Ende einer Illusion

Leitideen für eine grundlegende Reform der Lehrerbildung

HLZ 11/2014: Lehrerausbildung in Hessen

Das erste öffentliche Plädoyer für die Abschaffung des Vorbereitungsdienstes in der HLZ ist mehr als sieben Jahren alt und stammt von dem Fachleiter Gerhard Adrian:

„Es hat keinen Zweck, die Modularisierung verbessern zu wollen. Es wäre ehrlicher, diesen Laden wegen zu erwartender Erfolglosigkeit (in pädagogischer Hinsicht) zu schließen.“ (HLZ 1-2/2007)

In der veröffentlichten Meinung von Wochen- und Tageszeitschriften fällt auf die Lehrerinnen und Lehrer kein sonderlich gutes Licht. Im Zentrum der Kritik stehen Studium und ein Referendariat, die praxisfern auf Unterrichtsbesuche und Prüfungslehrproben, nicht jedoch auf die Unterrichts-
wirklichkeit vorbereiten würden. Pädagogikprofessor Job-Günter Klink nannte Lehrproben schon in den 1970er Jahren „circensische Übungen“. Lehrerorganisationen und Fachver-
bände können sich dieser immer stärker werdenden Kritik kaum noch entziehen, reagieren hilflos, abwehrend oder offen. Dies mündet regelmäßig in Forderungen, was alles besser werden müsste. Ewald Terhart beschrieb ebenfalls vor sieben Jahren diesen Sachverhalt so:

„In der Lehrerausbildung wird sich auch in Zukunft der unvermeidliche, der sattsam bekannte, der ebenso dauererregte wie unabschließbare ‚Lehrerbildungsdiskurs‘ hinweg wälzen – ein Prozess, der aus Reform-kommissionen, Mahnrufen, einzelnen Wissenschaftlern und anderen Experten, Zeitungsartikeln, OECD-Berichten, Berufsverbandsvorsitzenden, Experten für Beamtenrecht und Gehaltstabellen und so weiter besteht, und in dem die substanziell immer gleichen Argumente und Interessen immer nur in neuen Konstellationen arrangiert werden. Es geht also weiter!“ (Seminar 4/2007, S. 71 f.)

Widersprüche und Zerstörung

Mittlerweile liegt John Hatties Meta-Analyse „Visible Learning“ vor. Danach kann eine Wirksamkeit der Lehrerausbildung auf Schule und Unterricht nicht gemessen werden. Deutsche Kritiker werfen ihm vor, die Daten basierten nur auf englischsprachiger Literatur, die deutsche zweiphasige Lehrerausbildung sei zweifellos besser, und ignorieren die Frage, warum deutsche Schülerinnen und Schüler trotz der behaupteten besseren Lehrerausbildung in den internationalen Vergleichsuntersuchungen, insbesondere bei PISA, lediglich durch-
schnittliche Ergebnisse erzielen. Will die Lehrerausbildung in Deutschland zukunftsfähig werden, muss der Mythos der hohen Qualität zerstört werden.

Nach 40 Jahren der Reform mit vielen Wiegeschritten, seit dem neuen Hessischen Lehrerbildungsgesetz (HLbG) von 2004 sogar mit Schrittfolge rückwärts, wird ein grundlegender Neubeginn erforderlich. Zeit zum Handeln! Vorstellungen, was im Einzelnen zu ändern ist, gibt es genügend. Die Folgen ihrer Realisierung sind nicht selten Verschlimmbesserungen, weil ein Gesamtplan („Masterplan“) fehlt. Der Beitrag
will dafür erste Konturen zeichnen. 

Wer 40 Jahre im Fluss der Lehrerausbildungsreformen mitschwamm, konnte in Hessen bemerkenswerte Entwicklungen miterleben. Der 1977 grundlegend reformierte pädagogische Vorbereitungsdienst gilt weiterhin gemeinsam für alle Lehrämter. Die Dauer variierte zwischen 18 und 24 Monaten, heute sind es 21.
Die 2. Staatsprüfung ist geblieben, ihre Teile und die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses (vier bis sieben Mitglieder) wurden immer wieder geändert. Der Umfang des Ausbildungsunterrichts variierte zwischen 14 und 16 Wochenstunden, der eigenverantwortete Unterricht zwischen acht und zwölf Stunden.

