Plädoyer für das analoge Lernen

Das Unbehagen an der digitalen Lernkultur wächst

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Seit den coronabedingten Schulschließungen im März 2020 erfolgte gezwungenermaßen eine digitale Transformation der Methodik und Didaktik im Distanzunterricht durch „Learning by doing“, ohne jegliches Konzept. Seitdem wird im öffentlichen Diskurs alles, was digital möglich ist, für die digitale Lehre als chancenreich umgedeutet. Es gilt die Devise: Alles, was ins Digitale transformiert wird, sei auch gut für den Lernfortschritt der Kinder.

Lesefähigkeit und Bildungserfolg

Nach wie vor liegen jedoch keine Studien vor, die belegen, dass digitales Lernen einen positiven Effekt auf das Lernen und die Entwicklung der Kinder allgemein hat (1). Im Gegenteil: Gerade im Grundschulalter behindert es die ganzheitliche Entwicklung der Kinder, ihrer Vorstellungskraft und der Schreib- und vertieften Lesefähigkeit. Der Erwerb der Schriftsprache und die Förderung des Leseverstehens sind von je her das Ziel der Grundschule und sie bilden die Grundlage für weiteres Lernen mit analogen und digitalen Medien. Denn seit den PISA-Studien 2000 ist bekannt, dass eine vertiefte Lesefähigkeit der Schlüssel zum Bildungserfolg ist. Zunehmend werden jedoch auch das Lesen und Schreiben auf dem Bildschirm geübt, und Leseapps wie Antolin oder Lernapps wie Anton kommen vermehrt zum Einsatz (2).

Erkenntnisse der Hirnforschung und der kritischen Medienpädagogik belegen, dass eine frühe Mediennutzung in den Grundschulen die Entwicklung der Grundfertigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben) und des Sprachvermögens behindert. Gute Lesekompetenzen sind jedoch die Grundvoraussetzung für den Schulerfolg in allen Fächern mit analogen und digitalen Medien in den weiterführenden Schulen.

Was geschieht, wenn vorwiegend auf dem Bildschirm Lesen und Schreiben gelernt wird? Grundschullehrkräfte wissen, dass Lesen und Schreiben mühevoll und in langsamen Schritten jahrelang geübt werden müssen. Neurophysiologische Grundvoraussetzungen sind Bewegungen wie Laufen, Hüpfen und Springen (3). Denn Bewegung und die Schulung der Feinmotorik sprechen die rechte und linke Hirnhälfte an und ermöglichen Koordination und Konzentration auf eine Sache für längere Zeit. Das Wiederaufnehmen und Fertigstellen dieser konzentrierten Arbeitsphasen weitet sich idealerweise mit steigendem Alter aus, die Kinder erwerben über Jahre hinweg Frustrationstoleranz und Impulskontrolle. Die Grundfertigkeiten und Kulturtechniken müssen die gesamte Grundschulzeit und darüber hinaus erworben und geübt und mit viel Bewegung und kreativem Tun angereichert werden. Die Handschrift spielt dabei eine besondere Rolle.

Lesen lernen auf dem Tablet?

Das Wischen und Springen auf einem Tablet ermöglicht hingegen nur oberflächliches Lesen. Der Sinn eines Textes wird bei Lernapps oder Texten auf dem Bildschirm in seiner Tiefe nicht durchdrungen, die Rechts-Links-Koordination im Gehirn wird nicht ausgebildet, das Haptische fehlt, um tiefere Sinnzusammenhänge zu be-greifen (4). Die Mediennutzung ist seit dem Corona-Jahr bei Kindern in der Freizeit rapide auf viele Stunden täglich angestiegen. Nun kommt noch das Lernen an Endgeräten hinzu, was die Bildschirmzeiten um weitere Stunden erhöht. Das Ablenkungspotenzial ist enorm, wenn auf den privaten Geräten (häufig Smartphone oder Tablet) gleichzeitig die Möglichkeit besteht, die privaten Apps wie Tik Tok oder Snapchat jederzeit zu nutzen. Die sozialpsychiatrischen Störungen steigen seit Jahren an, nicht zuletzt durch die zunehmende exzessive Nutzung der Bildschirmmedien. Ausdauer, Frustrationstoleranz, Empathie und Geduld sind entwicklungspsychologische Eigenschaften, die in der Grundschulzeit erworben werden (sollten). Die Bindung an die Geräte in Schule und Freizeit verhindert die mühevolle Ausbildung der Persönlichkeitsentwicklung, da mit ihnen weder Sozialverhalten noch Empathie eingeübt werden können. Der Spracherwerb wird insbesondere auch bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern weiter gestört, wenn Lernen in der Grundschule auf die Geräte verlagert wird. Denn die Zeit der gesprochenen Sprache und analoger Interaktionen in den Familien nimmt seit Jahren ab (5). Vorlesen und Erzählen sind jedoch der Schlüssel zur Lesefähigkeit und Sprachentwicklung und zur Aneignung der Bildungssprache, die in der Schule und im Berufsleben zum Erfolg führt.

Trotzdem wird das digitale Lernen als Allheilmittel begrüßt. Digitaler Dis­tanzunterricht und hybrider Unterricht werden von Wirtschafts- und IT-Verbänden als das Lernen der Zukunft auch nach der Krise propagiert (6).

