Hessen ganz hinten

„Demografie-Rendite“: Ein Märchen aus vergangener Zeit

Pressekonferenz 11. September 2015

 

Inklusion

Hessen ist bei der Verwirklichung des Rechts auf Inklusion ganz hinten.

Auch Hessen ist der Verwirklichung der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet. Inklusion ist kein Selbstzweck, es geht um Lernanreize für alle Kinder, um kürzere Schulwege und das Aufwachsen aller Kinder im heterogenen Umfeld. Deshalb darf Inklusion – wie im Schulgesetz geschehen – nicht von Ressourcen abhängig gemacht werden. Vielmehr ist die Landesregierung verpflichtet, die für erfolgreiche Inklusion notwendigen Stellen und Mittel zur Verfügung zu stellen. Für eine konsequent strukturierte Umsetzung ist deshalb ein konkreter Zeit- und Ressourcenplan unabdingbar.

Zu einer erfolgreichen Umsetzung der Inklusion gehören aber auch strukturelle Änderungen von Schule und Unterricht:

  • Schülerhöchstzahlen in den Inklusionsklassen von 20 Schülerinnen und Schülern bzw. von 16 in den Vorklassen
  • Entlastungsstunden für Koordination, Konzeptentwicklung, Beratungsgespräche, Förderpläne, notwendige Dokumentationen und Fortbildung
  • eine Förderschullehrerstelle für je drei Klassen
  • eine verlässliche, planbare Unterstützung durch die BFZ an den Regelschulen
  • die Aufstockung der Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte
  • mindestens eine Stelle pro drei Klassen für eine sozialpädagogische Fachkraft im inklusiven Unterricht und darüber hinaus den angemessenen Ausbau der Schulsozialarbeit mit mindestens einer Stelle an jeder Schule
  • Unterstützung durch Psychologen und andere therapeutische Fachkräfte
  • Doppelbesetzung für alle I-Klassen

Kultusminister Lorz  behauptet, dass „die allgemeinen Schulen in diesem Prozess nicht alleine gelassen“ werden würden.

Davon merken die Kolleginnen und Kollegen im  Alltag wenig. Viele Schulen klagen darüber, dass bei ihnen keine Förderschullehrer_innen zur Unterstützung und Beratung ankommen. Im kommenden Schuljahr stehen zwar laut Zuweisungserlass rund 2.000 Förderschullehrerstellen zur Verfügung, aber das bedeutet nicht, dass diese mit qualifizierten Förderschulkolleg_innen oder überhaupt besetzt sind.

Zuzug von Flüchtlingskindern

Hessen ist auch nicht ansatzweise auf den Zuzug von vielen Flüchtlingskindern vorbereitet.

In Deutschland gelten das Menschenrecht auf Bildung und die Schulpflicht. Bildung ist wertvoll und jedes Kind hat das Recht zur Schule zu gehen, auch diejenigen, die ohne oder nur mit geringen Deutschkenntnissen nach Hessen kommen.  Es ist und bleibt Aufgabe des Staates, das Recht auf Bildung umzusetzen, Hürden abzubauen und Schritte zur Verbesserung der Situation zu gehen – auf allen Ebenen.

Seit Jahren ist die Zahl der Kinder in den Intensivklassen in Hessen gestiegen. Daran wird sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern - im Gegenteil. Willkommenskultur hat ihren Preis. Dem Bildungsland Hessen fehlt der Wille, die dafür notwendigen Ressourcen bereitzustellen. 

Die Umsetzung des Rechts auf Bildung erfordert die Aufhebung der Ressourcenvorbehalte und die Erhöhung der Stellen und Mittel zur Förderung der Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger.

Hinzu kommt noch die aktuelle Entwicklung: 58.000 Flüchtlinge werden dieses Jahr in Hessen erwartet. Wenn man schätzt, dass darunter „nur“ rund 5800 Kinder im schulpflichtigen Alter sind, ist das sicherlich nicht zu hoch gegriffen. Dass es sinnvoll und notwendig ist, diese Kinder möglichst schnell zu integrieren, wird niemand bestreiten.

Das bedeutet die zusätzliche Einrichtung von Deutsch-Intensivklassen und- kursen sowie die entsprechenden Nachfördermaßnahmen. Das Rezept der Landesregierung – Erhöhung der Schülerzahlen in den Intensivklassen von jetzt maximal 16 auf 19 [1] bei gleichzeitiger Verringerung der Stundenzahl (z.B. von 28 auf 22 Stunden für die SEK I) und der Nachförderstunden erschwert die Integration.

