Merkmale guter Ganztagsschulen

Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung

HLZ 5/2015: Pakt für den Nachmittag

Was kann die Ganztagsschule eigentlich leisten? Und: Was ist eine gute Ganztagsschule? Der Ausbau der Ganztagsschule in Deutschland beruht auch auf der Annahme, dass hier eine verbesserte individuelle fachliche und soziale Förderung der Schülerinnen und Schüler erfolgen kann. Die Ganztagsschulforschung zeigt aber, dass sich diese Erwartungen keineswegs „von selbst“ erfüllen. Die im Folgenden vorgestellten Forschungsergebnisse zeigen, welche Rahmenbedingungen die Qualität einer Ganztagsschule verbessern können.

Organisationsform: Offen oder gebunden?

Ganztagsschulen sind nicht zwangsläufig „Ganztagsschulen für alle“. Nur in der gebundenen Variante nehmen alle Schülerinnen und Schüler (zumindest an einigen Tagen pro Woche) am Ganztagsbetrieb teil. Offene Ganztagsschulen stellen es den Schülerinnen und Schülern frei, ob sie teilnehmen. Neben einer großen Heterogenität ganztägiger Schulorganisation in den Ländern wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass es in der Sekundarstufe I sogar schwierig ist, Ganztags- von Halbtagsschulen zu unterscheiden. So unterbreiten viele Halbtagsschulen Angebote wie Arbeitsgemeinschaften und verlegen Unterricht mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler zunehmend in den Nachmittag. Dass gebundene Ganztagsschulen häufig als „pädagogisch wertvoller“ als offene Modelle etikettiert werden, basiert auf den erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten dieses Ganztagsmodells. Wenn alle Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb teilnehmen, sollte es eher möglich sein, eine veränderte Zeitorganisation zu realisieren, Unterricht und außerunterrichtliche Angebote über den Tag zu verteilen, Hausaufgaben durch Lernzeiten zu ersetzen und vielfältige Lernmethoden zu verwenden. Allerdings nutzen längst nicht alle gebundenen Ganztagsschulen diese Möglichkeiten. Daher lassen sich keine Zusammenhänge zwischen dem Grad der Verbindlichkeit der Teilnahme und der Qualität sowie den individuellen Wirkungen der Ganztagsschule belegen. Eine bestimmte Organisationsform des Ganztages scheint nicht die Basis für positive Wirkungen zu sein. Die Studien zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) und zur Ganztagsorganisation im Grundschulbereich (GO) zeigen, dass es letztlich auf die Einzelschule ankommt und nicht auf die Organisationsform.

Gebundene Schulen gewährleisten allerdings hohe Teilnahmequoten, die unter anderem mit einer großen Vielfalt der außerunterrichtlichen Angebote zusammenhängen und die Bildung heterogener (Lern-)Gruppen erleichtern. Hier scheint sich allerdings eine obligatorische Teilnahme der Schülerschaft in Form einer gebundenen Schule nicht unbedingt positiver auszuwirken als eine hohe Teilnahmequote im offenen Ganztag. StEG zeigt, dass Schülerinnen und Schüler insbesondere dann zufrieden mit den Angeboten sind, wenn sie sich freiwillig für eine Teilnahme entschieden haben.

Vielfältige Inhalte und Methoden

Höhere Teilnahmequoten scheinen eine veränderte Lernkultur in Ganztagsschulen zu unterstützen. Ganztagsangebote sind im Vergleich zum Unterricht wesentlich heterogener hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Ausgestaltung. Zielkriterium für Qualität ist hier, neben der Vermittlung fachlicher Inhalte, auch die Förderung von fachübergreifenden, zum Beispiel sozialen Kompetenzen. Gerade Ganztagsschulangebote im Bereich Kunst, Musik und Sport sind dazu geeignet, die Bildungsteilhabe von Kindern aus sozial schwächeren Familien zu unterstützen. Wichtige Qualitätskriterien der außerunterrichtlichen Angebote sind erweiterte Partizipationsmöglichkeiten sowie positive soziale Beziehungen zu den erwachsenen Bezugspersonen. Sie spielen für positive Wirkungen der Angebotsteilnahme eine größere Rolle als etwa die inhaltliche Vielfalt der Angebote einer Schule.

