Fachtagung Inklusion

Der Bericht zur Veranstaltung vom 11. Februar

Das Thema „Inklusion in der Schule“ wird die hessische Bildungslandschaft und nicht zuletzt die Landesregierung auch in Zukunft beschäftigen, zumal für 2017 eine Novellierung des hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) geplant ist, zu der die hessische GEW Stellung beziehen muss. Aus diesem Grund fand am 11. Februar die Fachtagung  zum Thema „Welche Ausbildung  für Lehrkräfte braucht die inklusive Schule?“ des Referats für Aus- und Fortbildung statt. Vera Moser, Professorin für  Pädagogik bei Beeinträchtigung des Lernens und Allgemeine Rehabilitationspädagogik, Benjamin Haas, Lektor im Weiterbildungsstudiengang „Inklusion“ an der Universität Bremen sowie Inge Holler-Zittlau, Vorsitzende des Verbandes für Sonderpädagogik Hessen, stellten Konzepte für die zukünftige Gestaltung eines inklusiven Schulwesens vor.

Vera Moser bezog positiv Stellung zur  Struktur des neuen Berliner Lehramtsstudiums.  Seit dem Studienjahr 2015/16 wird dieses schulstufenbezogen an den lehrerbildenden  Berliner Universitäten umgesetzt. Kern der Neustrukturierung der  Lehrerbildung ist die Aufgabe des separaten  Lehramtes an Sonderschulen, an dessen Stelle die Einrichtung eines Studienschwerpunktes  Sonderpädagogik/Rehabilitationswissenschaften“  in den Studiengängen Lehramt an Grundschulen, Lehramt an Integrierten Sekundarschulen (ISS) und Gymnasien sowie im Lehramt an beruflichen Schulen  getreten ist.

Kennzeichnend für die Organisation der Studiengänge ist die  verpflichtende Sprachbildung/DAZ  und das Thema Inklusion/Sonderpädagogische Grundbildung in Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken sowie die Wahlfreiheit der Lehramtsstudierenden bei der sonderpädagogischen Schwerpunktsetzung im Masterstudium. So kann im Grundschullehramt statt zweier Fächer nun das Fach Sonderpädagogik studiert werden. Im gymnasialen Lehramt kann  über die sonderpädagogische Ausbildung im Masterstudiengang hinaus anstelle eines Kernfachs das Fach Sonderpädagogik studiert werden und an den Beruflichen Schulen kann man statt eines Zweitfachs Sonderpädagogik wählen. Allen drei Lehramtsstudiengängen gemeinsam ist die Vertiefung der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte in den Bereichen Didaktik und Diagnostik, inklusive Schulentwicklung und Unterrichtsforschung  sowie ein Praxissemester mit sonderpädagogischem Schwerpunkt im 3. Semester des Masterstudiengangs. Inhaltlich umfasst das  Lehramtsstudium aller Schulformen nun folgende Themen:  Allgemeine Sonder- und Inklusionspädagogik, Rehabilitationspsychologie, Rehabilitationssoziologie, Diagnostik, Beratung und Kooperation.

Anschließend erläuterte Benjamin Haas erläuterte die Möglichkeit der „verschmelzenden Modelle“ der Doppelqualifikation im Lehramtsstudium an der Universität Bremen. Dort wurde 2009 die Auflösung der Förderzentren bis 2017 und die Einführung der integrierten Schulform der Oberschule in der Sekundarstufe 1 festgelegt. Ziel dieser Umstrukturierungen war der reflektierte Umgang mit Heterogenität ohne Engführung auf sonderpädagogischen Förderbedarf auf den Entwicklungsebenen Unterricht, Schulentwicklung, Kooperation und Teamarbeit. In der Doppelqualifikation „Grundschullehramt und inklusive Pädagogik/Sonderpädagogik“  erfolgt die Ausbildung in den verpflichtenden Fächern Deutsch oder Mathematik mit einem beliebigen „kleinen Fach“ (Englisch, Kunst, Musik, Sachunterricht). Dazu kommt die Inklusive Pädagogik (IP) als Studienfach im Bachelor/Master mit Bezug auf die Fachdidaktik und die Praxisbegleitung. Für Lehrkräfte der Sekundarstufe 1 wird der weiterbildende Masterstudiengang „Inklusive Pädagogik“ angeboten, der berufsbegleitend über 4 Semester mit einer Freistellung von 10 Stunden studiert  wird und mit dem „Master of Education Inklusive Pädagogik“ abschließt. Hier wird ab dem 3. Semester während des Studiums von zwei Förderschwerpunkten („Lernen und sozial-emotionale Entwicklung“ sind verbindlich, „Sprache und geistige Entwicklung“ fakultativ) in inklusiven Klassen unterrichtet. Der Masterstudiengang orientiert sich inhaltlich an den drei Dimensionen inklusiver Entwicklung (inklusive Kulturen,   Strukturen, inklusive Praktiken).

