Rechtschreibung mangelhaft

An „falschen Methoden" liegt es sicher nicht

HLZ 12/2021: Studieren in Hessen

Wie Lesen und Lesenlernen funktionieren, ist bis heute nicht vollständig erforscht. Weil kompetente Leserinnen und Leser garantiert nicht Buchstaben zusammenziehen bzw. aneinanderreihen, um Wörtern und Texten Sinn zu entnehmen, verbietet die Methode „Lesen durch Schreiben“ das „Lesen üben“. Schreib- und Leseentwicklung sollen sich ungestört vollziehen, bis es – so die Erfahrung - irgendwann „klick“ macht und Kinder lesen können.

Lesen durch Schreiben.

Dabei lernen die Kinder – selbstgesteuert - zunächst über Lautketten mit dem Arbeitsmaterial Buchstabentabelle, wie die gesprochene Sprache aufgeschrieben wird.

Nach Dr. Jürgen Reichen geht es in der Schule grundsätzlich um die Aneignung von Sprachkompetenz, die sich aus den Aspekten Semantik, Wortschatz, Grammatik und Rechtschreibung zusammensetzt. Im Mittelpunkt des Unterrichts stehen die „allgemeine Förderung und Erweiterung des Sprachkönnens, der Wahrnehmungs- und Lesefähigkeiten sowie eine disziplinierte Arbeitshaltung (Konzentrationsvermögen und Anweisungsverständnis)“. (2)

Dabei verläuft der Schriftspracherwerb parallel zum Spracherwerb. Kein Mensch hat Angst, dass ein Kleinkind, das verkündet, es wolle eine „Nane haben“, später eine Sprachstörung entwickelt und nie „Ich möchte bitte eine Banane haben“ sagen wird. Rechtschreibfehler prägen sich nicht ein und die Wortbildtheorie ist lange überholt (3). Fehler zeigen, auf welchem Schreibentwicklungsstand ein Kind ist. Dabei hinkt meiner Erfahrung nach die Fähigkeit, orthografisch korrekt  zu schreiben, beim Verfassen eigener Texte hinterher, weil das Kind sich nicht darauf fokussiert.

Einem Kind kann man korrektes Sprechen nicht „beibringen“. Sprache entwickelt sich vielmehr in der Regel aus dem Sprachbad, das ein Kind umgibt, bzw. aus den Sprech- und Sprachmodellen, die Bezugspersonen geben. Deshalb macht es auch keinen Sinn, dem Kleinkind korrekte Sätze abzuverlangen. Es lernt in seinem Tempo. Ähnlich ist das mit dem Schreiben- und Lesenlernen. Zu Beginn der Grundschulzeit gibt es bei der Sprachentwicklung immense Entwicklungsunterschiede. Viele Kinder haben kaum noch Erfahrungen mit Schriftsprache: „Schriftferne Herkunftsmilieus, in denen nicht gelesen und geschrieben wird, liefern dem Kind kein entsprechendes Vorbild und keinen Anreiz, sich für Schrift zu interessieren. Auch wenn es der Schule später gelingt, ein solches Interesse zu wecken, den Entwicklungsvorsprung, über den Kinder aus schriftnahen Milieus in der Regel verfügen, kann das benachteiligte Kind nie aufholen.“ (4)

Arbeit mit der Anlauttabelle

Die Methode „Lesen durch Schreiben“, die nur selten stringent umgesetzt wird, läuft mit ihrem Anspruch, in Offenem Unterricht bzw. Werkstattunterricht selbst gesteuert zu lernen, quer zum oft üblichen Verständnis bzw. der eigenen Erfahrung von Unterricht, man müsse Kindern „etwas beibringen“ und „sie belehren“. Die Methode „Lesen durch Schreiben“ anzuwenden, bedeutet keinesfalls dass „Kinder machen, was sie wollen“. Allerdings ist sie Ausdruck einer zutiefst demokratischen, wertschätzenden Haltung gegenüber Kindern. Sie stellt autoritäre Systeme auf den Kopf und hält den Stellenwert von Rechtschreibung tatsächlich für überzogen bzw. entlarvt dessen Stellenwert als Macht- und Ausleseinstrument. Rechtschreibung gibt es tatsächlich ja erst, seitdem es Volksschulen gibt (5).

Eine Methode „Schreiben nach Gehör“ ist mir nicht bekannt. Allerdings arbeiten sehr viele Grundschullehrkräfte besonders im Anfangsunterricht mit Anlauttabellen, die als Werkzeug zum freien Schreiben und Verschriften zum Einsatz kommen. Damit wird den Kindern die Erfahrung der kommunikativen Funktion von Schreiben bzw. eine Einsicht in das „alphabetische Prinzip“ (6) ermöglicht. In der Anlauttabelle von Jürgen Reichen (s. Abbildung) werden dabei unterschiedliche Vokalqualitäten durch je zwei Anlautbilder repräsentiert wie „Apfel - Ameise“ oder „Ente - Elefant“, was bereits eine erste Hinführung zur Rechtschreibung ist.