Seit Ende der 1980er Jahre wird er zunehmend auf den schulischen Bedarf angerechnet. Aktuell muss jede Lehrkraft im Vorbereitungsdienst (LiV) mit acht Stunden ihres eigenverantworteten Unterrichts zur 105-prozentigen Unterrichtsabdeckung beitragen und ersetzt somit zu etwa einem Drittel eine normale Lehrkraft. Dass dieser Unterricht faktisch nichts mehr mit Ausbildung zu tun hat, ist einer der Sargnägel der Lehrerausbildung. Es geht demnach (nur noch) um Nutzung der LiV als Lehrkraft. Die Ausbildungsinhalte haben sich seit der Modularisierung erheblich geändert. Zurzeit sind es acht Module, in denen 16 Unterrichtsbesuche bewertet werden. Das Referendariat ist damit zu einem „Prüfungsmarathon“ verkommen, was von niemandem mehr bestritten wird. Diese 18 Unterrichtsbesuche werden in einem Zeitraum von etwa 14 Monaten abgeleistet.

Die Anwesenheitszeit in jedem Modul beträgt 20 Zeitstunden, insgesamt 40 in jedem Unterrichtsfach. Damit
erwerben zum Beispiel LiV mit dem Lehramt für berufliche Schulen, die kein zweites Unterrichtsfach haben und denen zwangsweise das Fach Politik und Wirtschaft zugewiesen wird, die Lehrbefähigung für dieses Fach. Dies berechtigt zum Unterrichten im Gymnasium. Bildungspolitisch skandalös! 

Kann man von einer qualifizierten Lehrerausbildung sprechen, wenn die Kooperation mit den Universitäten lediglich ein Mantra ist, das seit 40 Jahren beschworen wird? Faktisch existieren zwei sich gegenseitig abschottende Systeme: die Universitäten in der ersten Phase, die Studienseminare in der zweiten Phase. Der Ertrag für Studierende und LiV ist erkennbar und erfahrbar äußerst gering, so auch die öffentliche Kritik. Hattie lässt grüßen. Studierende und LiV waren bestenfalls Objekte dieser Reformen, ihre Meinungen weder erwünscht noch erfragt.

Das Studium an den Universitäten ist weitestgehend schul- und praxisfern. Die unterrichtsrelevanten Erkenntnisse durch die Ausbilderinnen und Ausbilder sind begrenzt. Seit der Reform des HLbG von 2004 ist mehr als die Hälfte von ihnen mehrere Jahre vollkommen vom Unterricht freigestellt. Und in den wenigen Stunden, in denen sie selbst unterrichten, gibt es aus organisatorischen Gründen kaum eine Möglichkeit für die LiV, sie zu erleben, wie sie beispielsweise den von ihnen geforderten kompetenzorientierten Unterricht
verwirklichen. In den Ausbildungsschulen wurde dies mit wenig Wohlwollen aufgenommen. Ausbilderinnen und Ausbilder seien „Unterrichtsflüchtige, nie anwesend“, ist dort zu hören. Und: „Heute wieder Staatsprüfung. Möbelwagen mit Unterrichtsmaterialien der LiV steht vor der Tür.“ (17 HLZ 11/2014)

Dazu kommt die immer wieder überbordende Verwaltung. Bündnis 90/Die Grünen bezeichneten das Landesschulamt mit Lehrkräfteakademie (LSA) zu Recht als „Monsterbehörde“. Die Studienseminare ersticken in laufend veränderten Formblättern und banalen Empfehlungen für „eine qualitativ hochwertige Ausbildung“ (!). Inhalte sind Mangelware. Mit dem Schulverwaltungsorganisationsreformgesetz (!)von 2012 wurden die Studienseminare, bis weit in die 1980er Jahre „Flaggschiffe“ der hessischen Bildungspolitik, zu Niederlassungen des LSA degradiert. Dienststellen sind sie nicht mehr. Zugespitzt formuliert: Die hessische Lehrerausbildung und vor allem das Referendariat sind in der Sackgasse angekommen.