Wege zur Medienmündigkeit

Die Medienmündigkeit im Jugendalter kann nur durch ausgereifte Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen), die Stärkung der Persönlichkeit (Frustrationstoleranz, Geduld, Ausdauer, künstlerische Fähigkeiten) und den Ausbau der analogen Fähigkeiten entwickelt werden. So sind sinnverstehendes Lesen und Schriftsprachenkompetenz auch die Basis und Voraussetzung für Medienmündigkeit im Jugendalter.

Die Bedienkompetenz ist in der Regel für nahezu alle Schülerinnen und Schüler in Kürze zu erreichen. Nicht zuletzt werden die Geräte und dazugehörige Software meist intuitiv bedient, sieht man vom Programmieren im IT-Unterricht ab. Die Kinder verpassen hier nichts, wenn sie in der Grundschule analog beschult werden. Im Gegenteil: Sie verlieren viel Zeit und Energie an den Geräten, die sie für ihre Entwicklung benötigen.

In der Grundschule und auch überwiegend in der Mittelstufe ist die Arbeit mit analogen Medien (Buch, Schrift, Sprache, Papier und Stift) grundlegend für eine spätere Medienmündigkeit, die erst im Jugendalter entwickelt werden kann.

Dazu gehört die Fähigkeit, einzuschätzen, wofür analoge und digitale Medien nützlich sind, was wann sinnvoll eingesetzt werden und wie eine Balance des Analogen und des Digitalen im Leben individuell realisiert werden kann, so dass die sozialen Beziehungen und analogen Tätigkeiten nicht zu kurz kommen.
Daher steht für den Grundschulbereich die indirekte Medienpädagogik im Vordergrund:

  • Malen, Basteln, ästhetische Bildung und Musik sind mehr als nur Hobbys: Sie sind der Schlüssel zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Ausbildung von Kreativität und Phantasiefähigkeit.
  • Textkompetenz im Sinn eines vertieften Lesens und das Schreiben abstrakter Inhalte sind Voraussetzungen für Urteilsfähigkeit und Mündigkeit im Umgang mit digitalen Medien.
  • Analoge Fähigkeiten sind die Voraussetzung für eine erweiterte Medienkompetenz, die mehr ist als die Fähigkeit, Medien bedienen zu können.
  • Die Bedeutung der Bewegung und der Feinmotorik (Schreibschrift) für die Gehirnentwicklung ist nicht zu unterschätzen.

Lehrkräfte unter Zugzwang

Der Einsatz digitaler Medien ist gerade in der Grundschule der entwicklungspsychologischen und lernpsychologischen Entwicklung auf vielfacher Ebene abträglich. Dies gilt in Teilen auch für die Mittelstufe, wenn der Fachunterricht im Zuge des Fernunterrichts vorwiegend in digitale Tools oder Videokonferenzen ausgelagert wird. Hier können aber (in einem gesunden Maß eingesetzt) digitale Elemente nützlich sein und die analoge Arbeit bereichern. Aber auch hier ist der (überwiegende) Digitalunterricht nicht anzustreben, sollen Kinder zu medienmündigen und urteilsfähigen jungen Menschen im umfassenden Sinne heranwachsen.

Hierzu sind analoge Materialien, eine gut sortierte Schul- und Klassenbibliothek und analoge Tätigkeiten und Beziehungsarbeit weiterhin grundlegend.

Immer mehr Grundschullehrkräfte stehen unter Zugzwang, digitale Tools einführen zu müssen, nicht zuletzt um dem Ruf der Eltern und der Gesellschaft nach Digitalisierung als Allheilmittel für das Lernen in der Pandemie gerecht zu werden. Es wird allerhöchste Zeit, die unreflektierte Digitalisierung der schulischen Lern- und Lebensprozesse nicht länger als unumgänglich hinzunehmen und sich wieder auf die Kernaufgaben schulischer Bildung zu konzentrieren. Dies ist für die Kinder nach den vielfachen Entbehrungen während der Corona-Pandemie wichtiger denn je.

Christine Bär

Dr. Christine Bär war von 2007 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik der Universität Marburg und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Artikel zu ihren Arbeitsschwerpunkten Migration, Adoleszenz und Identitätsentwicklung erschienen auch in der HLZ.

(1) Ralf Lankau: Kein Mensch lernt digital. Weinheim Beltz 2018
(2) Sieglinde Jornitz und Christoph Leser: Mit Antolin punkten oder: Wie sich mit dem Leseförderprogramm der Bock zum Gärtner macht. Pädagogische Korrespondenz Heft 57/2018.
(3) Gertraud Teuchert-Noodt: Der digitale Wahnsinn und seine irreparablen Schäden. Download: www.erziehungskunst.de/artikel/fruehe-kindheit/der-digitale-wahnsinn-und-seine-irreparablen-schaeden
(4) Anezka Kuzmicova, Theresa Shilhab u.a.: Der Kontakt zu unserer Kultur steht auf dem Spiel. In: APuZ 12/2019.
(5) Peter Hensinger und Gertraud Teuchert-Noodt: iDisorder im Digi-Tal. Homo Digitalis Quo vadis? 2018
(6) Thomas Straubhaar: Schule der Zukunft jetzt! In: Handelsblatt, 2. 9. 2020, S. 48.

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