Demokratie wagen. Kollegiale Schulleitung - Schulleitung auf Zeit

HLZ 11/2019: 50 Jahre IGS in Hessen

Die Gesamtschulen entstanden in einer Zeit des Aufbruchs und der Diskussion über eine Demokratisierung der Gesellschaft. Die Schulen konnten dabei nicht außen vor bleiben: Es ging um die Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler, aber auch um die Überwindung hierarchischer, autoritärer Strukturen in der Leitung von Schulen und in der Schulaufsicht. Erich Frister, GEW-Bundesvorsitzender von 1968 bis 1981, dessen Rolle bei der Durchsetzung der Unvereinbarkeitsbeschlüssein der HLZ wiederholt kritisch beleuchtet wurde, erklärte kurz nach seiner Wahl zum GEW-Vorsitzenden bei einer Tagung des Bundesausschusses junger Lehrer und Erzieher im Januar 1969: „Eine Demokratisierung der Gesellschaft ist nicht möglich, wenn die Schule nicht demokratisiert wird, ja der Demokratisierung der Schule kommt eine Schlüsselfunktion für die Demokratisierung der Gesellschaft zu.“ (1)

Die Demokratisierung der Schule sei mit dem herrschenden „Direktorialprinzip“ nicht vereinbar, sondern verlange „die gleichberechtigte Mitarbeit und Mitverantwortung aller an der Schule unterrichtenden Lehrer“, wobei „der Vorsitzende des Kollegiums, der Schulleiter, von diesem Kollegium gewählt ist und von diesem auch abberufen werden kann“.

Die Umsetzung dieser Forderungen in Hessen blieb im Anfangsstadium stecken. Lediglich an den Ernst-Reuter-Schulen ERS I und ERS II in Frankfurt wurde die Möglichkeit einer kollegialen Schulleitung (KoSchu) geschaffen, die von den Lehrkräften auf Zeit gewählt wurde. An der ERS I scheiterte das Modell 1982 mit der Einsetzung einer neuen Schulleitung durch das Hessische Kultusministerium (HKM), an der ERS I bestand es bis zur Änderung der Schulgesetzes durch die CDU-Regierung im Jahr 2004.

Die Mitglieder der KoSchu waren gleichberechtigt und wurden für vier Jahre gewählt, der Vorsitzende der KoSchu für zwei Jahre. Der Wahl durch das Kollegium folgte die Beauftragung auf Zeit durch das HKM. Eine Wiederwahl war möglich und wurde häufig praktiziert. Wechsel gab es aber nicht nur in Folge einer gescheiterten Wiederwahl, sondern auch auf Grund des Wunsches von Kolleginnen und Kollegen, andere Schwerpunkte zu setzen. Bernd Herchenröther, gewählter Vorsitzender der KoSchu der ERS II von 1987 bis 1997 und vorher bereits neun Jahre Stufenleiter, nahm es wie andere Mitglieder der KoSchu als Erleichterung wahr, „dass nicht eine einzelne Person die Gesamtverantwortung trägt, sondern sich Aufgaben auf mehrere Schultern verteilten“. Dieses Modell habe vielen „den Weg in die Schulleitung erleichtert, denn es gab eben auch eine Möglichkeit der Rückkehr in die Alltagsarbeit einer Lehrkraft“.

Der oder die Vorsitzende der KoSchu leitete die Gesamtkonferenzen und vertrat die Schule gegenüber dem Staatlichen Schulamt, dem Schulträger und der Öffentlichkeit. Die Stufenleitungen leiteten ihre Stufe organisatorisch und pädagogisch eigenständig. Die Gesamtkonferenz blieb höchstes Entscheidungsgremium. Bernd Herchenröther benennt aber auch die individuellen Nachteile:
„Dazu gehören die Nachteile bei der Anrechnung der Tätigkeit auf die Pension oder der Berücksichtigung der Tätigkeit in der Schulleitung bei Bewerbungen auf Funktionsstellen anderer Schulen. Das zu ändern, fehlte der politische Wille.“

Auch Lehrerinnen und Lehrer der ERS II, die das Modell noch aus eigener Erfahrung kennen, bestätigten, dass dieses Modell für Schulentwicklung unglaublich produktiv war: „Mit der Wahl einer kollegialen Schulleitung übernehmen alle mehr Verantwortung für Schule.“ Wer wiedergewählt werden wollte, musste sich bemühen, „Entscheidungen zu begründen und Transparenz über schulische und pädagogische Prozesse herzustellen“. Bernd Herchenröther spricht von einer „größeren ‚Nähe‘ zwischen Kollegium und Schulleitung“ und „mehr Transparenz von Entscheidungen und Entscheidungsstrukturen“.
So gingen von der ERS II wesentliche Impulse für die pädagogische und konzeptionelle Schulentwicklung in Hessen aus: für die Kooperation der Lehrkräfte in Teams, für die Gestaltung eines anregenden Schulklimas, für die Förderung aller Schülerinnen und Schüler, für kooperative Lernformen und die Stärkung der Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern, insbesondere aber ab 1995 auch für die Ausgestaltung des „Gemeinsamen Unterrichts“ für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Beeinträchtigungen und Behinderungen.

Um Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle durchzusetzen, das erklärte bildungspolitische Ziel vor 50 Jahren, sind Innovation und Kreativität gefragt. Im Konzept einer demokratisch verfassten Schule ist die Pädagogik das bestimmende Moment. Sie ist kein Wirtschaftsbetrieb, in dem Schülerinnen und Schüler als „Kunden“ angesehen werden. Sie setzt auf die Kooperation der Lehrkräfte, auf die Kooperation von Kollegium und Schulleitung und die Kooperation zwischen den Schulen anstelle von Konkurrenz auf allen Ebenen. Bildung und Pädagogik sind keine normierten Produkte, deren Qualität wie bei einem Werkstück mit Instrumenten des Qualitätsmanagements gemessen werden kann.

Als der Landtag mit der absoluten Mehrheit der CDU 2004 das „Dritte Qualitätssicherungsgesetz“ verabschiedete, war die Abschaffung der KoSchu an der ERS II nur eine Randnote: Mit der Einführung von G8, landesweiten Abschlussprüfungen, Zentralabitur und Schulinspektion und der Auflösung des Hessischen Landesinstituts für Pädagogik setzte die CDU die 1999 begonnene konservative Wende der hessischen Schulpolitik fort. Selbst das Wort „Durchlässigkeit“ wurde gestrichen, die Möglichkeit der „Querversetzung“ ausgeweitet. Schon vorher war die Mitbestimmung der Personalräte bei der Besetzung von Schulleiterstellen aus dem Personalvertretungsgesetz gestrichen worden.

Heute sind an allen hessischen Schulen die Entscheidungsebenen hierarchisch angeordnet. Entscheidungen der höheren Ebenen werden zu Weisungen an die unteren auf dem Dienstweg. Kollegien werden als Weisungsempfänger angesehen, Rückfragen und Diskussionen eher als störend empfunden. Deshalb gilt es, die Diskussion über eine demokratische Schule für alle neue zu beleben. Dazu gehört auch die Diskussion über die Wahl der Schulleitung, die von allen getragen wird. Für Bernd Herchenröther überwiegen die Vorteile: „So wird an der Schule selbst viel diskutiert, gemeinsam abgewogen und Schulentwicklung praktisch gestaltet. Es ist einfach mehr in Bewegung und alle stehen in der Verantwortung.“

Maike Wiedwald, GEW-Landesvorsitzende

(1) zitiert nach: Peter Körfgen, Der Aufklärung verpflichtet. Eine Geschichte der GEW. Weinheim, München 1986, S.176f.