Unter der Fragestellung „Braucht die sonderpädagogische Profession ein separates Lehramt?“ präsentierte Inge Holler- Zittlau den Standpunkt des Verbandes der Sonderschulen (VdS) Hessen. Monika Glück-Arndt stellte ein Positionspapier einer bundesweiten Arbeitsgruppe des Verbandes vor und Urban Drolshagen veranschaulichte einen Vorschlag für die praktische Ausgestaltung des Lehramtsstudiums unter inklusiven Vorzeichen. Holler-Zittlau verortete ihre Ausführungen in der Feststellung, Inklusion sei keine Frage der Strukturierung von Schule sondern vom Umgang mit Marginalisierung im öffentlichen Raum. Gesellschaftliche Teilhabe, Akzeptanz  und Gleichbehandlung könnten nicht professionell verordnet werden, sondern die Perspektive erweitere sich durch eine andere Betrachtung von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Ihrer Meinung nach hat die Sonderpädagogik in diesem Jahrzehnt eine Vermittlerposition, denn Inklusion sei die Aufgabe aller Lehrkräfte und der gesamten Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund schlug sie vor, Fragestellungen der Diversität in den universitären Grundausbildung in den Fachdidaktiken zu behandeln, den Studiengang „Förderpädagogik“ aber nicht aufzugeben, da die allgemeinbildende Schule die Sonderpädagoginnen und -pädagogen in ihrer Vermittlerposition für den Übergang zur inklusiven Schule weiter brauche. Glück-Arndt führte auf der Grundlage des Positionspapiers des VdS weiter aus, die Rollenveränderung von Regelschul- und Sonderschullehrern geschehe komplementär. Aus einem kooperativen Professionsverständnis folge eine gemeinsame Verantwortungsübernahme für alle Schülerinnen und Schüler, aber mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen.  Sonderpädagoginnen und -pädagogen im inklusiven Kontext könnten so ihre Expertise einbringen, gleichzeitig aber mit allen am Bildungsprozess Beteiligten (Jugendhilfe, Sozialarbeit, LuL im Ganztagsunterricht, multiprofessionellen Teams) kooperieren.  Sie betonte, dass die Umbrüche im sonderpädagogischen Bereich derzeit ein neues Berufsfeld  mit dem Schwerpunkt Beratung und Unterstützung eröffneten, wobei auch weiterhin an stationären Systemen (Förderschulen) unterrichtet und ausgebildet wird. Sie stellte die Frage, wie die universitäre Lehrerbildung dieser Zweiteilung gerecht werden könne. Für die zweite Phase der Lehrerbildung in Hessen sehe sie den großen Vorteil, dass Förderschullehrer schon jetzt im GHRF-Bereich gemeinsam ausgebildet würden, womit das Mitdenken der jeweils anderen Perspektive schon gegeben sei. Sie befürwortete den Erhalt des Förderschullehramtes, betonte aber seine Hinterfragung und die Notwendigkeit seiner Weiterentwicklung vor dem Hintergrund der Umstrukturierungen im förderpädagogischen Bereich.

Urban Drolshagen, Schulleiter an einem BfZ im Landkreis Limburg, erläuterte vor diesem Hintergrund die bewährte Praxis seiner Schule, Referendare für das Lehramt an Förderschulen an allgemeinbildenden Schulen auszubilden. Als Voraussetzung für die erfolgreiche Ausbildung forderte er engagierte  Mentoren an den BfZ’s  und die Unterstützung von Lehrkräften der allgemeinen Schule in fachlichen Fragen. Daraus ergeben sich Kooperationen und gute Betreuungssituationen für Referendare. Die Kompetenz zu unterrichten, so Drolshagen, sei von elementarer Wichtigkeit für die spätere Akzeptanz der Förderschullehrer in ihrer Beratungstätigkeit für die BfZ’s. Als Leitprinzip gebe das BfZ den Referendaren folgenden Grundsatz mit auf den Weg: “Werdet gute Lehrer, bevor Ihr gute Berater werdet“.