Keine bestimmte Methode, mit der Kinder im Anfangsunterricht Schreiben und Lesen lernen, und kein noch so qualifizierter Rechtschreibunterricht inklusive der Vermittlung von Rechtschreibstrategien und ausreichender Übungssequenzen führen automatisch dazu, dass Kinder die Rechtschreibung in allen Facetten beherrschen. Trotzdem werden die Fehler, die Kinder beim Übergang in die weiterführende Schule produzieren, auf einen angeblich fehlenden Rechtschreibunterricht und mangelnde „Belehrung“ seitens der Grundschullehrkräfte zurückgeführt, als sei diesen die Rechtschreibung gleichgültig. Vereinzelt mag es das geben, aber ich kenne das nur vom Hörensagen. Jedes Nachdenken über Sprache ist letztlich auch Rechtschreibunterricht, weil es zum Bewusstwerden führt. Hinzu kommt, dass sich unser Hirn eher wichtige Dinge merkt, und dazu gehört Rechtschreibung – zumindest aus Sicht der Kinder – nicht.

Sprache auf dem Rückgang

Alle Lehrerinnen und Lehrer leiden unter dem „Rückgang“ von Sprache, den wir seit Jahren beobachten: Der Genitiv ist nahezu weg, mittlerweile verschwindet auch der Dativ zusehends, auch bei Kindern, deren Muttersprache Deutsch ist. Grundbegriffe verschwinden und in meiner letzten Klasse kannte kein Kind den Begriff „Stiel“ beim Apfel. Vielen Kindern fehlt es zudem an altersgerecht entwickelten feinmotorischen Fertigkeiten als Voraussetzung für das Schneiden, Kleben und flüssige Schreiben, an genauem Wahrnehmen und Beobachten, an Konzentrationsfähigkeit, Anstrengungsbereitschaft und Frustrationstoleranz, an Empathie, an der Fähigkeit zum Perspektivwechsel und, und, und. Sicher trifft dies nicht auf alle Kinder zu, doch die Tendenz ist deutlich zu erkennen …

Rechtschreibung fußt auf der Wahrnehmung von Sprachrhythmus, Betonung oder Silbenlängen. Viele Kinder haben jedoch kaum noch ein (gutes) „Sprachgefühl“, unabhängig davon, ob Deutsch ihre Muttersprache oder eine Zweit- oder Drittsprache ist. Wir müssen also in der Grundschule viel weiter ausholen, um Kindern überhaupt einen Weg zu (Schrift-)Sprache zu ebnen (7).

Mit meiner letzten Klasse habe ich mich - schweren Herzens – von dem Konzept „Lesen durch Schreiben“ verabschiedet. Wenn so vielen Kindernnicht(s) einfällt, was sie schreiben könnten, nützen auch das Angebot und die Befähigung, über die Buchstabentabelle selbst zu verschriften, nur wenig und nur wenigen. Persönlich würde ich gerne mit dem schriftsprachstrukturierenden Konzept arbeiten, das Christa Röber und andere entwickelt haben (8). Wieder einmal stelle ich fest, dass wir zu wenig voneinander wissen bzw. uns zu wenig austauschen: Grundschullehrkräfte meinen oft, die fehlenden Basiskompetenzen würden den Kindern in den Kindertagesstätten nicht „beigebracht“, Lehrkräfte in der Sekundarstufe I schieben die Verantwortung dafür auf Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer. Diese gegenseitigen Vorurteile bedrücken mich nicht weniger als der Rückgang von Sprache und kindlicher Entwicklung im Allgemeinen. Daher freue ich mich auf einen konstruktiven Austausch.


Felicitas Hemel
(1) Jürgen Reichen: Hannah hat Kino im Kopf. 4. Auflage 2006 (JRH)
(2) Jürgen Reichen u.a.: Eltern-Informationsblatt, o. A.
(3) JRH, S. 136 ff.
(4) JRH, S. 125
(5) JRH, S. 121 ff.
(6) Hans Brügelmann und Erika Brinkmann bezeichnen das „alphabetische Prinzip“, mit dem man Sprechlaute durch Buchstaben für Dritte lesbar machen kann, als „Grundprinzip unseres Schriftsystems“. (Silbenanalyse von Anfang an? Grundschule aktuell 155, 2021, S.35)
(7) vgl. Zvi Penner: Vom Sprachrhythmus zur Rechtschreibung. Bern 2007
(8) Christa Röber u.a.: Die Kinder vom Zirkus Palope. Wie sie Sprache untersuchen und die Schrift entdecken, Osnabrück 2018