„Man verlässt sich sehr auf das Mündliche“

Anfangsunterricht ist besonders

HLZ 7-8/2020

Jedes Jahr beginnt für einen neuen Jahrgang die Schullaufbahn in einer ersten Klasse der Grundschule. Kinder knüpfen neue Kontakte und lernen einen neuen Lebensraum sowie das Interaktionsformat „Unterricht“ kennen. Das Hessische Kultusministerium setzt auch in diesem Jahr auf den Quereinstieg ins Grundschullehramt, um den Bedarf an Lehrkräften zu decken. Dabei überschlagen sich die „Konzepte“ und neben der Weiterbildung von Lehrkräften mit einem anderen Abschluss wird auch die Abordnung von Gymnasiallehrkräften bzw. deren „Bereitschaft“, sich für einige Zeit an eine Grundschule abordnen zu lassen, diskutiert (HLZ S. 25). All dies verkennt die ganz spezifischen Kenntnisse und Kompetenzen, die Grundschullehrkräfte an der Universität und im Referendariat erworben haben. Vor allem der Anfangsunterricht unterscheidet sich durch das Erlernen mathematischer und schriftsprachlicher Verständigung massiv vom Unterrichtsgeschehen späterer Jahrgänge, weil man vor allem zu Beginn ohne Lesen und Schreiben auskommen muss. Und genau darum geht es in dem nachfolgenden Beitrag.

An einer hessischen Grundschule sollte kurz nach den Sommerferien ein „Kinderzirkus“ stattfinden. Alle Klassen trafen zur Vorbereitung nacheinander ein Mitglied des externen Zirkusteams, das die geplanten Inhalte vorstellte. Nachdem eine der ersten Klassen, die wenige Tage zuvor ihre Einschulung gefeiert hatte, über das grundsätzliche Angebot informiert worden war, erhielten die Kinder „Einwahlzettel“, mit deren Hilfe sie sich für bestimmte Tätigkeiten beim Kinderzirkus eintragen sollten. Sind Sie als Leserin oder Leser irritiert? Wenn ja, dann haben sie einen zentralen Aspekt des Anfangsunterrichts verstanden: Die Kinder können in der Regel noch nicht lesen und schreiben. Deshalb musste die Lehrerin im vorliegenden Fall in wenigen Minuten für über zwanzig Kinder die Einwahlzettel ausfüllen, natürlich unter Berücksichtigung der Wünsche und Nachfragen. Anfangsunterricht ist besonders.

Ob unter Anfangsunterricht die ersten Schulwochen, das erste Schuljahr oder die ersten beiden fallen, ist umstritten (1). Für die letzte Variante spricht die Passung mit Konzepten wie dem flexiblen Schulanfang (FLEX), der „an den Lehrplanzielen der ersten und zweiten Klassenstufe“ arbeitet und unter anderem auf die Berücksichtigung individueller Entwicklungsverläufe abzielt (2). Man kommt damit der ohnehin gegebenen Heterogenität von Schülerinnen und Schülern nach und bietet eine flexible Verweildauer von ein bis drei Jahren in der Schuleingangsstufe, je nach individueller Leistungsentwicklung. Schon 1957 schrieb der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, dass „nur bei hinreichender Differenzierung (…) überhaupt ein fruchtbares Zusammenarbeiten gleichaltriger Schulanfänger möglich“ sei (3).

Aufgrund seiner Stellung zu Beginn der Schulzeit wird eine besondere „Bedeutsamkeit des Anfangsunterrichts für die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung der Kinder“ angenommen (4). Zudem muss von spezifischen didaktischen Planungs- und Qualitätsanforderungen an den Lehr-Lernprozess ausgegangen werden. Unterschiede zum späteren Unterricht werden insbesondere in alltäglichen Handlungen deutlich, was nachfolgend veranschaulicht werden soll. Dazu wird auf Erfahrungen einer Grundschullehrerin zurückgegriffen, die in den ersten Wochen des Schuljahres 2018/19 mit einer ersten Klasse gesammelt wurden. Die aufgeführten Inhalte und Ideen sollen allerdings nicht als ideale Fassung von Anfangsunterricht verstanden werden, sondern lediglich spezifische Anforderungen deutlich machen.

