Der „Pakt für den Nachmittag“ ist ein zentrales bildungspolitisches Vorhaben der schwarz-grünen Koalition und ausdrücklich vom Finanzierungsvorbehalt ausgenommen. Mathias Wagner, Fraktionsvorsitzender und bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Landtag, hält ihn für einen „epochalen Fortschritt“. Viele Grundschulen sind bisher sehr zurückhaltend und wollen sich nicht beteiligen. Ist der „Pakt für den Nachmittag“ der angekündigte „Leuchtturm“ der Schulentwicklung oder doch viel eher ein kleines Licht, das schnell erlischt?
Im „Zusammenwirken von Land, Kommunen, Eltern und den bereits jetzt im Bereich der Betreuung aktiven Initiativen“ soll für alle Grundschülerinnen und Grundschüler, deren Eltern dies wünschen, ein „Bildungs- und Betreuungsangebot“ zwischen 7.30 und 17 Uhr angeboten werden (Im Wortlaut, S.8). Der Beitrag des Landes zum „Pakt für den Nachmittag“ (PfN) soll darin bestehen, „alle Grundschulen auf freiwilliger Basis in das Ganztagsschulprogramm des Landes aufzunehmen“ und die Verantwortung für die Betreuung „an fünf Tagen in der Woche bis 14.30 Uhr“ zu übernehmen. Für die Zeit bis 17 Uhr sollen die Kommunen die finanzielle und organisatorische Verantwortung tragen und Betreuungsangebote für diejenigen Kinder sicherstellen, deren Eltern dies wünschen.
Obwohl die Erprobung in den Pilotregionen schon im Sommer 2015 beginnen soll, sind viele Fragen bis heute offen. Klar ist, dass sich die Aufnahme in das „Ganztagsschulprogramm des Landes“ auf das Profil 1 bezieht, sofern Schulen nicht bereits im Profil 2 sind. Konkrete Vorgaben für weitere notwendige Bestandteile ganztägig arbeitender Schulen wie zum Beispiel ein Raum- und Ausstattungskonzept gibt es nicht und scheinen auch nicht in Planung zu sein.
Als „Pilotregionen“ wurden auf der Grundlage entsprechender Anträge die Städte Kassel, Frankfurt und Darmstadt sowie die Landkreise Darmstadt-Dieburg, Bergstraße und Gießen ausgewählt. Ein Jahr später soll der Pakt auf das ganze Land ausgeweitet werden.
Das Land Hessen stellt für die sechs Pilotregionen für Angebote bis 14.30 Uhr 145 Stellen zur Verfügung. Wie diese Stellen verteilt werden sollen und was einer einzelnen Schule zusteht, ist bisher nicht verschriftlicht. Die folgenden Informationen basieren auf mündlichen Äußerungen gegenüber Schulleitungen und Personalräten oder stammen aus den Beratungen des „Bildungsgipfels“.
In den Pilotregionen wurde allen Grundschulen eine Teilnahme am PfN angeboten. Zum kommenden Schuljahr werden sich jedoch deutlich weniger Schulen beteiligen als von der Landesregierung geplant. Kultusminister Alexander Lorz (CDU) hält die Beteiligung von hessenweit 50 Schulen für einen „schönen Erfolg“. Die CDU-Bildungspolitikerin Bettina Wiesmann sucht die Gründe für dieses Zögern in der „Neuartigkeit des Projekts“. Die grüne Frankfurter Bildungsdezernentin Sarah Sorge, die mit 25 Schulen starten wollte, aber nicht einmal ein Drittel fand, macht die GEW verantwortlich, die „an den Schulen mobil gegen den Pakt“ mache, was Bezirksvorsitzender Sebastian Guttmann gelassen konterte:
„Falls das Projekt scheitert, gibt die GEW keinen guten Schuldigen ab. Da müssen andere selbstkritisch mal fragen, was an dem Angebot nicht attraktiv war.“
Wie soll der Pakt finanziert werden?
Bisher erhalten ganztägig arbeitende Schulen im Profil 1 je nach Schulgröße einen Zuschlag zur Grundunterrichtsversorgung von 1 bis 1,5 Stellen. Für den PfN soll eine schülerzahlbezogene Zuweisung der Lehrerstellen erprobt werden. Danach soll jede Grundschule, die am PfN teilnimmt, einen Zuschlag von 0,0094 Stellen pro Schülerin und Schüler bekommen. Eine Begründung für diesen Berechnungsschlüssel ist bisher nicht bekannt geworden. Konkret bedeutet dieses, dass eine Grundschule mittlerer Größe mit 200 Schülerinnen und Schülern eine zusätzliche Zuweisung von 1,88 Stellen bekommen würde. Dafür fallen jedoch die Landesmittel weg, die die Schule für die Durchführung von Angeboten der Frühbetreuung bekommen würde.
