Der Druck auf die Schulen, Medienkonzepte zu entwickeln, nimmt immer weiter zu. Da als Grundlage dafür der bereits 2017 von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossene Rahmenplan für „Kompetenzen in der digitalen Welt“ (1) gilt, erscheint eine gründliche Betrachtung dieses Kompetenzrahmens sinnvoll. Dabei wird deutlich werden, dass der Schlüssel zu allen Medienkompetenzen die Lesekompetenz ist, die man am besten nicht-digital anhand von gedruckten Texten erwirbt. Extrem bedeutsam daneben ist die Medienvermeidungskompetenz, also eine Art Suchtkompetenz.
Rechtsgrundlage für die Verpflichtung der hessischen Schulen, ein Medienkonzept zu erstellen, ist § 6 Abs. 4 des Hessischen Schulgesetzes. Zu den Aufgabengebieten, in denen die „besonderen Bildungs- und Erziehungsaufgaben der Schulen“ erfasst werden, gehört auch der Bereich „Medienbildung und Medienerziehung“:
„Aufgabengebiete werden fachübergreifend unterrichtet. Sie können in Form themenbezogener Projekte unter Berücksichtigung der fachbezogenen Lernziele und Methoden auch jahrgangs- und schulformübergreifend unterrichtet werden. (…) Über die inhaltliche und unterrichtsorganisatorische Umsetzung entscheidet die Gesamtkonferenz auf der Grundlage einer Konzeption der jeweils zuständigen Konferenz der Lehrkräfte.“
Medienbildung ist hier ausdrücklich nicht auf die digitalen Medien beschränkt. Die Orientierung am Kompetenzrahmen der KMK kann nur empfehlenden Charakter haben, da er nicht in Landesrecht überführt wurde. Die Schulämter haben allerdings Druck auf die Schulen aufgebaut, indem sie Medienkonzepte nach bestimmten engen formalen Vorgaben als Begründung für Anträge auf Gelder aus dem Digitalpakt verlangen, um die Schulen mit Computern und WLAN aufzurüsten.
Die Welt verändert sich
Die Welt verändert sich, die Schulen müssen sich dadurch neuen Problemen stellen. Insbesondere hat sich die Mediennutzung in unserer Gesellschaft dramatisch gewandelt. Die problematischsten Veränderungen, auf die wir in den Schulen sinnvollerweise reagieren sollten, sind die Allgegenwart von Smartphones und des Internets. Ferner muss natürlich die Gesellschaft mit einer gewissen Menge von Programmiererinnen versorgt werden, und schließlich wird häufig darauf hingewiesen, dass man in der Berufswelt Grundkenntnisse im Umgang mit Computern benötige. Aber müssen deshalb die Schulen einer forcierten Digitalisierung unterworfen werden? Sollen alle Schülerinnen und Schüler per offenem WLAN ständig Zugang zum Internet haben? Sollen ihre Mitschriften und die Unterrichtsvorbereitungen der Lehrkräfte auf digitalen Geräten erfolgen? Soll individualisiertes Lernen mittels Lernsoftware erfolgen? Soll der Lernfortschritt jeder Schülerin in einer privatwirtschaftlich betriebenen Cloud gespeichert werden? Die beiden letzten Punkte betreffen die Gewichtung zwischen Bildungsorientierung und Lebenswelt bzw. Berufsorientierung. Hier kann es sicherlich kein Entweder-Oder geben, sondern eher ein Sowohl-als-Auch. Doch der Schwerpunkt sollte außer bei den Berufsschulen auf der Bildung liegen: Denn die beste Vorbereitung auf die Lebenswelt, die die Schulen leisten können, ist die Vermittlung von Lesekompetenz. Sie erlaubt es mir später, einen Mietvertrag zu verstehen oder meine Steuererklärung zu machen, auch ohne dass das in der Schule durchgenommen worden wäre.
Zur Sicherung des Nachwuchses an IT-Fachkräften kann das Fach Informatik zuständig bleiben. Es gibt immer Schülerinnen und Schüler, die es in diese Richtung zieht, und wenn die anderen wenig davon verstehen, ist das auch in Ordnung. Es kann nicht Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen sein, den sogenannten Fachkräftemangel zu lindern, der im übrigen nicht nur bei IT-Fachkräften, sondern auch bei Heizungsmonteurinnen, Pflegekräften und Lehrerinnen besteht.