Zu Beginn der ersten Klasse werden Vorkenntnisse der Kinder in Erfahrung gebracht, um im weiteren Verlauf daran anknüpfen zu können. Dies entspricht sowohl einem kompetenzorientierten als auch einem förderdiagnostischen Blick auf Schülerinnen und Schüler am Anfang ihrer Grundschulzeit und soll sie als Wissende anerkennen, die nicht „bei Null“ anfangen. So kann es sein, dass manche Kinder bereits über beträchtliche schriftsprachliche oder mathematische Grundkenntnisse verfügen, bevor sie die Grundschule besuchen. Die folgenden Übungen ermöglichen es in diesem Zusammenhang, fachliche Vorkenntnisse in Erfahrung zu bringen:

Buchstabenkenntnisse: Als erster Ausgangspunkt kann der Name eines Kindes dienen. Viele Kinder können ihren Namen schon selbst schreiben. Auch das „leere Blatt“, auf dem frei geschrieben werden kann, ermöglicht es den Kindern, bereits bekannte Schriftsprachlichkeit vorzuweisen. Ebenfalls kann das Auslegen von Buchstaben, ob aus Holz oder als Ausdruck, im Sinne eines stillen Impulses genutzt werden. Benennen Kinder einzelne Buchstaben?

Erste Wörter lesen: Mithilfe sogenannter „Minimalpaarunterschiede“, beispielsweise der Namen Nina und Nino, können erste Leseversuche unternommen werden. Kurze, ein- oder zweisilbige Worte ermöglichen den Kindern erste Leseerfolge im schulischen Rahmen und können gleichzeitig zur Veranschaulichung von Unterschieden in der Bedeutung von sehr ähnlich erscheinenden Worten genutzt werden. Wichtig ist dabei allerdings, dass man die Bedeutsamkeit des Lesens nicht aus den Augen verliert: Namen zu lesen ergibt einen Sinn; manche Fibel ist jedoch voll von inhaltsleeren Leseübungen, die schnell zu Langeweile führen können.

Silbenklatschen: Dazu versammelt man sich im Klassenverband, beispielsweise im Sitzkreis, und klatscht beim Sprechen eines Wortes zu jeder einzelnen Silbe. Durch eine genaue Beobachtung der Kinder können erste Annahmen bezüglich ihres Lernstandes aufgestellt werden. Je nach Vorkenntnissen kann man im Folgeunterricht mehr oder weniger Zeit für derartige Übungen einplanen. Zu beachten ist bei dieser Übung, dass im Deutschen häufig ein Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftsprache bei der Silbeneinteilung vorliegt.

Nachspurübungen: Diese Tätigkeit findet man vermutlich in der absoluten Mehrheit aller ersten Klassen vor. „Nachspuren“ meint dabei, dass die Kinder Ziffern oder Buchstaben auf einem Blatt Papier ab- bzw. nachzeichnen. Dabei sind die Bewegungsformen wichtig, die den Kindern vermittelt werden müssen. So beginnt beispielsweise das „S“ mit einer Bewegung gegen den Uhrzeigersinn und dreht dann um in eine Kreisbewegung im Uhrzeigersinn.

Gegenstände als Erzählimpuls: Grundsätzlich ist im Anfangsunterricht die enaktive Ebene sehr relevant. Mithilfe von Gegenständen können Redeanlässe geschaffen werden,  um im Deutschunterricht Anlaute zu benennen oder in Matematik das Zahlenverständnis zu üben. Über die gesamte Grundschulzeit hinweg bleibt diese enaktive Ebene wichtig, auch wenn die ikonischen und symbolischen Ebenen hinzukommen. Dabei gilt es auch zu bedenken, dass die mündliche Kommunikation dialogisch, die schriftliche hingegen monologisch strukturiert ist. All das ist nicht selbstverständlich.

Aus dem Alltag der Grundschule

Eine überfachliche Frage besteht darin, wie man das fachspezifische Arbeitsmaterial für die Kinder „findbar“ macht, ohne dass Beschriftungen gelesen werden können. Der Schulranzen ist gefüllt mit Büchern, Arbeitsmappen voller Zettel, dem Schreibheft und verschiedenen anderen Heften. „Was von all den Dingen da drin brauche ich jetzt?“ ist da wohl eine Frage, die sich manch ein Kind zu Recht stellt. Farben können hier eine große Hilfe sein. Alle Hefte, Bücher und Mappen eines Schulfachs in buntem Papier derselben Farbe einzuschlagen, ermöglicht es der Lehrkraft beispielsweise zu sagen:  „Wir brauchen jetzt das blaue Buch“, statt vom „Mathebuch“ zu sprechen. Auch Hausaufgaben, wenn sie denn aufgegeben werden, stellen eine Herausforderung dar, denn sie können nicht auf- oder abgeschrieben werden. Eine Variante besteht darin, es den Eltern zu überlassen, täglich ein extra dafür im Schulranzen verstautes Hausaufgabenheft zu kontrollieren, in das die Lehrkraft Aufgaben eingetragen hat, was jedoch je nach Vorstellungen von und Erwartungen an Schule im Elternhaus unterschiedlich gut funktioniert. Eine andere Möglichkeit sind Klebepunkte, die von der Lehrerin oder dem Lehrer auf den entsprechenden Seiten im Buch oder Heft angebracht werden, sodass die Kinder selbstständig ihre Hausaufgaben wiederfinden können. Die Aufgaben selbst müssen dann allerdings von den unterschiedlichen Kindern einer Klasse auch zu bewältigen sein. 