Dieser Zuschlag soll für zwei Jahre garantiert werden. Welche Zuweisungsform dann greifen soll, ist noch offen. Es werden auch Modelle diskutiert, die sich an der Anzahl der Schülerinnen und Schüler orientieren, die tatsächlich das verlängerte Angebot bis 14.30 Uhr nutzen.
Von den der Grundschule zur Verfügung gestellten Stellen müssen mindestens 33 % als Stellen für Lehrkräfte verwandt und mindestens 25 % in Geld umgewandelt werden (Geld statt Stellen). Diese Umwandlung soll sicherstellen, dass die Verpflichtung zur Einbeziehung „freier Träger“ finanziert werden kann. Welche Problematik sich aus der Einbeziehung „freier Träger“ und der Beschäftigung von Honorarkräften ergeben kann und wie wichtig die Verankerung gewerkschaftlicher und tariflicher Standards ist, verdeutlicht Anja Golder in ihrem Artikel in dieser HLZ (S.16).
Was sollen die Kommunen leisten?
Welche Mittel die Kommunen zusätzlich – über die Absicherung der Betreuung von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr hinaus - in den „Pakt für den Nachmittag“ investieren, bleibt selbstverständlich ihnen überlassen. Diese freiwilligen Leistungen der Kommunen werden den Schulen sehr unterschiedlich gewährt. Erhalten in der Pilotregion Bergstraße die Grundschulen pro 25 Kinder, die einer Gruppe zugeordnet werden, Zuschüsse für den pädagogischen und nicht-pädagogischen Bereich, so beabsichtigt die Stadt Frankfurt lediglich ihren Anteil für die Frühbetreuung an den Grundschulen zu belassen. Ob Elternentgelte erhoben werden und wofür, wird auch nicht grundsätzlich geregelt. Einige Pilotregionen erheben Elternentgelte in geringem Umfang, um besondere Angebote zu finanzieren. In Frankfurt soll die Betreuung der Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 und 2 prinzipiell über die Erweiterte Schulische Betreuung (ESB), eine etwas abgespeckte Form der Hortbetreuung in Schulen, mit Mitteln von Eltern nach der Entgeltordnung für Kindestageseinrichtungen der Stadt gestaltet werden. Die „Pakt-Mittel“ sollen dann nur für die Jahrgangsstufen 3 und 4 eingesetzt werden, für deren Schülerinnen und Schüler das Angebot dann weitgehend kostenlos sein soll.
Keine Vorgaben gibt es für die Bereitstellung und Ausstattung von Räumen für die Nachmittagsbetreuung. Das lässt angesichts der Finanzlage der Kommunen Schlimmes ahnen. Da die „Pakt-Schulen“ in das Profil 1 der Ganztagsrichtlinie aufgenommen werden oder dort verbleiben, sind weder ein Projektbüro noch Arbeitsplätze für Betreuungskräfte verbindlich.
Dass die vorgesehenen „Pakt-Mittel“ nicht ausreichen werden, um ein quantitativ und qualitativ hochwertiges Bildungsangebot zu realisieren, ist ein offenes Geheimnis. Gerhard Kraft begründet in seinem Artikel über die Schloss-Schule Gräfenhausen in dieser HLZ (S.12), dass eine Grundschule für die Sicherstellung eines rhythmisierten Schultags für alle Kinder bis 14.30 Uhr einen Zuschlag von 40 % zur Grundversorgung benötigt. Die vorhin schon erwähnte Grundschule mittlerer Größe müsste demnach fast 3,5 Stellen bekommen und nicht 1,88 Stellen wie in der Zuweisungsberechnung beim PfN.
In den kreisfreien Städten Frankfurt und Kassel ist klar, wer die Mittel gebende Kommune ist, doch das sieht in Landkreisen, die sich als Pilotregion beworben haben, schon anders aus. Dort müssen die Landkreise mit den einzelnen Städten in Verhandlungen treten, denn die Betreuungseinrichtungen für Kinder, also auch die Horte, wurden bisher von diesen finanziert. Und genau diese Kommunen hoffen auch über den „Pakt“ auf finanzielle Entlastung.