Die Stellenkürzung von fast 50 Stellen für die Intensivklassen an allgemeinbildenden Schulen muss sofort zurückgenommen und die Stellenzuweisung für die Intensivklassen an beruflichen Schulen sofort erhöht werden.

Um sinnvolle Mindestbedingungen, wie sie die Verordnung vorsieht, zu erfüllen,  benötigen die hessischen Schulen mindestens 400 Lehrer_innen zusätzlich.

In Hessen wenden sich SchülerInnen ohne Deutschkenntnisse an das sogenannte Aufnahme- und Beratungszentrum (ABZ). Im ABZ wird mit den Familien und vor allem mit den Kindern  ausführlich gesprochen, ihre Kompetenzen werden festgestellt und im Anschluss werden sie an Schulen mit Intensivkursen gegeben, die zu ihren Kompetenzen passen könnten. Leider gibt es kaum Intensivkurse an Gymnasien. Die Aufnahme- und Beratungszentren sind absolut unterbesetzt, sodass teilweise Wartezeiten von einigen Wochen (bis Monaten) auf einen Termin entstehen.

Hier muss jetzt gehandelt werden, die Zahl der Stellen in den ABZ müssen deutlich angehoben werden, um der großen Anzahl von Flüchtlingskindern, die in einigen Wochen einen Schulplatz benötigen, auch schnell einen zuweisen zu können.  Qualifizierte Lehrer_innen, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten können, gibt es viel zu wenige. Auch hier benötigt es jetzt (und nicht erst in einigen Monaten), Neueinstellungen von Lehrer_innen und deren Weiterqualifizierung im Bereich DAZ, sodass für neu eingerichtete Intensivklassen auch qualifizierte Lehrer_innen vorhanden sind. Dieses müssten Bestandteile eine Konzeptes sein, das wir bisher sehr vermissen.

Pakt für den Nachmittag (PFN)

Ganztagsschule geht anders als PfN: Rhythmisierte Ganztagsschulen einrichten – jetzt!

In rhythmisierten Ganztagsschulen kann eine verbesserte individuelle fachliche und soziale Förderung der Schülerinnen und Schüler erfolgen. Soziale Ungleichheiten können ausgeglichen werden. Ganztagsschulen sind ein entscheidendes Mittel zum Abbau der Vererbung von Bildungsbenachteiligung. Insbesondere auch zur Umsetzung von Inklusion werden rhythmisierte Ganztagsschulen benötigt.

Ganztagsschulen benötigen eine rhythmisierte Struktur, die nicht nur eine Betreuung am Nachmittag vorsieht wie der PfN. Ganztagsschulen brauchen Bildungs- und keine Betreuungsangebote, um Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern. Diese bildungspolitische Bedeutung nimmt in Anbetracht der aktuellen Situation noch weiter zu.

Dabei muss jedoch das Land ausreichende Ressourcen (mindestens fünfzig  Prozent zusätzlich zur Grundunterrichtsversorgung) zur Verfügung stellen und damit einen flächendeckenden Ausbau ermöglichen. Die Kommunen müssen die Schulen so ausstatten, dass ein Ganztagsbetrieb möglich ist (Cafeteria, Bibliothek, Ruheräume, Freizeiträume für offene Angebote, Kleingruppenräume, Arbeitsplätze für alle Kollegen_innen der Schule ...). Hierbei brauchen Schulen Planungssicherheit über mehrere Jahre in jeder Hinsicht (personelle-, materielle und räumliche Ausstattung). Eine Veränderung in eine Finanzierung von Ganztagsschulen, die sich an den Teilnehmer_innenzahlen am Ganztag orientiert, lehnt die GEW ab.

Dies alles kann im Rahmen des "Pakts für den Nachmittag" (PfN) nicht realisiert werden, sondern nur bei der Entwicklung echter rhythmisierter Ganztagsschulen. 

Letzte Woche erklärte Kultusminister Lorz. „Wir sehen den Bedarf an qualitativ hochwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten, mit denen mehr Zeit für die individuelle Förderung der Kinder sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf erreicht werden soll.“ Auch Schulen der SEKI und weiteren Grundschulen sollte die Möglichkeit eröffnet werden, eine gebundene Ganztagsschule zu werden.