Auch im sozialen Miteinander wird in der Schule oft auf etwas verwiesen, das schriftlich dokumentiert ist und öffentlich eingesehen werden kann, beispielsweise gemeinsam erstellte Klassenregeln. Wenn man jedoch im Anfangsunterricht dieselben erarbeitet, können sie nicht einfach aufgeschrieben und ausgehängt werden. Fotos, ikonische Abbildungen und allgemeinverständliche Symbole sind notwendig. Solche Vereinbarungen kann man auch mit den Kindern zusammen erstellen, beispielsweise nach einer gemeinsamen Besprechung von als notwendig erachteten Regeln oder aber nachdem ein Konflikt thematisiert wurde, den man in Zukunft vermeiden möchte. Das Foto von einem Kind, das sich meldet, wird als „Melderegel“ aufgehängt, zwei sich die Hand reichende Kinder symbolisieren ein „gewaltfreies Vertragen“ nach einem Streit usw. Grundsätzlich ist der Anfangsunterricht auch davon geprägt, dass Kinder zum ersten Mal dazu gezwungen sind, in einem Gruppenverband über mehrere Stunden schulisch zusammen zu arbeiten. Selbst wenn man anfangs noch viele Pausen und Bewegungsmöglichkeiten einplant, erfordert es einen langen schulischen Lern- und Sozialisationsprozess, ruhig sitzen zu bleiben, nur nach Aufforderung zu sprechen, die Sprache der Unterrichtsorganisation zu lernen (z.B. „Schlagt eure Bücher auf!“) und sich in die Klassengemeinschaft einzufinden. Für all dies muss man im Anfangsunterricht Zeit einplanen und auch darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum Unterricht mit höheren Klassenstufen. Was dort selbstverständlich erscheint, ist das Ergebnis intensiver Arbeit in der Grundschule!

Der umfassende Rückgriff auf Mündlichkeit und die Einführung in Interaktionen der Grundschule stellen zusammenfassend die Besonderheiten des Anfangsunterrichts dar. Erst wenn Kinder schreiben können, wird eine Vergegenständlichung von Sprache möglich. Mündlichkeit hingegen akzentuiert die augenblickliche Situation und die Einführung in schulische Interaktion (5). Vieles verlangt dabei von allen Beteiligten Geduld, Sensibilität und Rücksichtnahme aufeinander. Eben jene spezifischen Anforderungen der ersten Schuljahre brauchen aber logischerweise eine besondere Vorbereitung, weshalb die faktische Gleichsetzung der ersten Ausbildungsphasen aller Lehrämter durch Quereinstiege ausgesprochen problematisch erscheint und umfassende begleitende Weiterqualifizierungen und Fortbildungen erfordert.


Julian Storck-Odabasi, Friederike Heinzel und Özlem Odabasi

Prof. Dr. Friederike Heinzel und Julian Storck-Odabasi arbeiten als Hochschullehrerin bzw. wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Grundschulpädagogik an der Universität Kassel, Özlem Odabasi ist Grundschullehrerin.


(1) Hacker, H. (2014). Anfangsunterricht. In: W. Einsiedler u.a. (Hrsg.), Handbuch Grund-schulpädagogik und Grundschuldidaktik (4. Aufl., S. 433-436). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
(2) Frotscher, J. (2009). Anfangsunterricht. In: D. Heckt & U. Sandfuchs (Hrsg.), Grundschule von A bis Z (S. 10-12). Braunschweig: Westermann.
(3) Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1964). Empfehlungen und Gutachten; Zweite Folge. Stuttgart: Ernst Klett Verlag. S. 43
(4) Hanke, P. (2007). Anfangsunterricht; Leben und Lernen in der Schuleingangsphase (2. Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz. S.10
(5) Dehn, M., Ohmen-Welke, I. & Osburg, C. (Hrsg.), Kinder & Sprache(n). Seelze-Vellber: Klett/ Kallmeyer. S. 115f.