Wertschätzung für Mentorinnen und Mentoren

Äußern sich ausgebildete Lehrkräfte über die Qualität, die Nachhaltigkeit ihrer Ausbildung, überrascht nur eins. Höchstes Lob erfahren ihre Mentorinnen und Mentoren, Anerkennung auch ihre ehemaligen Ausbildungsschulen. Doch diese Wertungen sind weitestgehend folgenlos. Materielle Anerkennung in Form von Anrechnungsstunden oder Vergütungen werden ihnen verwehrt. Und dies seit 40 Jahren! Eine Befragung des Deutschen Instituts für Internationale Forschung (DIPF) zum Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen im Referendariat ergab bereits 2007, dass die LiV die Ausbildungsschulen und Mentorinnen und Mentoren durchgängig und in nicht wenigen Teilbereichen sogar erheblich besser als die Ausbilderinnen und Ausbilder an den Studienseminaren 
beurteilten. Daran dürfte sich in den letzten sieben Jahren kaum etwas geändert haben – im Gegenteil: Die Situation hat sich aufgrund der Zunahme von bewerteten Unterrichtsbesuchen sogar noch verschlechtert.

In einer zukünftigen einphasigen Lehrerausbildung würde das Referendariat nach dem Lehramtsstudium durch ein Staatliches Anerkennungsjahr abgelöst. Mentorinnen und Mentoren würde es weiter geben müssen, weil sie für die schulpraktische Ausbildung unverzichtbar sind. Kennzeichen eines solchen Staatlichen Anerkennungsjahres sind Unterrichtsbesuche ohne Bewertungen, intensive Beratungen durch Mentorinnen und Mentoren und die Ausbilderinnen und Ausbilder an den Studienseminaren und am Ende ein Kolloquium, das nur mit „bestanden“ oder „nicht bestanden“ beurteilt wird.

Mit der mangelnden Wirksamkeit des Studiums und des Vorbereitungsdienstes begründen Fachleute und inzwischen auch einige Bundesländer inzwischen auch eine verpflichtende oder freiwillige Berufseingangsphase – ebenfalls ein weites Betätigungsfeld.

Hessische Lehrerfortbildung liegt darnieder


Mit dem HLbG von 2004 sollte Lehrerfortbildung komplett aus der Unterrichtszeit verdrängt werden, mussten Fortbildungsleistungen mit Fortbildungspunkten („Rabattmärkchenfortbildung) nachgewiesen werden, hatte die Lehrerfortbildung „keinen festen Ort“ mehr in Hessen und sind  eren Zuständigkeiten bis heute ungeklärt (Staatliche Schulämter, LSA oder Studienseminare). Lehrerfortbildung als Teil der Lehrerbildung muss daher wieder aufgerichtet werden. Supervision gehört dazu und ist im Etat zu verankern. Das Recht auf Fortbildung umschließt auch die selbstverpflichtende Teilnahme zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der beruflichen Kompetenz

  • im didaktischen Kernbereich der Lehrkräfte, dem Unterrichten in den Fächern,
  • im allgemeinen Bereich der Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften und in Pädagogik,
  • in der Schulentwicklung im Hinblick auf die selbstständige eigenverantwortliche Schule und
  • in einem weiteren bildungspolitischen Bereich zur generellen Erweiterung individueller Kompetenzen.

Abschied nehmen von ewigen Wahrheiten

Es gilt daher, Abschied davon zu nehmen, dass

  • Lehrerausbildung wirkungsvoll ist,
  • eine Kooperation zwischen erster und zweiter Phase der Lehrerausbildung faktisch möglich und effizient ist,
  • eine Reform – die grundlegende Neuordnung der Lehrerausbildung – mit dem Ziel der Einphasigkeit in einer Legislaturperiode realisiert werden könnte,
  • im Referendariat die notwendige Qualität für das Unterrichten durch permanente Modul-Prüfungen in 16 Unterrichtsbesuchen faktisch innerhalb von 14 Monaten erworben werden kann,
  • Mentorinnen und Mentoren dauerhaft als billige Ausbilderinnen und Ausbilder tätig sein werden.

