HLZ: Frau Wenders, Sie haben lange Jahre an der inklusiven Grundschule Berg Fidel in Münster unterrichtet und an zwei Filmen mitgewirkt: „Berg Fidel – eine Schule für alle“ (2011) und „Schule, Schule – die Zeit nach Berg Fidel“ (2017). Wie kam es dazu?
Barbara Wenders: Ich bin ausgebildet als Grund- und Hauptschullehrerin und Lehrerin für Sonderpädagogik und habe 18 Jahre lang an der Grundschule Berg Fidel, der jetzigen PRIMUS-Schule Berg Fidel- Geist, gearbeitet, davon über zehn Jahre als Klassenlehrerin und Lehrerin für Sonderpädagogik in einer Person in der Sonnenblumenklasse. Beim ersten Film könnte man von einer Mitwirkung reden, weil ich da selbst in einigen Phasen bei meiner Arbeit aufgezeichnet wurde. Der zweite Film handelt nicht mehr von der Schule Berg Fidel, sondern begleitet die Protagonistinnen und Protagonisten in den weiterführenden Schulen. Die Fotokünstlerin Donata Wenders hospitierte aus Interesse an meiner Arbeit einmal in unserer Schule. Sie sah auch einen Klassenrat und war anschließend völlig begeistert: So etwas müsste es überall geben. Hella Wenders studierte damals an der Deutschen Schule für Film und Fernsehen in Berlin und Berg Fidel wurde das Thema ihres Abschlussfilms. Meine Mitwirkung bestand darin, dass ich den Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen der anderen Teams, den Kindern und deren Eltern eröffnete, die mich natürlich alle gut kannten.
HLZ: Im Film „Berg Fidel – eine Schule für alle“ gibt es eine wunderbare Szene, in der Jakob, ein Junge mit Down-Syndrom, in „seiner“ Sprache am Unterrichtsgespräch teilnimmt und in der die anderen Kinder der Klasse das Gesagte für die Lehrkraft übersetzen. Was sagt das über Inklusion aus?
Es ist für mich auch heute, rückblickend betrachtet, ein ganz großes Glück, dass ich an dieser Schule arbeiten durfte. Ich hatte jeden Tag das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Durch die Arbeit mit Jakob haben wir im Team jeden Tag alle sehr viel gelernt. Jakob gehörte natürlich zur Klasse wie alle anderen auch und wir wollten ihn verstehen. Also fragte ich eines Tages im Sitzkreis, wer das übersetzen kann, was Jakob gerade gesagt hat. Und siehe da, die anderen Kinder hatten Jakob in der Regel verstanden. Wir kommunizierten dies im Team und alle Erwachsenen und Kinder beachteten die „Übersetzungshilfen“. Jakob hatte für die anderen Kinder keine Sonderrolle, er wurde nicht geschont, sondern in seiner Persönlichkeit ernst genommen.
HLZ: Konnte das denn an der weiterführenden Schule fortgesetzt werden?
Die Kinder in den weiterführenden Systemen müssen alle irgendwie neu anfangen. Jakob und David trafen zumindest auf vertraute Rituale und für sie war der Wechsel nicht so gravierend. Bei Samira wird am deutlichsten klar, dass sie nicht dort weiterlernen konnte, wo sie zuletzt lernmäßig stand, zum Beispiel in Mathe. Außerdem vermisste sie Freunde, den Klassenrat und soziale Kontakte in diesem neuen, so viel größeren System. Ohne den Rückhalt ihres Elternhauses hätte sie sich vermutlich häufiger noch schlechter gefühlt.
HLZ: Was heißt das denn dann für die langfristige Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in den Sekundarstufen I und II?
Die Kinder in der Sekundarstufe zeigen ähnliche Bedürfnisse wie die im Grundschulalter: Sie möchten dazu gehören. Im Film sieht man sehr gut, dass diese, für Deutschland leider typische Aufteilung nach Klasse 4 pädagogisch nicht sinnvoll ist. Um jeder Begabung gerecht werden zu können und jeder Entwicklungslogik beim Lernen gerecht werden zu können, brauchen wir eine durchgehende Schule von 1 bis 13. Der Zusammenhang von sozialem Hintergrund und Schulerfolg zeigt, dass es in Deutschland große Ungerechtigkeiten gibt. Ein Skandal! Anita hatte es besonders schwer: Für sie gab es damals keine integrative Anschlussschule in Münster und wir haben uns die Haare gerauft: Wo könnte es für Anita erfolgreich weitergehen? Die Förderschule war anschließend nicht erfolgreich für Anita. Und wie mühselig sich danach ihr Weg bis zum Hauptschulabschluss gestaltet hat, auch das zeigt „Schule, Schule – die Zeit nach Berg Fidel“ allzu deutlich. Deutschland leistet sich ein kostenintensives „Kompensationsprogramm“ mit Sonderschulen und Spezialklassen in Berufskollegs. Das Geld könnte viel sinnvoller eingesetzt werden.
