für alle“ gibt es eine wunderbare Szene, in der Jakob, ein Junge mit Down-Syndrom, in „seiner“ Sprache am Unterrichtsgespräch teilnimmt und in der die anderen Kinder der Klasse das Gesagte für die Lehrkraft übersetzen. Was sagt das über Inklusion aus?

Es ist für mich auch heute, rückblickend betrachtet, ein ganz großes Glück, dass ich an dieser Schule arbeiten durfte. Ich hatte jeden Tag das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Durch die Arbeit mit Jakob haben wir im Team jeden Tag alle sehr viel gelernt. Jakob gehörte natürlich zur Klasse wie alle an­deren auch und wir wollten ihn verstehen. Also fragte ich eines Tages im Sitzkreis, wer das übersetzen kann, was Ja­kob gerade gesagt hat. Und siehe da, die anderen Kinder hatten Jakob in der Regel verstanden. Wir kommunizierten dies im Team und alle Erwachsenen und Kinder beachteten die „Übersetzungshilfen“. Jakob hatte für die anderen Kin­der keine Sonderrolle, er wurde nicht geschont, sondern in seiner Persönlichkeit ernst genommen.

HLZ: Konnte das denn an der weiterführenden Schule fortge­setzt werden?

Die Kinder in den weiterführenden Systemen müssen alle irgendwie neu anfangen. Jakob und David trafen zumin­dest auf vertraute Rituale und für sie war der Wechsel nicht so gravierend. Bei Samira wird am deutlichsten klar, dass sie nicht dort weiterlernen konnte, wo sie zuletzt lernmä­ßig stand, zum Beispiel in Mathe. Außerdem vermisste sie Freunde, den Klassenrat und soziale Kontakte in diesem neu­en, so viel größeren System. Ohne den Rückhalt ihres El­ternhauses hätte sie sich vermutlich häufiger noch schlech­ter gefühlt.

HLZ: Was heißt das denn dann für die langfristige Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in den Sekundarstufen I und II?

Die Kinder in der Sekundarstufe zeigen ähnliche Bedürfnisse wie die im Grundschulalter: Sie möchten dazu gehören. Im Film sieht man sehr gut, dass diese, für Deutschland leider typische Aufteilung nach Klasse 4 pädagogisch nicht sinn­voll ist. Um jeder Begabung gerecht werden zu können und jeder Entwicklungslogik beim Lernen gerecht werden zu kön­nen, brauchen wir eine durchgehende Schule von 1 bis 13. Der Zusammenhang von sozialem Hintergrund und Schul­erfolg zeigt, dass es in Deutschland große Ungerechtigkeiten gibt. Ein Skandal! Anita hatte es besonders schwer: Für sie gab es damals keine integrative Anschlussschule in Münster und wir haben uns die Haare gerauft: Wo könnte es für Ani­ta erfolgreich weitergehen? Die Förderschule war anschlie­ßend nicht erfolgreich für Anita. Und wie mühselig sich da­nach ihr Weg bis zum Hauptschulabschluss gestaltet hat, auch das zeigt „Schule, Schule – die Zeit nach Berg Fidel“ allzu deutlich. Deutschland leistet sich ein kostenintensives „Kompensationsprogramm“ mit Sonderschulen und Spezi­alklassen in Berufskollegs. Das Geld könnte viel sinnvoller eingesetzt werden.

HLZ: Welchen Stellenwert hat die Arbeit in multiprofessionel­len Teams in Berg Fidel?

