Eine gemeinsame Aufgabe!

Regionale Beratungs- und Förderzentren und allgemeine Schulen

HLZ 7-8/2019: Inklusion

Mit der Ratifizierung der UN-BRK 2009 hat sich Hessen verpflichtet, die Inklusion als Kernbegriff und Zielperspektive im Schulsystem einzuführen, umzusetzen und angemessene Vorkehrungen zu treffen, sodass Menschen mit Behinderung innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung erhalten.

Rahmenbedingungen schulischer Inklusion

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule ist im Hessischen Schulgesetz (HSchG) verankert. Nach § 3 Abs. 6 des HSchG ist es die Aufgabe der allgemeinen Schule, Schule so zu gestalten, „dass die gemeinsame Erziehung und das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einem möglichst hohen Maße verwirklicht wird und jede Schülerin und jeder Schüler unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage in der körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung angemessen gefördert wird“.

Nach § 51 HSchG liegt die Verantwortung für die Inklusive Beschulung bei der allgemeinen Schule, denn Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung sollen in der Regel dort unterrichtet werden. Dabei soll eine enge Zusammenarbeit mit dem zuständigen regionalen Beratungs- und Förderzentrum (rBFZ) bzw. überregionalen BFZ (üBFZ) gewährleistet werden.

Zur Verwirklichung dieser Ziele sind Maßnahmen der inneren und äußeren Differenzierung notwendig, die durch personelle Ressourcen (Einbezug spezifischer pädagogischer, therapeutischer und medizinischer Kompetenzen), durch räumliche und sächliche Mittel gemäß § 51 Abs. 2 HSchG sowie durch ergänzende oder ersetzende Unterrichtsangebote nach § 12 Abs. 3 VOSB unterstützt werden (VOSB: Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen und Behinderungen). Folgende Präventionsstufen sind vorgesehen:

  • vorbeugende Maßnahmen (VM) zur sonderpädagogischen Unterstützung ohne die Feststellung des Anspruchs auf sonderpädagogische Förderung
  • sonderpädagogische Beratungsangebote der BFZ für Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie für Eltern (vgl. VOSB § 3)
  • Einbindung des rBFZ bzw. üBFZ in den Förderprozess (vgl. VOSB § 4)
  • inklusive Beschulung (IB) in der allgemeinen Schule mit festgestelltem Förderanspruch und Unterstützung der BFZ

Die Arbeit der Beratungs- und Förderzentren (BFZ)

Zum Schuljahr 17/18 gab es in Hessen 102 rBFZ und 18 üBFZ. Nach § 26 Abs. 3 der VOSB ist jeder allgemeinen Schule ein rBFZ als Unterstützungssystem organisatorisch zugeordnet, das den Einsatz der BFZ-Kräfte an einer allgemeinen Schule nach einem regionalen Verteilungsplan und die Stundenzuteilung regelt (vgl. VOSB § 26 Abs. 1f.). Bei den Aufgaben der BFZ stehen insbesondere Beratung und Förderung sowie Mitwirkung bei der Schulentwicklung im Fokus (VOSB § 25 Abs. 1 und 5).
Grundlage der Zusammenarbeit ist eine Kooperationsvereinbarung, die den Ablauf und die Strukturen der Tätigkeiten des BFZ am jeweiligen Einsatzort festlegt (vgl. VOSB § 25 Abs. 7). Nach der Klärung des Beratungs- und Förderauftrags folgt der Austausch der beteiligten schulischen und außerschulischen Fachkräfte mit einer Arbeitsvereinbarung, schülerbezogenen Förderzielen und Fördermaßnahmen (vgl. VOSB § 25 Abs. 4). Mit der Novellierung des HSchG 2017 wurde die Organisationsform inklusiver Schulbündnisse (iSB) festgeschrieben. In den 120 iSB sollen allgemeine Schulen, Förderschulen und das jeweilige BFZ innerhalb eines Schulamtsbezirks kooperieren.

