Ein Erfolg vor 15 Jahren: Studiengebühren in Hessen abgeschafft

HLZ September/Oktober 2023: Die Landtagswahl am 8. Oktober

Die gelben T-Shirts „Für Solidarität und freie Bildung“ waren auf allen Demos im Protestsommer 2006 zu sehen, als die Studierenden gegen die Einführung von Studiengebühren in Hessen auf die Straße gingen. Die Abschaffung der Studiengebühren in Hessen war einer der größten bildungspolitischen Erfolge in jüngster Vergangenheit, die auch eine wichtige Signalwirkung in andere Bundesländer hatte. Möglich gemacht hatte dies ein starkes Bündnis von Studierenden, Schülerinnen und Schülern, der GEW, des DGB sowie weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen.


Die hessische Landesregierung unter Roland Koch (CDU) legte 2006 einen Gesetzesentwurf zur Einführung allgemeiner Studiengebühren vor: Alle Studierenden sollten ab dem Wintersemester 2007/08 Studiengebühren in Höhe von 500 Euro pro Semester zahlen. Der Gesetzentwurf führte zu den stärksten Studierendenprotesten in Hessen seit Jahrzehnten. An den Hochschulen sprachen sich auch viele Beschäftigte und alle Senate bis auf den der Goethe-Universität gegen die Einführung der Studiengebühren aus.


Der GEW-Landesvorstand hat sich früh mit der aufkommenden Protestbewegung solidarisiert: Studiengebühren seien in keiner Form „sozialverträglich“, sondern immer ein Instrument sozialer Auslese.
 

„Es geht um unsere Zukunft“

Zwei Argumente spielten in der Auseinandersetzung eine besonders wichtige Rolle:

  • Studiengebühren verschärfen die soziale Ungleichheit im Bildungswesen. 70 Prozent der Studierenden arbeiten neben dem Studium. Kinder aus ärmeren und bildungsfernen Schichten werden von der Aufnahme des Studiums abgeschreckt. „Eine Teilhabe an Bildungsangeboten wird immer mehr vom eigenen oder vom Geldbeutel der Eltern abhängig gemacht“, kritisierte der damalige GEW-Landesvorsitzende Jochen Nagel. „Da geht es wirklich um unsere Zukunft“, sagte die damalige Landesschulsprecherin Katharina Kappelhoff.
  • Zum anderen verstieß die Einführung der allgemeinen Studiengebühren gegen die Hessische Verfassung. Der mit „Unterrichtsgeldfreiheit“ überschriebene Artikel 59 der Hessischen Verfassung lautet bis heute: „In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich.“ Die Landesregierung beging mit ihrem Gesetz zur Einführung der allgemeinen Studiengebühren einen klaren Verfassungsbruch. Das Grundrecht der Gebührenfreiheit werde mit dem Gesetz aufgehoben, kritisierte auch der Verfassungsrechtler Joachim Wieland bei der Anhörung im Landtag.

Im Sommer 2006 waren die Studierenden in Hessen zu zehntausenden auf der Straße, Demos, die acht Stunden dauerten, waren keine Seltenheit. Ziviler Ungehorsam gegen die Einführung von Studiengebühren und das bewusste Überschreiten von Grenzen, um Öffentlichkeit herzustellen, gehörten zu den Markenzeichen der Proteste. Das schloss auch kreative Protestaktionen rund um die Fußball-Weltmeisterschaft in Frankfurt sowie die zeitweise Besetzung der Autobahnen in mehreren Städten ein. Gemeinsam machten Studierende und Gewerkschaften mit zwei großen Demonstrationen Druck: Am 28. Juni 2006 folgten rund 8.000 Menschen dem Aufruf der GEW Hessen, der Landesschüler*innenvertretung, der Landes-ASten-Konferenz, des DGB und des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren. Sie fanden sich in der Nähe des Landtags ein, um gegen die verfehlte Bildungspolitik in Hessen, gegen Studiengebühren und die „Unterrichtsgarantie Plus“ zu protestieren.


Am 21. Oktober mobilisierte der DGB zu einem Aktionstag gegen Sozialabbau mit 20.000 Teilnehmenden nach Frankfurt. Stefan Körzell, damals Vorsitzender des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen und heute Mitglied im DGB-Bundesvorstand, hob  die Ausweitung der Zusammenarbeit mit den Studierenden im Sommer 2006 hervor:  
„Einladungen zu Gewerkschaftsversammlungen, wir haben auf ihren Demonstrationen gesprochen, das ist etwas, was sich lange entwickelt hat.“
Das Zitat stammt übrigens aus dem eindrücklichen Dokumentarfilm „Kick it like Frankreich“ von Martin Kessler, alle anderen Zitate in diesem Artikel stammen aus der HLZ.

 

Verfassungsklage von unten

Anfang Oktober 2006 beschloss der Hessische Landtag mit der absoluten Mehrheit der CDU-Fraktion die Einführung von allgemeinen Studiengebühren ab dem Wintersemester 2007/08. Auch einige Modifikationen wie die Rücknahme der erhöhten Master-Gebühren konnten am unsozialen Charakter des Gesetzes nichts ändern.