In Ganztagsschulen sollte mehr Zeit für den Einsatz abwechslungsreicher Lehr-Lernmethoden zur Verfügung stehen. Die Forschung zeigt jedoch: Der Methodeneinsatz in Unterricht und Angeboten unterscheidet sich kaum. Als Bedingungen für eine größere Methodenvielfalt lassen sich neben der regelmäßigen Teilnahme möglichst vieler Schülerinnen und Schüler am Ganztagsbetrieb eine veränderte Zeitorganisation und die Verbindung von Angeboten und Unterricht identifizieren.

Die konzeptionelle Verbindung von Angeboten und Unterricht ist nach der Ganztagsschuldefinition der Kultusministerkonferenz (KMK) konstitutives Merkmal von Ganztagsschulen. Selten untersucht ist demgegenüber die tatsächliche Verzahnung im Schulalltag. Diese beinhaltet zum Beispiel ein gezieltes Aufarbeiten von „Defiziten“ aus dem Unterricht in Förderangeboten, ein Aufgreifen von fachunterrichtlichen Themen in Ganztagsangeboten oder in Schulprojekten, den Austausch des Personals in Unterricht und Angeboten über Inhalte, Konzepte, aber auch über einzelne Schülerinnen und Schüler mit dem Ziel der individuellen Förderung. Strukturelle und organisatorische Voraussetzungen einer Verbindung von Angeboten und Unterricht sind die Aktivität von Lehrkräften im Ganztag bzw. gelingende innerschulische Kooperation.

Neue Strukturierung und Rhythmisierung

Das „Mehr an Zeit“ in der Ganztagsschule bietet prinzipiell Möglichkeiten, Lernzeiten flexibler zu nutzen und zu organisieren. Allerdings findet aktuell auch in Halbtagsschulen – insbesondere in Grundschulen – ein flexibler Umgang mit der Zeitstrukturierung statt. Dazu zählen unter anderem die Abkehr vom 45-Minutentakt, flexible Anfangs- und Endzeiten und verlängerte Pausen. Weitergehende Änderungen in der Zeitorganisation werden – auch in gebundenen Ganztagsmodellen – selten umgesetzt. Die übliche Praxis in Ganztagsschulen ist es, dem „normalen“ Halbtagsunterricht einfach eine Reihe von Nachmittagsangeboten anzufügen. Gerade in G8-Gymnasien stehen die Anforderungen der Stundentafel einer veränderten Zeitstrukturierung und Rhythmisierung häufig entgegen.

Rhythmisierung bezeichnet einerseits die Verteilung von Unterricht und Angeboten über den Vor- und den Nachmittag, andererseits den Wechsel zwischen verschiedenen Lern­arrangements. Hindernisse tun sich auf, wenn Lehrkräfte nur halbtags an der Schule sind, keine Arbeitsplätze bzw. Rückzugsmöglichkeiten in der Schule haben oder es die räumlichen Strukturen nicht erlauben, beliebig Bewegungsphasen in den Tagesablauf einzubauen. Sinnvolle Rhythmisierung setzt eine intensive Kooperation der Akteure voraus.
Was fördert die interne Kooperation?

