Stillstand in Hessen

Hessen ist Schlusslicht bei der Ganztagsschule

HLZ 9-10/2015: Neues Schuljahr

Maike Wiedwald, stellvertretende Landesvorsitzende der GEW Hessen und Vertreterin der GEW in der Arbeitsgruppe 2 des Bildungsgipfels, stellt im Folgenden den Beschluss des Landesvorstands zum Ausbau der Ganztagsschulen in Hessen vor. Im Mittelpunkt steht die Unterstützung der Schulen, die die Umwandlung in eine rhythmisierte Ganztagsschule wollen. Es geht nicht um ein Programm zur „zwangsweisen Umwandlung“ und auch nicht um eine einheitliche Strukturvorgabe. Das Schwerpunktthema „Ganztagsschule“ in der HLZ 5/2015 zeigt die Vielzahl der Möglichkeiten, die rhythmisierte Ganztagsschule je nach schulischen Gegebenheiten und Notwendigkeiten auszugestalten.

„Herausforderungen der Bildungsregionen“ lautete die Überschrift der Arbeitsgruppe 2 des im Juli kläglich gescheiterten Bildungsgipfels. Die Leitung der Arbeitsgruppe hatte Innenminister Peter Beuth (CDU), sein Vertreter war der Vizepräsident des Hessischen Landkreistags Landrat Dr. Karl-Ernst Schmidt. Neben der Frage nach dem Umgang mit zurückgehenden Schülerzahlen in ländlichen Regionen ging es vor allem um den Ausbau der Ganztagsschulen in Hessen. Insbesondere aus den Reihen der Gewerkschaften, der Elternverbände, des Ganztagsschulverbands und der Landtagsopposition kam die Forderung nach einem engagierten Programm zum Ausbau von Ganztagsschulen, die diesen Namen auch verdienen. Aber auch die Wirtschaftsverbände betonten die Notwendigkeit, auf die veränderten Familienstrukturen und Anforderungen des Arbeitsmarktes konsequent zu reagieren.

Bildungsgipfel: Ankündigungen, aber keine Taten

GEW, Landeselternbeirat und Landesschülervertretung betonten einmütig, dass soziale Ungleichheiten durch eine rhythmisierte Ganztagsschule ausgeglichen werden können und die „Vererbung von Bildungsbenachteiligung“ so abgebaut werden kann. Dabei geht es vor allem um mehr Bildung und nicht nur um mehr Betreuung!

Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bildungsgipfels war klar, dass Hessen im Ausbau von Ganztagsschulen einen deutlichen Nachholbedarf hat. Nur 0,3 % aller hessischen Grundschulen sind echte Ganztagsschulen. Damit bildet Hessen das Schlusslicht in der Bundesrepublik.

Die Erwartungen waren entsprechend hoch, als Kultusminister Lorz (CDU) im Verlauf des Bildungsgipfels erklärte, man habe „gelernt“, dass sich auch die CDU bewegen müsse. Man werde sich zusätzlichen rhythmisierten Ganztagsschulen nicht verweigern. Demonstrativ besuchte Lorz gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Ganztagsschulverbandes Seelmann-Eggebert die Blücherschule in Wiesbaden, die mindestens für die Mehrzahl ihrer Klassen ein gebundenes Konzept realisieren will.

Doch wer danach Vorschläge der Koalitionsparteien für ein Ausbauprogramm erwartete, wurde enttäuscht. Stattdessen viel heiße Luft um die „Betreuungsgarantie“ des Pakts für den Nachmittag und ein Paukenschlag: Zur Finanzierung des Pakts und anderer Maßnahmen kürzte die Landesregierung 300 Stellen an Grundschulen und gymnasialen Oberstufen. Statt der Anerkennung des Bedarfs und einer entsprechenden Finanzierung wird von Seiten der Landesregierung mit der Hilfe von „Taschenspielertricks“ ein angebliches „Mehr“ an Förderung durch Ganztagsschulen über die Streichung von notwendigen Förderstunden an Grundschulen „erbracht“. Dem haben sich nicht nur die Vertreterinnen und Vertreter der GEW verweigert, wie die HLZ auf Seite 23 berichtet. Es müssen deutlich mehr Ressourcen für den Bildungsbereich zur Verfügung gestellt werden. Kein Bildungsbereich darf gegen einen anderen ausgespielt werden.

Die GEW steht für Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle. Hierfür reicht es nicht aus, einzelne Bereiche isoliert zu betrachten, da sich Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle nur realisieren lassen, wenn sich insgesamt die Struktur des Bildungswesens in Hessen verändert. Ein wichtiger Baustein hierfür ist die Einrichtung echter rhythmisierter Ganztagsschulen.

GEW für rhythmisierte Ganztagsschulen

Wer Schulfrieden als Ziel ausgibt, muss die Fragen der Umsetzung von bildungspolitischen Maßnahmen mit dem Ziel der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit ins Zentrum der Politik stellen. Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle lassen sich nur realisieren, wenn die Struktur des Bildungswesens in Hessen insgesamt verändert wird:

Der Bildungserfolg darf nicht länger von der Herkunft der Schülerinnen und Schüler abhängig sein.
Die Verwirklichung von Inklusion erfordert einen klaren Zeit- und Ressourcenplan.

Der Ausbau echter Ganztagsschulen in Grundschulen und weiterführenden Schulen muss zielgerichtet in Angriff genommen werden.