Jede gebundene Ganztagsklasse braucht ein funktionierendes multiprofessionelles Team. Anders wird das nichts! Wenn ich das richtig sehe, stammt der Begriff des „multiprofessionel­len Teams“ übrigens von Reinhard Stähling, dem Schullei­ter von Berg Fidel, der ihn 2004 mit einem Aufsatz für DDS, die wissenschaftliche Zeitschrift der GEW, verbreitete. Als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer werde ich Kindern und Jugendlichen in einer heterogenen Klasse nicht gerecht. Ich brauche in meinem Team in einer Ganztagsklasse verschiede­ne Professionen: Erzieherinnen und Erzieher, Fachlehrkräfte, sonderpädagogische und sozialpädagogische Fachkräfte und Integrationshelfer, vielleicht auch studentische Mitarbeiterin­nen und Mitarbeiter und Praktikantinnen und Praktikanten jeweils mit einigen Wochenstunden, die alle mit derselben Klasse arbeiten. Wichtig ist, dass alle die gemeinsame Ver­antwortung für den Erfolg jedes einzelnen Kindes mit über­nehmen. Das macht zusammen richtig viel Spaß und Schwie­rigkeiten werden gemeinsam geschultert.

HLZ: Sie haben gemeinsam mit Reinhard Stähling ein „Praxis­buch für multiprofessionellen Teams“ veröffentlicht: Das „Team­buch Inklusion“ (HLZ S. 16). Was ist Ihre zentrale Botschaft?

Reinhard Stähling und ich wollten mit dem „Teambuch In­klusion“ Kolleginnen und Kollegen ermutigen, es auch zu versuchen, ein festes Team für eine Klasse zu bilden. Ein gut funktionierendes Klassenteam trägt Verantwortung für die Klasse und kann gemeinsam höchst unterschiedliche Kin­der weiterbringen. Wir sehen dabei, dass wirklich alle Kin­der davon profitieren. Alle werden „schlauer“. Bei Schwierig­keiten ziehen alle an einem Strang, keiner steht alleine da.

HLZ: Welche Bedingungen brauchen multiprofessionelle Teams, um an Regelschulen erfolgreich arbeiten zu können?

Multiprofessionelle Teams brauchen vor allem eine wö­chentliche Teamstunde, um die Arbeit koordinieren zu kön­nen, um Absprachen zu treffen und Ziele festzulegen. Die Teammitglieder sollten den Einsatzplan der verschiedenen Teammitglieder verantwortlich selbst planen können. Und diese Teamstunde muss in der Stundentafel fest verankert sein.

HLZ: Was muss sich an den Universtäten und in den Studiense­minaren ändern, um zukünftige Lehrerinnen und Lehrer besser für die Arbeit in multiprofessionellen Teams vorzubereiten, und damit inklusiver Unterricht besser funktioniert?

Verordnungen, die am Grünen Tisch entwickelt werden, ge­trennte Ausbildungen an den Universität und Hochschulen und getrennte Ausbildungsseminare sind sicher der falsche Weg. Der Wert der Arbeit von multiprofessionellen Teams muss für Studierende erfahrbar sein, indem ein Teil der uni­versitären Ausbildung in die Schulen verlagert wird. „Lear­ning by doing“ oder Lernen am Modell bereits erfolgreicher Schulen sollten in den Praktikumsphasen erfahrbar wer­den. Die Systeme für die Ausbildung von Sonderschullehr­kräften und von Regelschullehrkräften müssen kooperieren, sonst wird es keine Schule für alle geben. Und: Es gelingt leichter, wenn es politisch gewollt ist. Vor allem sollten die Schulen es wollen, dass kein Kind in eine Förderschule aus­gesondert wird.

HLZ: Was wünschen Sie zukünftigen Lehrerinnen und Leh­rern für ihre Arbeit im inklusiven Unterricht?

Ich wünsche allen zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern für ihre Arbeit, dass sie genau so viel Freude und Erfüllung erle­ben, wie ich es bis zum letzten Tag meiner offiziellen Dienst­zeit erleben konnte. Und: Sie sollten mutig sein, im Sinne un­seres Grundgesetzes für würdige Schulen für alle zu sorgen.

Das Interview mit Barbara Wenders führte Andrea Gergen.

www.reinhard-staehling.de/multiprofessionelle_teams.html