Drolshagen fasste seine Ausführungen folgendermaßen zusammen:

  • Die Unterrichtserfahrung an allgemeinbildenden Schulen ist eine zentrale Voraussetzung für die spätere Akzeptanz von BfZ-Lehrkräften in ihrer Beratungstätigkeit mit den Tätigkeitsfeldern  „Beraten, Diagnostizieren, Fördern“.
  • Durch die Anbindung an regionale Förderzentren erhalten Referendare Einblick in die Arbeitsweisen, die von ihnen in ihrer Beratungstätigkeit verlangt werden.
  • BfZ‘s übernehmen durch Auswahl der Schulen und durch Mentorenschaft Verantwortung für die Qualifizierung im Feld „inklusiver Unterricht“.
  • Die Schulleitung unterstützt die Ausbildung durch Unterrichtsbesuche und Beratungsgespräche.
  • Die Referendare seien in ihrer Ausbildung erfolgreich und würden durch ihre „Doppelqualifikation“ als Förderschullehrkräfte gerne eingestellt.

In den sich den Vorträgen anschließenden Diskussionen wurden Fragen und Kritik an den einzelnen Konzepten ausführlich diskutiert. So hinterfragten Tagungsteilnehmerinnen und –teilnehmer in der  an Mosers Vortrag anschließende Diskussion die Umstrukturierung der Berliner Lehrerbildung, welche die Landesregierung zu Sparmaßnahmen herausfordern könnte, da möglicherweise kein Unterricht in multiprofessionellen Teams mehr notwendig sei. Andererseits habe dieses System den Vorteil, dass kurzfristig mehr Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Ausbildung an den Schulen zur Verfügung stünden. Darüber hinaus befürchteten Anwesende die Möglichkeit der Deprofessionalisierung und des Verschwindens einer beruflichen Identität der auf Sonderpädagogik spezialisierten Lehrerinnen und Lehrer sowie die Verkürzung sonderpädagogischer Inhalte und  fehlende einheitlichen Gehaltsstrukturen  trotz gleich langer Ausbildungen in den verschiedenen Lehramtsstudiengängen.

In Bezug auf das Bremer Modell wurde insbesondere die Frage nach einem analytisch tauglichen Inklusionsbegriff als Grundlage inklusiven Unterrichts sowie die Frage nach der Ausgestaltung der Theorie-Praxis-Verzahnung sowie die zukünftigen Vermittlung von Praxiserfahrungen in inklusiven Settings in den Schulpraktika diskutiert.

Im Anschluss an die Vorträge des Fachverbandes Sonderpädagogik hinterfragten die Anwesenden den Umgang mit der Diversität von Behinderung und den Unterschied zwischen professionalisierenden und informierenden Tätigkeiten der BfZ-Lehrkräfte. Diverse Beiträge unterstrichen die Notwendigkeit einer unterrichtlichen Ausbildung an allgemeinbildenden und/ oder stationären Förderschulen neben der BfZ-Arbeit, um einer ausschließlichen Beratungstätigkeit vorzubeugen. Fachwissen  von Sonderschul- und Regelschullehrkräften müsse sich parallel und in Kooperation bei gleichzeitiger Aufgabenteilung entwickeln, wobei die diagnostische Kompetenz von Regelschullehrerinnen weiter ausgebaut werden sollte.  Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit inklusiver Beschulung im berufsbildenden Sektor eingefordert.

Zum Abschluss der Veranstaltungen wurden politische Forderungen in Bezug auf eine Umstrukturierung der Lehrerbildung im inklusiven Kontext formuliert. Dazu gehören

  • die Einbindung inklusiven Unterrichts in die universitären Praxisphasen und in das Referendariat,
  • Entlastungen und Fortbildungen für  Mentorinnen und Mentoren in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung,
  • eine gleich lange Studiendauer für alle Lehrämter,
  • die Einführung neuer Studieninhalte  wie den Umgang mit Heterogenität, Diagnostik, Sprachbildung und DaZ.

Nun steht die Frage im Raum, ob die GEW Hessen sich in Zukunft für die Beibehaltung eines Förderschullehramts oder für eine Verzahnung förderpädagogischer Expertise mit einem anderen Lehramt ausspricht.