Es dürfte ein langer Abschied werden, etwa ein Jahrzehnt. Soll er – trotz zu erwartender Widersprüche und Widerstände – gelingen, müssen alle davon Betroffenen an dieser großen Reform beteiligt werden. Besitzstandswahrung ist selbstverständlich. Für die neuen, veränderten Aufgaben und Funktionen jedoch werden andere Rahmenbedingungen gelten. Auch dies muss zu Beginn des Reformprozesses offen gelegt werden.

Leitidee und Handlungsfelder


Eine derart fundamentale Reform muss alle Handlungsfelder aufgreifen: von der Studienwahl über das Einstellungsverfahren in den Schuldienst bis zur Lehrerfortbildung. Alle Handlungsfelder müssen prinzipiell widerspruchsfrei aufeinander aufbauen und miteinander verzahnt werden. In der Lehrerausbildung sind auch wieder Inhalte wie Heterogenität, Inklusion, Deutsch als Zweitsprache oder Medienkompetenz zu vermitteln. So könnten Schule und Lehrerbildung wieder die gesellschaftliche Anerkennung erhalten, die im
letzten Jahrzehnt verloren ging. Die umfassende Leitidee ist die Errichtung und Stärkung der selbstständigen eigenverantwortlichen, demokratisch verfassten Schule, auf die alle einzelnen Handlungsfelder auszurichten sind. Wesentliche Handlungsfelder könnten sein:

  • Eignung für Lehrerberuf (Berufs- und Studienberatung)
  • Lehramtsstudium mit Praxisanteilen (Master-Abschluss)
  • Praxisanteile zu Beginn des Studiums zur Orientierung und zur Selbstüberprüfung
  • nach erfolgreichem Masterabschluss staatliches Anerkennungsjahr an Ausbildungsschulen betreut durch Studienseminare; Abschluss aufgrund eines erfolgreichen Kolloquiums
  • Das Referendariat entfällt.
  • Die Studienseminare bleiben mit neuen Aufgaben bestehen: Sie betreuen die Lehrkräfte im Staatlichen Anerkennungsjahr und die Lehrkräfte in der Berufseingangsphase und sind für die Ausbildung in allen Fällen zuständig, in denen kein Lehramtsstudium absolviert wurde (Quereinstieg etc.).
  • Die (hauptamtlichen) Ausbilderinnen und Ausbilder an den Studienseminaren werden zu Leiterinnen und Leiter für Lehrerbildung, deren Status auch andere Tätigkeiten in der Lehreraus- und -fortbildung zulässt.
  • Die Lehramtsabsolventinnen und Lehramtsabsolventen werden an der selbstständigen eigenverantwortlichen Schule unter deren Federführung eingestellt.
  • In der Berufseingangsphase von zwei Jahren unterrichten die neuen Lehrkräfte mit einem um 20 Prozent reduzierten Unterrichtsdeputat und verpflichtender Begleitung durch das Studienseminar.
  • Alle Lehrkräfte haben einen prinzipiellen Anspruch auf vier Fortbildungen (zwei Unterrichtsfächer, Pädagogik/Erziehungswissenschaften und ein weiteres Gebiet zwecks Weiterbildung). Die Universitäten sind feste Angebotsinstitutionen. Die Lehrerfortbildung ist vor allem lokal auf die selbstständige eigenverantwortliche Schule ausgerichtet und wird von den zuständigen und dafür verantwortlichen Studienseminaren organisiert.
  • Die Ministerien für Kultus und für Wissenschaft werden zu einem Ministerium zusammengelegt.
    Die Alternative heißt: Weiter so wie bisher, weiter so wie seit 40 Jahren und in den nächsten 40 Jahren.