Ergebnisse einer Befragung von 150 Lehrkräften

Ziel der Untersuchung zu Beginn des Schuljahres 2017/2018 war die Evaluation der Umsetzung der im HschG und der in der VOSB formulierten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen der Zusammenarbeit zwischen rBFZ und allgemeinen Schulen in Hessen. Eines der befragten rBFZ entstand im Jahr 2010 im Rahmen einer „Modellregion Inklusive Bildung“. Im zweiten rBFZ hat sich die Kooperation mit den allgemeinen Schulen des Schulaufsichtsbereiches seit über 20 Jahren entwickelt.

An der Untersuchung haben insgesamt 150 Lehrerinnen und Lehrer teilgenommen und zwar 58 BFZ-Lehrkräfte (BFZ-Kräfte) und 92 Lehrkräfte der allgemeinen Schulen (LallSch).

Zur Datenerhebung wurden zwei Online-Fragebögen mit über 100 Items erstellt, die sowohl geschlossene als auch halboffene und offene Fragenformate enthalten.

  • Strukturelle Bedingungen: Fast drei Viertel der BFZ-Kräfte (73,3 %) arbeiten an einer Grundschule, ein Viertel (25 %) in der Sekundarstufe I, 1,7 % an Beruflichen Schulen. Etwas mehr als die Hälfte der BFZ-Kräfte (51,7 %) sind an einer einzigen Schule tätig, 46,6 % an zwei Schulen. Die Tätigkeit an drei Schulen (1,7 %) bildet die Ausnahme. Über 83 % der BFZ-Kräfte sind mit mindestens einer weiteren BFZ-Kraft an der allgemeinen Schule tätig.
  • Zusammenarbeit: Neun von zehn BFZ-Kräften (87,9 %) und der LallSch (92,3 %) erleben das Klima in der Zusammenarbeit als kooperativ und freundlich. Vier Fünftel der LallSch (80 %) fühlen sich ausreichend und wirksam unterstützt.
  • Zuständigkeiten: Über 75 % aller Lehrkräfte geben an, dass die Zuständigkeiten eindeutig geregelt sind. Die allermeisten BFZ-Kräfte (89,1 %) meinen, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Inklusion leisten. Über zwei Drittel der BFZ-Lehrkräfte (67,2 %) sind mit ihrer Arbeit zufrieden und möchten weiterhin im Rahmen des rBFZ tätig sein (69,0 %). Ein Fünftel der BFZ-Kräfte ist ambivalent.
  • Ressourcen: Die allermeisten BFZ-Kräfte (87,9 %) und LallSch (94,1 %) fordern eine Aufstockung der Ressourcen. Ein Teil der befragten BFZ-Kräfte (9,1 %) bezweifelt, dass die alleinige Ressourcenerhöhung zu einer Verbesserung der Zusammenarbeit in der Inklusiven Beschulung führen kann, da die vorhandenen Ressourcen erst angenommen und effektiv und nachhaltig genutzt werden sollten. Einzelne Lehrkräfte formulieren, dass der Erfolg der Inklusion noch zu sehr vom Engagement Einzelner und mangelnden Kooperationsvorgaben abhängig sei.
  • Drei Viertel der LallSch (75 %) bemängeln unzureichende Fördermöglichkeiten der Kinder mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung. Etwa 15 % der LallSch geben an, dass die BFZ-Kräfte ihnen nicht weiterhelfen konnten. Sie berichten von Erfahrungen, in denen die BFZ-Kräfte für ihre Aufgaben nicht ausreichend ausgebildet bzw. qualifiziert gewesen seien oder der Auftrag und das Rollenverständnis der beteiligten Akteure nicht hinreichend geklärt waren. Zwischen diesen Lehrkräften an allgemeinen Schulen und den 10 % der rBFZ, die angeben, nicht mehr im rBFZ arbeiten zu wollen, besteht ein signifikanter Zusammenhang.

Was muss getan werden?

