50 Jahre IGS in Hessen: Aus diesem Anlass hatte HLZ-Redakteur Harald Freiling, der selbst von 1978 bis 2012 an einer Integrierten Gesamtschule, der IGS Kelsterbach, arbeitete, die Mitglieder der Landesfachgruppe Gesamtschule der GEW zu einem Gespräch über die aktuellen Bedingungen und Perspektiven der IGS in Hessen eingeladen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren die Kolleginnen und Kollegen Christiane Östreich (Georg-Büchner-Schule Erlensee), Christoph Baumann (bis 2017 an der Paul-Hindemith-Schule Frankfurt, Referat Schule der GEW Hessen), Nathalie Thoumas (Martin-Buber-Schule Groß-Gerau), die beiden Vorsitzenden der Landsfachgruppe Gesamtschule René Scheppler (Helene-Lange-Schule Wiesbaden) und Ralph Wildner (Theo-Koch-Schule Grünberg) sowie Maike Wiedwald, die auch als GEW-Landesvorsitzende weiter an der Carl-von-Weinberg-Schule Frankfurt unterrichtet.
HLZ: Schön, dass es mit dem Gesprächstermin so gut geklappt hat und dass ihr euch die Zeit genommen habt. Vielleicht könnt ihr in der ersten Gesprächsrunde auf die Frage eingehen, was es für euch ganz persönlich bedeutet, heute an einer IGS zu arbeiten, 50 Jahre nach Gründung der ersten Gesamtschulen in Hessen.
Christiane: Ich wollte nach meinem Referendariat unbedingt an eine IGS. Das ist für mich weiter die beste Schulform, die ich mir vorstellen kann, denn sie bildet die ganze Gesellschaft ab und steht vor allem für Bildungsgerechtigkeit. Sie öffnet auch den Kindern und Jugendlichen den Weg zu höheren Abschlüssen, denen es nicht in die Wiege gelegt ist.
Ralph: Was ich an der IGS schätze, ist die Kultur der Kooperation, des Austauschs, diese Offenheit, Neues auszuprobieren. Das erlebe ich auch bei vielen jungen Kolleginnen und Kollegen, die zum Teil selbst auf einer Gesamtschule waren.
Maike: Ja, das ist auch aus meinen Erfahrungen ein großes Plus. Klar, auch in anderen Schulformen können Lehrkräfte kooperieren, aber für die IGS ist es ein Muss. Ich bin ein Fan des Unterrichts mit offener Tür.
Christiane: Die kollegiale Fallberatung ist eigentlich bei uns – ohne dass wir es so nennen – ein Bestandteil des Alltags.
René: Für mich ist das kein Zufall. Diese Haltung der IGS-Lehrkräfte ist auch durch das Wechselspiel mit den Bedürfnissen und Interaktionen einer heterogenen Schülerschaft bedingt. Eine Herausforderung sehe ich in der Balance zwischen Teamstrukturen und …
Maike: … den demokratischen Konferenzstrukturen. Teamarbeit muss aus der konkreten Arbeit erwachsen und darf nicht von oben verordnet werden. Das funktioniert nicht.
Nathalie: Brauchen wir für diese Kultur der Kooperation und Offenheit, die ich sehr schätze, auch für die Arbeit in den multiprofessionellen Teams nicht auch eine andere Ausbildung? An unseren Kräften zehrt es schon, dass es an meiner Schule Lehrkräfte mit gymnasialem Lehramt gibt, die froh sind, dass sie bei uns eine Stelle gefunden haben, und dann ganz schnell wieder weg wollen.
Maike: Das ist bei uns anders …
Nathalie: Aber ihr habt auch eine Oberstufe. Da können dann auch Lehrkräfte mit gymnasialem Lehramt, die bewusst an eine IGS gehen, ihr Referendariat machen.
Ralph: Damit sprichst du ein wichtiges Thema an. Ich finde es ganz toll, dass ich bei uns die Kids von der 5.Klasse bis zum Abitur begleiten kann. Eine Gesamtschule ohne Oberstufe ist eigentlich gar keine Gesamtschule…
Christoph: Diese Aussage finde ich gefährlich. In Frankfurt haben wir zum Teil kleine Gesamtschule, die bewusst nur vierzügig sein wollen, da brauchen wir die Oberstufengymnasien. Allerdings muss es dann eine gute Kooperation und Vernetzung geben – auch personell.