Richtung ändern: Ganztagsschulen einrichten
Wenn es dem Land Hessen ernst ist mit seiner Verantwortung für die Zeit bis 14.30 Uhr, dann sollte es sich um ein pädagogisches Konzept für eine rhythmisierte Ganztagsgrundschule für alle Kinder kümmern, statt einen Flickenteppich von Unterricht und anschließender Betreuung zu präsentieren. Obwohl Hessen das Schlusslicht bezogen auf gebundene Ganztagsschulen in der Bundesrepublik darstellt, können wir auch in Hessen auf Erfahrungen wie die der Grundschule Gießen-West zurückgreifen, deren Konzeption in dieser HLZ ausführlich vorgestellt wird (S.14).
Ein freiwilliges Angebot im Anschluss an die verlässlichen Schulzeiten bis 12 Uhr für die Klassen 1 und 2 bzw. bis 13 Uhr für die Klassen3 und 4 schließt eine veränderte Rhythmisierung des Schultags ebenso aus wie die Integration der Hausaufgaben oder eine verstärkte individuelle Förderung. All dies ist nur in einer rhythmisierten Ganztagsgrundschule für alle Kinder möglich. Eine notwendige pädagogische Begleitung der Schülerinnen und Schüler über den ganzen Tag muss eine Lern- und Gruppenkontinuität beinhalten und ist damit eine integrierende Konzeption. Diese Bedingung steht aber im Gegensatz zum additiven Konzept der Betreuungsschule, in der Erziehungsprozesse am Nachmittag abgekoppelt vom Unterricht am Vormittag stattfinden, so wie es schwerpunktmäßig beim PfN geplant ist.
Ob es für den Ausbau der Ganztagsschulen einer landeseinheitlichen Vorgehensweise bedarf, sei dahingestellt. Der Betreuungsbedarf der Eltern ist in den Zuzugsregionen des Rhein-Main-Gebiets ein anderer als in Regionen mit zurückgehenden Schülerzahlen. Es gibt in Hessen noch immer Regionen mit intakten Hortstrukturen, die den Betreuungsbedarf der Eltern abdecken, aber auch dort Begehrlichkeiten, im Rahmen des PfN diese Strukturen zu schleifen. Und in sozialen Brennpunkten kann der zusätzliche Förderbedarf nur erfüllt werden, wenn alle Kinder zur Teilnahme an einem verlängerten Schultag verpflichtet werden.
Wichtig sind aber endlich verlässliche Aussagen, womit die einzelne Region, die einzelne Grundschule rechnen kann. Wer will schon, so fragte die Landtagsabgeordnete Karin Hartmann (SPD) aus der Pilotregion Bergstraße, „die Katze im Sack kaufen“? Das gilt auch für die Vertretung erkrankter Lehrerinnen und Lehrern am Nachmittag, die notwendige Schaffung neuer Räume und die Regelungen zur Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams. Denn nicht die Neuartigkeit des Projektes oder die „böse GEW“ lassen viele Grundschulen zögern, sich daran zu beteiligen, sondern die vielen Unklarheiten und offenen Fragen.
Und nicht zuletzt gilt es die Arbeitsbedingungen der Grundschullehrerinnen und –lehrer in den Blick zu nehmen. Eine Verlängerung des Schultags ohne ausreichende personelle Ressourcen würde einmal mehr dazu führen, dass eine notwendige Reform auf dem Rücken der Lehrergruppe mit der höchsten Pflichtstundenzahl umgesetzt wird. Die Überlastungsanzeigen Darmstädter Grundschulkollegien (HLZ 1/2015) oder der jüngste „Hilferuf Rüsselsheimer Grundschullehrkräfte“ weisen auf den hohen Arbeitsaufwand für die „Entwicklung zur Ganztagsgrundschule“ hin. Billigmodelle mit ständig wechselnden Betreuungskräften gehen immer zu Lasten der Stammkollegien, die allein die notwendige Kontinuität, Verfügbarkeit und Kompetenz sicherstellen können.
Der von der Landesregierung geplante Leuchtturm „Pakt für den Nachmittag“ erscheint so bei näherer Betrachtung doch nur als kleines Licht, das schnell erlöschen könnte.
Maike Wiedwald
Maike Wiedwald ist stellvertretende Landesvorsitzende der GEW Hessen und koordiniert die Arbeitsgruppe „Ganztag“ der GEW.