HLZ: Welchen Stellenwert hat die Arbeit in multiprofessionellen Teams in Berg Fidel?
Jede gebundene Ganztagsklasse braucht ein funktionierendes multiprofessionelles Team. Anders wird das nichts! Wenn ich das richtig sehe, stammt der Begriff des „multiprofessionellen Teams“ übrigens von Reinhard Stähling, dem Schulleiter von Berg Fidel, der ihn 2004 mit einem Aufsatz für DDS, die wissenschaftliche Zeitschrift der GEW, verbreitete. Als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer werde ich Kindern und Jugendlichen in einer heterogenen Klasse nicht gerecht. Ich brauche in meinem Team in einer Ganztagsklasse verschiedene Professionen: Erzieherinnen und Erzieher, Fachlehrkräfte, sonderpädagogische und sozialpädagogische Fachkräfte und Integrationshelfer, vielleicht auch studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Praktikantinnen und Praktikanten jeweils mit einigen Wochenstunden, die alle mit derselben Klasse arbeiten. Wichtig ist, dass alle die gemeinsame Verantwortung für den Erfolg jedes einzelnen Kindes mit übernehmen. Das macht zusammen richtig viel Spaß und Schwierigkeiten werden gemeinsam geschultert.
HLZ: Sie haben gemeinsam mit Reinhard Stähling ein „Praxisbuch für multiprofessionellen Teams“ veröffentlicht: Das „Teambuch Inklusion“ (HLZ S. 16). Was ist Ihre zentrale Botschaft?
Reinhard Stähling und ich wollten mit dem „Teambuch Inklusion“ Kolleginnen und Kollegen ermutigen, es auch zu versuchen, ein festes Team für eine Klasse zu bilden. Ein gut funktionierendes Klassenteam trägt Verantwortung für die Klasse und kann gemeinsam höchst unterschiedliche Kinder weiterbringen. Wir sehen dabei, dass wirklich alle Kinder davon profitieren. Alle werden „schlauer“. Bei Schwierigkeiten ziehen alle an einem Strang, keiner steht alleine da.
HLZ: Welche Bedingungen brauchen multiprofessionelle Teams, um an Regelschulen erfolgreich arbeiten zu können?
Multiprofessionelle Teams brauchen vor allem eine wöchentliche Teamstunde, um die Arbeit koordinieren zu können, um Absprachen zu treffen und Ziele festzulegen. Die Teammitglieder sollten den Einsatzplan der verschiedenen Teammitglieder verantwortlich selbst planen können. Und diese Teamstunde muss in der Stundentafel fest verankert sein.
HLZ: Was muss sich an den Universtäten und in den Studienseminaren ändern, um zukünftige Lehrerinnen und Lehrer besser für die Arbeit in multiprofessionellen Teams vorzubereiten, und damit inklusiver Unterricht besser funktioniert?
Verordnungen, die am Grünen Tisch entwickelt werden, getrennte Ausbildungen an den Universität und Hochschulen und getrennte Ausbildungsseminare sind sicher der falsche Weg. Der Wert der Arbeit von multiprofessionellen Teams muss für Studierende erfahrbar sein, indem ein Teil der universitären Ausbildung in die Schulen verlagert wird. „Learning by doing“ oder Lernen am Modell bereits erfolgreicher Schulen sollten in den Praktikumsphasen erfahrbar werden. Die Systeme für die Ausbildung von Sonderschullehrkräften und von Regelschullehrkräften müssen kooperieren, sonst wird es keine Schule für alle geben. Und: Es gelingt leichter, wenn es politisch gewollt ist. Vor allem sollten die Schulen es wollen, dass kein Kind in eine Förderschule ausgesondert wird.
HLZ: Was wünschen Sie zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern für ihre Arbeit im inklusiven Unterricht?
Ich wünsche allen zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern für ihre Arbeit, dass sie genau so viel Freude und Erfüllung erleben, wie ich es bis zum letzten Tag meiner offiziellen Dienstzeit erleben konnte. Und: Sie sollten mutig sein, im Sinne unseres Grundgesetzes für würdige Schulen für alle zu sorgen.
Das Interview mit Barbara Wenders führte Andrea Gergen.