Gegen diesen klaren Bruch der hessischen Verfassung organisierten die DGB-Gewerkschaften und Studierendenvertretungen eine „Verfassungsklage von unten“. Ein Prozent der Wahlberechtigten - zum damaligen Zeitpunkt 43.308 Bürgerinnen und Bürger - können ein Gesetz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor den Hessischen Staatsgerichtshof bringen. Trotz des hohen bürokratischen Aufwands für jede amtlich beglaubigte Unterschrift beteiligten sich knapp 80.000 Menschen an dieser Klage. Am 22. Juni 2007 wurden die Unterschriften eingereicht. Schon das war ein enormer Erfolg! Auch wenn wenig Optimismus bestand, dass die Studiengebühren vom Staatsgerichtshof zu Fall gebracht würden, verschaffte der „plebiszitäre Widerstand“ dem Protest weiter öffentlich Aufmerksamkeit. Außerdem hatte er starken Einfluss auf die Landtagswahlen im Januar 2008. Der Staatsgerichtshof entschied im Juni 2008 mit knapper Mehrheit, dass das Gesetz mit der Hessischen Verfassung vereinbar sei.


Der Ausgang der Landtagswahlen ermöglichte dann die Abschaffung der Gebühren: Da die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Duldung der Linken am Widerstand einzelner SPD-Abgeordneter scheiterte, blieb der erhoffte Politikwechsel leider aus. Den drei Parteien gelang es aber, in der Übergangszeit bis zur Neuwahl Anfang Juni 2008 ein Gesetz zur Rücknahme der Studiengebühren zu verabschieden. Die Hochschulen erhielten zum Ausgleich zusätzliche Mittel, über deren Vergabe Kommissionen mit hälftiger Beteiligung der Studierenden entscheiden. Bei der Neuwahl in Hessen 2009 kündigte auch die CDU an, die Studiengebühren nicht wieder einführen zu wollen.


In Hessen gelang, was in der Wissenschaft als Aufbau gesellschaftlicher Macht und Bewegungsorientierung der Gewerkschaften diskutiert wird: der Aufbau tragfähiger Bündnisse insbesondere zwischen Studierenden und Gewerkschaften. Sie machten eine anhaltende Mobilisierung möglich und sorgten für einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Das war nicht zuletzt auch ein wichtiges Signal an die SPD und Grünen auf Bundesebene, die Studiengebührenmodellen zunehmend offen gegenüberstanden. Nicht zuletzt zeigte sich in Hessen, dass mit dem polarisierten Thema Wahlen gewonnen werden können.


Die Gewerkschaften nahmen von Anfang an eine klare Haltung gegen Studiengebühren ein. Bereits 2003 legte die CDU Hessen mit der Einführung von Verwaltungs-, Langzeit- und Zweitstudiumsgebühren im Rahmen der „Operation sichere Zukunft“ Hand an ein gebührenfreies Studium. Gegen den Bildungs- und Sozialabbau demonstrierten mehr als 45.000 Menschen in Wiesbaden. Die GEW Hessen hatte sich klar gegen jede Form der Studiengebühren positioniert. Solidarisch zeigte sie sich auch mit den Studierenden, die im Laufe der Auseinandersetzung von Repression betroffen waren. Die Stürmung des Studierendencafés an der Uni Frankfurt im Juni 2006 durch die Polizei wurde von der GEW öffentlich verurteilt. Um Studierende aus Marburg zu unterstützen, die wegen der Autobahnblockade strafrechtlich verfolgt wurden, richtete die GEW Hessen einen Rechtshilfefonds ein.

Gemeinsam erfolgreich kämpfen

Die Einführung der Studiengebühren war ein Baustein der von der CDU-Regierung betriebenen neoliberalen Umwandlung der Hochschulen: Leistung, Effizienz, Wettbewerb und Management waren die Schlüsselwörter der CDU-Hochschulpolitik, die zu einem massiven Abbau von Demokratie und Mitbestimmung führte, zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und stärkeren Einflussnahme durch private Dritte. 2004 wurden die Befugnisse der Hochschulleitungen erweitert und die studentische Selbstverwaltung angegriffen, die seitdem bei den Wahlen zum Studierendenparlament eine Mindestwahlbeteiligung von 25 % erreichen muss, um Mittelkürzungen zu vermeiden. Den wissenschaftlichen Beschäftigten wurde der Schutz durch die Personalvertretung nahezu vollständig entzogen und die Lehrverpflichtung für den wissenschaftlichen Mittelbau deutlich erhöht. Auch die Privatisierung der Universitätskliniken in Marburg und Gießen führte zu einer erheblichen Schlechterstellung der Beschäftigten.

Um die Aushöhlung der Flächentarifverträge weiter voranzutreiben, erhielt die TU Darmstadt zum Januar 2005 eine weitgehende Selbstständigkeit und die Zuständigkeit für Personalangelegenheiten. Der extern besetzte Hochschulrat wurde gestärkt. 2007 folgte die Umwandlung der Frankfurter Universität in eine Stiftungsuniversität. Die GEW bekräftigte auf der LDV 2008 die Ablehnung des Modells der „Stiftungsuniversität“ als „weiteren Schritt hin zur Privatisierung“. GEW und ver.di führen seitdem eigenständige Tarifverhandlungen mit den beiden Hochschulen. Die wenig überraschende Erkenntnis: Die hohe finanzielle und politische Abhängigkeit vom Land Hessen lässt kaum Spielräume zu und stellt die Sinnhaftigkeit der Tarifautonomie der beiden Hochschulen verstärkt in Frage.


Das Beispiel der Studiengebühren zeigt, dass bildungspolitische Auseinandersetzungen gemeinsam gewonnen werden können. Der Erfolg in Hessen hatte Signalwirkung in andere Bundesländer, die ebenfalls bis 2013 die Studiengebühren wieder abschafften. Die Bilanz des damaligen AStA-Referenten und GEW-Landesstudierendensprechers Amin Benaissa: „Man kann etwas bewegen, es lohnt sich, zu kämpfen.“

Carmen Ludwig