René: Wir haben jetzt in Wiesbaden ein Bündnis Gesamtschule gegründet (HLZ S.13). Damit wollen wir die Politikerinnen und Politiker auf der kommunalen Ebene zwingen, endlich mal klar zu sagen, was sie für eine Schule wollen. Sie behaupten, dass sie eine „diskriminierungsfreie Schulpolitik“ betreiben und alle Schulen gleich behandeln. Dann sollen die Eltern entscheiden, wohin sie ihre Kinder schicken. Der Markt soll es richten. Und nach dieser Abstimmung mit den Füßen plant man jetzt zwei neue Gymnasien und lässt die Gesamtschulen verfallen.
Maike: Aber wenn die Kinder das Gymnasium verlassen müssen – „querversetzt“ heißt das dann – stehen die Eltern verzweifelt vor der IGS und möchten einen Platz für ihr Kind. Der ist aber oft nicht da….
Christiane: ...und es wird uns auch schwer gemacht, Plätze für Querversetzung vorzuhalten. Wir müssen die Klassen von Anfang an voll machen und bestrafen unsere Schülerinnen und Schüler, wenn wir dann im Jahrgang 8 eine zusätzliche Klasse aufmachen und alle wieder neu mischen müssen.
René: Wir brauchen eine offene Debatte über die Folgen der Zweigliedrigkeit, was die mit den Gesamtschulen macht…
Maike: Es ist genau dieses Konkurrenzdenken, das uns kaputt macht. Die Integrierte Gesamtschule war nie als Ergänzung der gegliederten Schulstruktur gedacht, sondern als etwas ganz anderes, als eine Alternative zum gegliederten Schulwesen. Wir müssen uns aus dem Jammertal befreien, dass wir auf dem Weg zur „Restschule“ sind, dass uns die „Gymnasialschüler“ fehlen. Ich empfinde uns da als viel zu defensiv.
Christoph: Ich sehe das genauso. Warum reden wir nicht viel mehr über unsere Leistungen, über das, was wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt tun, für den individuellen Aufstieg. Die Hauptlasten bei der Integration von Geflüchteten und Zuwanderern sowie im Bereich der Inklusion stemmen die Grundschulen und die Gesamtschulen. Und es gelingt ihnen dabei, recht viele Schülerinnen und Schüler für die Oberstufe zu qualifizieren! Daraus können wir ableiten, warum eine „diskriminierungsfreie Schulpolitik“, die alle Schulen scheinbar gleich behandelt, die Gesamtschule tatsächlich in hohem Maß diskriminiert. Wir müssen sehr deutlich sagen, welche Bedingungen wir brauchen, damit wir diese Aufgaben erfüllen können…
Ralph: … dazu fällt mir viel ein: Mehr Mittel für Differenzierung, mehr Schulsozialarbeit, Förderschullehrkräfte, die bei uns fest eingebunden sind, vor allem aber Deputate für alle Kolleginnen und Kollegen, die zusätzliche Aufgaben übernehmen, um sie zu motivieren und zu entlasten…
Christoph: Damit wir uns aus diesen Fängen und Zwängen des gegliederten Schulwesens befreien können, sollten wir zum Beispiel mal wieder über einen einheitlichen Gesamtschulabschluss reden.
HLZ: Ich erinnere mich aus meiner aktiven Zeit an die unseligen Konferenzen, auf denen wir uns damit rumquälten, ob man jetzt für den Realschulabschluss eine Vier im B-Kurs durch eine Zwei im G-Kurs ausgleichen kann, dass wir also immer wieder gezwungen wurden, in der IGS irgendwie das dreigliedrige Schulsystem abzubilden…
Ralph: Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Wir werden uns nie aus diesen Mechanismen befreien, solange wir überhaupt noch Noten geben müssen. Was macht das denn mit den Kindern und mit uns, wenn ein Schüler aus dem A-Kurs in meinen B-Kurs kommt und sich mit den Worten vorstellt „Ich bin eine Fünf“? Das zerstört Motivation und Lernchancen und solange bleiben wir eine Sortieranlage für die ökonomische Verwertbarkeit.