Aus den Antworten der Lehrkräfte ergeben sich folgende Handlungsaufträge:

  • Schaffen von Zeiträumen für feste Absprachen in Form von z.B. Kooperationsstunden und teambildenden Maßnahmen etc.
  • tägliche Anwesenheit einer BFZ-Kraft an allgemeinen Schulen
  • langfristige Zuordnung einer BFZ-Kraft an eine allgemeine Schule
  • Bereitstellung von Räumlichkeiten und Materialien für die rBFZ-Arbeit für Beratungsgespräche und Gruppenförderungen
  • gemeinsame transparente Auftragsklärung, Zieldefinition und Formulierung von Kernkompetenzen innerhalb der schulbezogenen Kooperationsvereinbarungen
  • transparente Darstellung der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten der BFZ-Kräfte
  • Stärkung des Verständnisses der gemeinsamen Verantwortung von allgemeiner Schule und rBFZ unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Aufträge
  • gemeinsame Fortbildungsangebote zur Teambildung und Klärung der Aufgaben- und Rollengestaltung
  • gemeinsame Fortbildungen zu rechtlichen Grundlagen und Kompetenzen der Gesprächsführung
  • kollegiale Fallberatung und systemische Beratung
  • Verbesserung der Kooperation mit den Universitäten und Studienseminaren
  • Verbesserung der Ausbildung angehender Lehrkräfte sowohl der BFZ als auch der allgemeinen Schulen durch frühzeitige Vorbereitung auf die Rolle und die Aufgaben in einem Inklusiven Schulsystem
  • Aufstockung der Ressourcen in den allgemeinen Schulen und in den BFZ!!!

Das Fazit unserer Befragung

Obwohl die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit von rBFZ und allgemeiner Schule sowie die damit verbundenen Aufgabenbereiche festgelegt sind, gibt es einen großen Handlungsspielraum innerhalb der Realisierung der Zusammenarbeit. Bemerkenswert ist, dass trotz dieser Unterschiede ein breiter Konsens hinsichtlich der Gelingensbedingungen sowie des Handlungsbedarfs besteht.

Wesentlich ist, dass die übergroße Mehrheit der BFZ-Kräfte und der Lehrkräfte an allgemeinen Schulen mit der Zusammenarbeit zufrieden ist und sich in ihrer Arbeit wirksam erlebt. Dieses ist unter anderem dadurch zu erklären, dass in den BFZ-Standorten die BFZ-Kräfte durch regelmäßige Themen- und Fallberatungen im Kollegium, in Konferenzen, AG und Fortbildungen den erforderlichen Rahmen für eine fachlich qualifizierte Kompetenzerweiterung finden, die unmittelbar unterrichtswirksam eingebracht werden kann. Gerade für junge und „fachrichtungsfremd“ geforderte BFZ-Kräfte ist die Anbindung an die BFZ mit dem fachlichen Informations- und Beratungsaustausch in allen Fachrichtungen wichtig und eine Garantie für den Erhalt sowie die notwendige Erweiterung der sonderpädagogischen Kompetenzen. Ein BFZ kann zudem durch die Personalanbindung und -steuerung kurzfristig auf Aufgaben und Herausforderungen reagieren, die von den Lehrkräften vor Ort nicht bearbeitet werden können.

Die Inklusion in Hessen ist auf einem positiven Wege. Bedauerlich ist jedoch, dass die positiven Erfahrungen in der Öffentlichkeit als selbstverständlich angenommen und weniger breit als die im Vergleich wenigen kritischen Einzelsituationen dargestellt werden.
Der Landesverband Hessen des vds setzt sich auf allen Ebenen für den Erhalt der sonderpädagogischen Fachlichkeit ein. Er wirbt für eine qualifizierte Aus-, Fort- und Weiterbildung und für eine bundesweite Regelung der universitären Ausbildung in den kleinen Fachrichtungen (Sehen, Hören, KmE).

Inge Holler-Zittlau und Annika Reh

Inge Holler-Zittlau arbeitet als Lehrkraft für Besondere Aufgaben im Institut für Förderpädagogik (IFIB) an der Justus-Liebig-Universität Gießen und ist Vorsitzende des Verbands Sonderpädagogik (vds)Landesverband Hessen.
Annika Reh ist Sprachheilpädagogin und zurzeit Lehrkraft im Vorbereitungsdienst an der Helmut-von-Bracken-Schule in Gießen.

Literatur

Annika Reh und Inge Holler-Zittlau: Inklusion als gemeinsame Aufgabe. Zur Zusammenarbeit von regionalen Beratungs- und Förderzentren und Allgemeinen Schulen in Hessen. In: Behinderten Pädagogik Jg. 58. Heft 1. S. 46-61.

Bildunterschrift:

Foto: Bert Butzke