Zeit für eine Entfristungsoffensive!

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Die ständige Befristung und das Fehlen langfristiger Perspektiven sind Dauerthemen im Arbeitsleben in der Wissenschaft. Die langjährige Arbeit der GEW im Sinne des Templiner Manifests, die Gründung des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), die Kampagne FrististFrust, Entfristungsinitativen wie unikasselunbefristet oder darmstadtunbefristet an hessischen Hochschulen und die Twitterkampagne #IchbinHanna haben dazu beigetragen, das Problem der Befristungen an Hochschulen sichtbar zu machen. Auf der Bundesebene steht jetzt die erneute Überarbeitung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) auf der Tagesordnung, das ein Sonderbefristungsrecht für Stellen im Mittelbau der Hochschulen vorsieht.


Die Debatte schließt an die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Auftrag gegebene Evaluation des WissZeitVG an. Der Rückgang der Kurzbefristungen nach 2016 bedeutet nicht, dass sich die konkreten Arbeitsbedingungen und Befristungspraxen für die wissenschaftlichen Beschäftigten verbessert haben. Die Gegenevaluation von NGAWiss und ver.di zeigt, dass es sogar schwieriger geworden ist, das eigene Qualifikationsziel zu erlangen. Promovierte Wissenschaftler:innen leiden unter dem System der Dauerbefristung und Promovierenden fehlt eine längerfristige Perspektive. Das beeinträchtigt die Arbeits- und Lebensqualität und schadet den Hochschulen langfristig.


Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat die Absenkung der Höchstgrenze für Befristungen im WissZeitVG ins Spiel gebracht - von bisher 12 auf 10 Jahre. Da sie jedoch keine weiteren, grundsätzlichen Veränderungen vorschlägt, steht zu befürchten, dass der Druck auf Beschäftigte im Mittelbau weiter steigt: Sie müssten die Promotion und Habilitation schneller erreichen. Sie wären gezwungen, bei ihrer Forschung noch mehr Kompromisse einzugehen, also vermeintlich „einfache“ Themen zu bearbeiten, Risiken zu vermeiden und sich den vermeintlichen Anforderungen des akademischen Arbeitsmarkts anzupassen. Lehre und akademische Selbstverwaltung würden leiden, und Eltern würden es noch schwieriger finden, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Der Vorschlag der HRK verkennt damit die tatsächlichen Probleme: Entfristungsperspektiven sind an der Hochschule kaum vorhanden; der ständige Druck und die Angst vor dem beruflichen Aus erweisen sich als Innovationshemmnisse.
Die Situation der befristet Beschäftigten wird sich weiter verschärfen, wenn es zu den im Juli angekündigten Kürzungen staatlicher Zuwendungen für die Hochschulen kommt. Betroffen sind unter anderem vom Deutschen Akademischen Auslandsdienst geförderte Maßnahmen und vom BMBF geförderte geplante und laufende Forschungsprojekte. Das wird deutliche Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Arbeitsmarkt haben und es wird noch schwieriger für Wissenschaftler:innen im Mittelbau, langfristig im Hochschulsystem unterzukommen.
 

Druck machen in Hessen

Vor dem Hintergrund dieses bundespolitischen Diskurses werden im Herbst die im Tarifvertrag vereinbarten Gespräche der Gewerkschaften mit dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) über die Befristungsproblematik stattfinden. Nachdem Diskussionen mit dem Hessischen Innenministerium im Jahr 2018 gescheitert sind, ist das eine neue Chance, die Arbeitsbedingungen an den hessischen Hochschulen endlich grundsätzlich zu verbessern. Bisher fehlt dazu allerdings der politische Wille. Befristung gibt den Hochschulen Flexibilität bei Personal und Budget und ist im Sinne der Leitungsebene und der Mehrheit der Professor:innen. Umso wichtiger, dass Gewerkschaften, Beschäftigteninitiativen und Studierende gemeinsam für eine Veränderung eintreten!


Und Veränderung sollte eigentlich im Interesse der Hochschulen sein. Die wissenschaftliche Arbeit verliert bei den Beschäftigten im Mittelbau, einer tragenden Säule von Forschung, Lehre und universitärer Selbstverwaltung, an Attraktivität. Es steht zu befürchten, dass der Fachkräftemangel auch die Hochschulen erreichen wird – und es gibt erste Hinweise, dass es in bestimmten Fachrichtungen und bei gewissen Stellenzuschnitten bereits schwierig ist, geeignete Personen einzustellen. Das Wissenschaftssystem verliert langfristig exzellente Wissenschaftler:innen, die Fach- und Lehrkräfte ausbilden und gesellschaftlich relevante Erkenntnisse in der Forschung produzieren.


Gleichzeitig ist die bundesweite Debatte eine Gelegenheit für Hessen und das HMWK, ein klares Zeichen für Entfristung zu setzen. Hessen könnte eine bundesweite Vorreiterrolle übernehmen und eine Entfristungsoffensive an den Hochschulen starten, denn das Hessische Hochschulgesetz und das WissZeitVG ermöglichen Entfristungen. Die Gespräche sind ein Baustein, um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Entfristungen zu erreichen. Aber wirkliche Veränderung wird es ohne Druck von Seiten der Beschäftigten, der Studierenden und der Gewerkschaften nicht geben. Wir brauchen breite Bündnisse für gute Arbeit an den Hochschulen. Wir können nicht mehr warten: Es wird Zeit, das Befristungsunwesen zu beenden!

Simone Claar