HLZ: Aber ist nicht die Zweigliedrigkeit auch eine Chance, aus den alten Gräben herauszukommen? In Bremen scheint das doch auch zu klappen.
Christoph: Das ist gar nicht die Frage, ob wir das wollen oder nicht. Die Zweigliedrigkeit ist längst Realität – vor allem in den Städten und umliegenden Ballungsräumen.
Maike: Und das Beispiel Bremen hinkt. Der Schulkompromiss in Bremen, wo es in der Sekundarstufe I nur noch Gymnasien und Oberschulen gibt, enthält klare Vorgaben: Die Abschaffung der Querversetzung führt dazu, dass jede Schulform die Kinder, die in der 5. Klasse aufgenommen wurden, zu einem Abschluss führen muss. Die Gymnasien haben alle nur G8 und der Zugang ist auf ungefähr 25 Prozent eines Jahrgangs beschränkt. Die Oberschulen haben alle eine eigene gymnasiale Oberstufe und werden inzwischen sehr gut angewählt.
Christoph: Ich war ja auch kein Fan von G8, aber man muss schon mal sagen: Die verbindliche Einführung von G8 an den Gymnasien war ein Vorteil für die IGS. Da kamen doch manche Eltern ins Grübeln. Gut, das ist mit der Rückkehr zu G9 Schnee von gestern. Deshalb sollten wir uns, wie gesagt, auf unsere Stärken besinnen. Warum führen wir nicht wieder einmal eine Diskussion über ein zehntes Pflichtschuljahr für alle Gesamtschüler?
Christiane: Da ist meine Erfahrung eine andere: Es gibt Jugendliche, die froh sind, wenn sie der Schule entrinnen und sich in der Arbeitswelt mit ihren Stärken beweisen können.
Christoph: Gut, ich will ja nicht Schülerinnen und Schüler einfach in eine zehnte Klasse setzen und dort mit dem Realschulstoff traktieren. Aber wir sollten nicht ignorieren, dass viele Jugendliche, die nach der 9. Klasse in die duale Ausbildung gehen, dort scheitern. Die Abbrecherquoten sind hoch und viele Betriebe sagen uns: Die sind ja viel zu jung. Aber du hast recht: Damit ein zehntes Schuljahr Sinn macht, müsste sich einiges ändern, auch mit Praxistagen und einer Berufseinstiegsbegleitung für alle, die nach Klasse 10 in eine Ausbildung gehen.
Christiane: So wie wir das sehr positiv mit dem Projekt „Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb“ erleben konnten. Die SchuB-Maßnahmen laufen über zwei Jahre und es gibt eine sozialpädagogische Unterstützung …
Ralph: … die man uns jetzt mit PuSch kaputt machen will. Mit dem Projekt „Praxis und Schule“ sollen die Integrierten Gesamtschulen gezwungen werden, abschlussbezogene Klassen zu bilden.
Christiane: Also wir versuchen, auch mit PuSch zurechtzukommen, indem wir dort einige zusätzliche Ressourcen reingeben.
Nathalie: Harald, du hast vorhin gefragt, was es für jeden von uns bedeutet, an einer IGS zu unterrichten. Ein Punkt ist noch nicht genannt worden, der mir wichtig ist: das soziale Lernen. Dass die Kinder und Jugendlichen Methoden erlernen und ausprobieren, wie sie kooperieren und aufeinanderzugehen.
Maike: Gut, dass du das ansprichst. Das soziale Lernen gehört zur DNA der IGS. Das bestätigen uns auch die Betriebe nach den Praktika: Sozial sind eure Schülerinnen und Schüler super, auch die Fähigkeit zur Teamarbeit ist stark ausgeprägt, auch wenn sie vielleicht wissensmäßig mal eine Lücke haben…
Ralph: Einspruch: Unsere Abschlüsse können landesweit gut mithalten…
HLZ: Das klingt jetzt alles sehr positiv. Maike, du hast eben von der DNA der IGS gesprochen. Dazu gehört aber auf jeden Fall auch die Inklusion. Eine Schule für alle Kinder, das heißt für mich Inklusion, nicht als etwas Additives, sondern als Teil der Identität. Aber jetzt hören wir oft: „Und jetzt auch noch das!“ Wie passt das für dich zusammen?