In den meisten Ganztagsschulen ergibt sich eine multiprofessionelle Zusammensetzung von Personal mit unterschiedlichen Qualifikationsprofilen und Arbeitsweisen. Art und Umfang der Kooperation sind unter anderem abhängig von der Stabilität und dem Umfang der Anstellungsverhältnisse. Hier ist allerdings eine große Heterogenität zu konstatieren. Geringfügige Beschäftigungen und zeitlich eng begrenzte Verträge führen nicht nur zu einem gesteigerten Organisations- und Koordinationsaufwand in der Schule, sondern können auch die Schulentwicklung und das Schulklima beeinträchtigen. Hauptberuflich in Ganztagsschulen tätige Personen stimmen sich häufiger und intensiver mit den Lehrkräften ab und engagieren sich öfter in Steuergruppen und Gremien. Eine Beschäftigung mit einem höheren Stundenkontingent fördert die Einbindung des Personals in den Schulalltag. Strukturelle Hindernisse für die multiprofessionelle Kooperation beinhalten ungenügende Ressourcen (z. B. Zeit, Räume, Kontaktmöglichkeiten), unklare Rahmenbedingungen (z. B. Verpflichtungsgrad, Zielsetzung, Verantwortlichkeiten) und fehlende institutionalisierte Kooperationsformen. Auch eine gemeinsame Personalentwicklung, die gegenseitige Wertschätzung und Kooperation fördern kann, kann nur bei stabilen Anstellungsverhältnissen erfolgen.

Wie könnte die gute Ganztagsschule gelingen?

Die Forschung zeigt, dass individuelle Förderung in der Ganztagsschule besonders dann gelingen kann, wenn hohe Angebots- und Beziehungsqualität gegeben sind und Lernzeiten dadurch erweitert werden können, dass die Angebote mit dem Unterricht in Verbindung stehen. Die Aktivität von Lehrkräften im Ganztagsbetrieb führt zu einer für die Kooperation wichtigen zeitlichen Überschneidung der Anwesenheit beider Personalgruppen. Feste Zeitfenster für Absprachen und Kooperationen können die wechselseitige Einbeziehung in die jeweiligen Arbeitsbereiche erleichtern. Eine Stabilisierung der Beschäftigungsverhältnisse des Personals kann für eine größere Kontinuität der pädagogischen Arbeit sorgen. Vielversprechende Maßnahmen wären auch die vermehrte Bereitstellung von Einzelarbeitsplätzen, Senkungen des Stundendeputats für Kooperationszeiten, Räume für Austausch und Kommunikation, multiprofessionell besetzte Gremien oder Steuergruppen und gemeinsame Fortbildungen. Werden auf diese Weise Kooperationsstrukturen und eine Verbindung von Ganztagsangeboten und Unterricht etabliert, sollten sich – unabhängig von der Organisationsform – auch hohe Teilnahmequoten realisieren lassen, die mit größerer Angebots- und Methodenvielfalt einhergehen können. Langfristig kann die Ganztagsschule auf diesem Wege ihre Bildungs- und Erziehungsziele erreichen.

Prof. Dr. Natalie Fischer

Die Autorin ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Beziehungen in der Schule an der Universität Kassel. (Foto S.10: fotorismus für DIPF)

Gemeinsam mit C.Tillack, D. Raufelder und J. Fetzer ist Natalie Fischer Mitherausgeberin des zweibändigen Sammelbands: Beziehungen in Schule und Unterricht. Immenhausen: Prolog-Verlag 2014
Bereits 2011 war Natalie Fischer Mitherausgeberin der folgenden Studie: Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittliche Befunde der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim: Juventa 2011.

Bei dem Artikel handelt es sich um eine Kurzfassung des Beitrags der Autorin: Thomas Klaffke und Natalie Fischer (Hrsg.), Ganztagsschule mit Qualität, Lernende Schule, Heft 69, Friedrich-Verlag Seelze 2015. Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Friedrich-Verlags. Ausführliche Quellenangaben und weitere Forschungsergebnisse findet man in: Natalie Fischer, Falk Radisch, Desiree Theis und Ivo Züchner, Qualität von Ganztagsschulen – Bedingungen, Wirkungen und Empfehlungen. Frankfurt am Main 2012. Download: www.pedocs.de/volltexte/2012/6794