Geschafft haben das im neuen Schuljahr nur ein Teil des Schuldorfes Bergstraße und die Blücherschule in Wiesbaden. Also geht es nur um Lippenbekenntnisse.

Da sich nicht ausreichend Grundschulen beworben haben, am PfN teilzunehmen, stehen im Zuweisungserlass noch 64 Stellen in einem Pool zur Verfügung. Mit diesem Pool könnten weitere echte Ganztagsschulen eingerichtet werden.

Das Märchen von der „Demografie-Rendite“

Das von der Landesregierung versprochene Füllhorn, die sogenannte „Demografie-Rendite“ ist ein Märchen aus vergangenen Zeiten“

Gleichzeitig wird Kultusminister Lorz nicht müde, auf jeder Veranstaltung zu betonen, dass diese Landesregierung ein „zentrales Versprechen“ abgegeben habe, die sogenannte „demografische Rendite im System“ zu belassen, das heißt keinerlei Lehrerstellen würden „aus dem System“ herausgenommen. 11.000 Schüler gäbe es allein in diesem Schuljahr weniger, über 400 Stellen seien in den vergangenen beiden Jahren bereits „gewonnen“ worden.1

Doch stimmen diese Zahlen? In Hessen gibt es in diesem Schuljahr rund 7000 Schülerinnen und Schüler weniger. 

Setzt man die Zahlen jedoch in die richtige Relation, so gibt es in diesem Schuljahr tatsächlich deutlich weniger als 1 Prozent Schülerinnen und Schüler in Hessen.

Welche Auswirkungen dieser Rückgang hat, weiß jede Schulpraktiker_in:

Bei der Größe einer durchschnittlichen Schule von 600 Schülerinnen und Schülern und 20 bis 24 Klassen sind das maximal  fünf Schüler_innen weniger, das heißt. nicht einmal ein/e Schüler/in pro Klasse weniger!

Der Bedarf an Lehrer_innenstellen sinkt dadurch garantiert nicht, genau so wenig, wie sich etwas „gewinnen“ lässt! Der Rückgang der Schüler_innenzahlen erfolgte bisher insbesondere im Bereich der Mittelstufe und an den berufsbildenden Schulen. Im Bereich der Grundschulen hingegen gibt es – nicht erst seit diesem Jahr –  deutliche Zuwächse. Dies zeigt aber auch, dass die „Demografie-Rendite“ längst „abgeschöpft“ ist.

Arbeitsbelastung der Lehrkräfte

Die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte ist bundesweit weiterhin ganz oben, gleichzeitig wird der Beruf durch faktische Besoldungskürzungen weiter abgewertet.

Die Wertschätzung eines Arbeitgebers gegenüber seinen Beschäftigten drückt sich auch in guten Arbeitsbedingungen und einer guten Bezahlung aus. Tausende von Lehrerinnen und Lehrern an hessischen Schulen haben insbesondere durch einen Warnstreik deutlich gemacht, dass sie diese Wertschätzung vermissen. Wir erwarten endlich Antworten auf unsere berechtigten Forderungen nach Übertragung der Tarifergebnisse auf die Beamtinnen und Beamten und damit nach Reduzierung der Arbeitszeit und nach Anpassung der Besoldung „entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse“, wie es im § 16 des Hessischen Besoldungsgesetzes vorgesehen ist.

Wir bleiben dran!

Die Durchsetzung von Chancengleichheit und Bildungsmöglichkeiten für alle Kinder und Jugendlichen bleibt das Ziel  der GEW Hessen.

Hierfür sind gute Arbeitsbedingungen für Lehrer_innen, gesicherte Beschäftigungsverhältnisse, kleine Klassen und eine gute materielle Ausstattung der Schulen eine wichtige Voraussetzung.


Quellen

1) Echo Online, 7. Juli 2015: „Kultusminister Lorz plädiert für die Vielfalt der Ganztagsschulmodelle“

2) Das Hessisches Kultusministerium Lehrerstellenzuweisung für das Schuljahr 2014/2015 Stand: 8. Oktober 2014 (interner Erlass).

3) Hessisches Kultusministerium Lehrerstellenzuweisung für das Schuljahr 2015/2016, Stand: 21. Juli 2015 (interner Erlass)

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[1] Diese Zahl hat die Hessenschau am 4. September 2015 nach der Pressekonferenz von Kultusminister Lorz veröffentlicht.