In rhythmisierten Ganztagsschulen kann eine verbesserte individuelle fachliche und soziale Förderung der Schülerinnen und Schüler erfolgen. Soziale Ungleichheiten können ausgeglichen werden. Ganztagsschulen sind ein entscheidendes Mittel zum Abbau der Vererbung von Bildungsbenachteiligung. Insbesondere auch zur Umsetzung von Inklusion werden rhythmisierte Ganztagsschulen benötigt. Gerade Ganztagsschulen sind dazu geeignet, die Bildungsteilhabe von Kindern aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status zu unterstützen.

Für den Ausbau rhythmisierter Ganztagsschulen müssen genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, damit Schulen, die dies möchten, sich zu Ganztagsschulen entwickeln können. Priorität haben die Weiterentwicklung von Grundschulen und Integrierten Gesamtschulen zu rhythmisierten Ganztagsschulen und die Neuerrichtung von inklusiven Ganztagsgrundschulen und integrierten, inklusiven Ganztagsgesamtschulen.
Die Mittelvergabe muss den konkreten Ressourcenbedarf vor Ort berücksichtigen. Kriterien sind unter anderem die vorhandene räumliche Situation, der notwendige Sozialraum, die Existenz von potenziellen Kooperationspartnern, die Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf und die Zahl von Kindern mit Sprachdefiziten aus Flüchtlingsfamilien und mit Migrationshintergrund.

Jede Schule hat je nach Ausgangsbedingungen, Umfeld und schulischer Konzeption einen eigenen Ressourcenbedarf. Der Mindestbedarf beträgt 50 % zusätzlich zur Grundunterrichtsversorgung.

Für einen bedarfsgerechten Ausbau von Ganztagsschulen ist der tatsächliche Bedarf vor Ort zu ermitteln. Im Grundschulbereich erfolgt die Elternwahl innerhalb der bestehenden Schulbezirksgrenzen. Informationen über (neue) Ganztagsschulen sollen es den Eltern und Schülerinnen und Schülern ermöglichen, sich ein fundiertes Bild von diesem neuen Angebot zu machen. Zur Wahlfreiheit der Eltern gehört es, dass der Wunsch nach einer rhythmisierten Ganztagsschule für ihre Kinder vor Ort realisiert werden kann. Ganztagsschulen benötigen eine rhythmisierte Struktur, die nicht nur eine Betreuung am Nachmittag vorsieht. Sie brauchen Bildungsangebote statt additiver Betreuungsangebote, um Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern.

Die rhythmisierte Ganztagsschule verbessert die Betreuungsmöglichkeiten für alle Schülerinnen und Schüler und erleichtert damit die Vereinbarung von Familie und Beruf. Sie verringert sozial, sprachlich oder kulturell bedingte Bildungsbenachteiligungen und liefert darüber hinaus die notwendigen Rahmenbedingungen für eine zeitgemäße Lernkultur.

Auch bauliche Investitionen werden notwendig. Es gilt, Standards für Ganztagsschulen zu entwickeln und einzuhalten, die über denen einer reinen Vormittagsschule liegen. Die Schulträger müssen die Schulen so ausstatten, dass ein Ganztagsbetrieb möglich ist (Cafeteria, Bibliothek, Ruheräume, Freizeiträume für offene Angebote, Kleingruppenräume, Arbeitsplätze für alle Kolleginnen und Kollegen der Schule).
Für die personelle, materielle und räumliche Ausstattung brauchen die Schulen Planungssicherheit über mehrere Jahre. Eine jährlich je nach Zahl der Schülerinnen und Schüler im Ganztag fluktuierende Zuweisung lehnt die GEW ab.

Fachlicher Austausch in der GEW

An Ganztagsschulen kooperieren pädagogische Fachkräfte in multiprofessionellen Teams. Für die Kooperation auf Augenhöhe muss sichergestellt sein, dass alle Fachkräfte feste, tarifgebundene Beschäftigungsverhältnisse haben und möglichst beim selben Träger, vorzugsweise beim Land Hessen, beschäftigt sind. Die Hessische Personalvertretungsgesetz gilt für alle pädagogischen Fachkräfte.

Die GEW fordert einen konkreten Plan für den Ausbau der Ganztagsschulen im Bereich der Grundschulen und der Sekundarstufe I. Die GEW unterstützt die Forderung, jedes Jahr mindestens 100 Schulen in echte Ganztagsschulen umzuwandeln. Dies alles kann im Rahmen des „Pakts für den Nachmittag“ (PfN) nicht realisiert werden, sondern nur bei der Entwicklung echter rhythmisierter Ganztagsschulen. Der „Pakt für den Nachmittag“ führt zur „Ganztagsschule light“, bei der auch noch zu befürchten ist, dass durch Elternbeiträge sogar weitere Barrieren geschaffen werden. Mehr soziale Gerechtigkeit kann nur durch den zielgerichteten Aufbau von wirklichen Ganztagsschulen erreicht werden.

Eine Arbeitsgruppe des GEW-Landesvorstands befasst sich derzeit intensiv mit den unterschiedlichen Modellen für eine rhythmisierte Ganztagsgrundschule, wie sie exemplarisch in der HLZ 5/2015 vorgestellt wurden. Sie stehen auch im Mittelpunkt einer Fachtagung am 14. Oktober 2015 (siehe Kasten), bei der die unterschiedlichen Optionen und Aspekte mit Kolleginnen und Kollegen aus den Grundschulen und der freien Träger, aber auch mit Schülerinnen und Schülern und Eltern diskutiert werden sollen. Eine ähnliche Fachkonferenz für die Entwicklung der Schulen der Sekundarstufe I soll folgen.