Maike: Es gab und gibt weiterhin – gerade auch an den Integrierten Gesamtschulen in Frankfurt – genau dieses Selbstverständnis. Und dann wurden, ausgerechnet im Zuge der UN-Konvention für die Rechte von behinderten Menschen, die daran ausgerichteten Strukturen durch das Kultusministerium in Frage gestellt und teilweise auch zerstört. Das hat viel kaputt gemacht.
Christiane: Du hast recht: Dass im Gemeinsamen Unterricht viele Stunden doppelt gesteckt waren, das war für mich ein Traum, wie eine IGS funktionieren kann.
René: Das ist genau das, was ich vorhin gemeint habe, als ich vom Mythos einer „diskriminierungsfreien Schulpolitik“ gesprochen habe. Man kann doch nicht alle Schulen gleich behandeln und dann zulassen, dass die Gesamtschulen mit denselben Ressourcen alle Aufgaben zusätzlich stemmen sollen. Darüber muss man doch offen reden können, ohne gleich als Gegner inklusiver Bildung angesehen zu werden. Inklusion sollte man nicht nur auf die Frage der Haltung reduzieren. Dazu gehören personelle Ressourcen, die nicht nur auf dem Papier stehen...
Christiane: …inzwischen werden zehn Prozent der – viel zu knappen – Ressourcen im Bereich des inklusiven Unterrichts für die Organisation der inklusiven Schulbündnisse zugewiesen. Und für die Kolleginnen und Kollegen, die die Förderpläne schreiben und umfangreiche Kooperationsverpflichtungen haben, gibt es gar nichts.
Ralph: Deshalb muss man an die Strukturen ran. Wie soll denn eine solche Kooperation mit Förderschullehrkräften funktionieren, die für zwei oder drei Stunden einfliegen…
Christiane: … und mich dann beraten sollen, über die Dinge, die ich vielleicht schon weiß, und in den Zeiten, in denen ich eigentlich Aufsicht machen muss oder – man wagt es gar nicht zu sagen – mal fünf Minuten Pause haben will. Es ist nicht so sehr das fehlenden Knowhow, sondern dass ich mich im Unterricht nicht vierteilen kann, um allen die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Maike: Neben den personellen Ressourcen müssen wir auch über die räumlichen Voraussetzungen sprechen. Mich ärgert es schon, wenn immer noch Schulen gebaut werden mit langen, dunklen Fluren, von denen dann wie die Hasenställe viel zu kleine Klassenräume abgehen.
Ralph: Schule reproduziert hier industrielle Strukturen!
Nathalie: Die Schule, an der ich unterrichte, ist im neuen 5. Schuljahr zehnzügig! Da geht es dann nicht um zusätzliche Container, sondern um die Frage, wann eine Schule im sozialen Brennpunkt explodiert. Als ich an der Schule anfing, war sie fünfzügig, da gab es fast familiäre Strukturen. Damals kannte ich noch fast alle Schülerinnen und Schüler, heute kenne ich nicht mal mehr alle Personen im Lehrerzimmer. Wo bleibt da die Beziehungsarbeit?
Maike: Stimmt, wir brauchen mehr Zeit für Beziehungsarbeit. Die Zahl der Kinder, die dringend Unterstützung benötigen, ist enorm gewachsen, doch ich verbringe immer mehr Zeit in Teambesprechungen, Konferenzen, Steuerungsgruppen…
Ralph: … oder vor dem Computer, der nicht funktioniert …
Christiane: …oder schreibe Kompetenzraster und Schulcurricula – und das alles für die Aktenordner. Nichts davon kommt bei den Kindern an. Hier müssen wir lernen, auch mal „Nein“ zu sagen.
Maike: Und genau deshalb finde ich den Austausch so wichtig. Ich fand dieses Gespräch hoch spannend. So etwas bräuchten wir viel öfter, gerade weil hier so viele unterschiedliche Erfahrungen und Regionen zusammen gekommen sind.
Christiane (schaut sich um): Na ja, so viele sind wir ja nun auch nicht in der Fachgruppe…
René: ... aber das kann sich ja ändern. Deshalb wollen wir öfter in die Schulen gehen und bei unseren inhaltlichen Veranstaltungen auch aktuelle Themen in den Vordergrund stellen.
HLZ: Und dafür wünsche ich euch gutes Gelingen. Vielen Dank für das Gespräch.