Die folgenden pädagogischen, didaktischen und gesellschaftspolitischen Anmerkungen beziehen sich auf einige zentrale Punkte und Unterpunkte des Kompetenzrahmens.
Kompetenzbereich 1: Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren
Im Kompetenzbereich 1 sind (unter anderen genannten) folgende Kompetenzen zentral: „Arbeits- und Suchinteressen klären“ (1.1.1.), „Informationen und Daten analysieren, interpretieren und kritisch bewerten“ (1.2.1.) und „Informationen und Daten zusammenfassen, organisieren und strukturiert aufbewahren“ (1.3.2.). Diese Kompetenzen sind allerdings wesentlich nicht-digital und lassen sich besser mit gedruckten Texten einüben als an Bildschirmen.
Unsere Suchstrategien für Informationen haben sich durch das Internet und die Suchmaschinen stark verändert. Beim Einsatz von Suchmaschinen besteht die Herausforderung darin, relevante, korrekte und dem Vorwissen der Schülerinnen adäquate Informationen zu finden und ggf. in Wissen umzuwandeln. Hierbei ist die allgemeine Lesekompetenz der Schlüssel. Und die erwirbt man nur durch beharrlichen Umgang mit gedruckten Texten. Zur Einschätzung der Zuverlässigkeit von Informationen benötigt man neben der Frage, wer eine bestimmte Internetseite verantwortet, hauptsächlich eine gute Allgemeinbildung, die man hoffentlich in der Schule erwerben kann.
Kompetenzbereich 2: Kommunizieren und Kooperieren
Die extremste Veränderung in diesem Bereich ist die Kommunikation per Chat. Hier ist ein erhebliches Suchtpotenzial entstanden; außerdem wird viel mehr Zeit benötigt als auf anderen Kommunikationswegen. Abstinenz wäre hier wohl die geeignetste Kompetenz. Das Thema Cybermobbing wird nur in Abschnitt 2.4. („Umgangsregeln kennen und einhalten“) angesprochen. Wichtiger als die Fähigkeit, „mit Hilfe verschiedener digitaler Kommunikationsmöglichkeiten“ zu kommunizieren (2.1.1.), und weitere unsinnige oder zu weit gefasste Punkte (2.2.1, 2.4.4, 2.5.3.) erscheint mir die Vermittlung einer Resistenz gegen suchtartigen Internetgebrauch und die Sensibilisierung für einen mobbingfreien Umgang mit anderen Menschen.
Kompetenzbereich 3: Produzieren und Präsentieren
An dieser Stelle des Kompetenzrahmens wird die Verschiebung vom Sein zum Schein, vom Inhalt zur Form, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, am deutlichsten. Die geforderte Kompetenz, „Informationen, Inhalte und vorhandene digitale Produkte weiter(zu)verarbeiten“ (3.2.2.), muss wohl als Einübung in die Technik des Copy and Paste verstanden werden. Dieser Verdacht wird durch die Handreichung eines mir bekannten Schulamts untermauert:
„Alle Schülerinnen und Schüler halten bis zum 3. Schuljahr wenigstens einmal ein Referat mit Einsatz von Präsentationssoftware. Dies schult grundlegende Arbeitsweisen wie Abspeichern und Einbinden von Bildern aus dem Internet.“ Immerhin und im Gegensatz zu Copy and Paste sieht der Kompetenzrahmen auch den Punkt 3.3. „Rechtliche Vorgaben beachten“ vor.
Kompetenzbereich 4: Schützen und sicher Agieren
Die in diesem Abschnitt geforderten Kompetenzen machen die Widersprüche besonders deutlich. „Risiken und Gefahren in digitalen Umgebungen kennen, reflektieren und berücksichtigen“ (4.1.1.) kann doch nur bedeuten: Teams, Google und Facebook meiden! Und vermutlich ließe sich auch der Punkt 4.3.1. („Suchtgefahren vermeiden, sich selbst und andere vor möglichen Gefahren schützen“) am besten erreichen, wenn die Schulen handy- und internetfreie Zonen würden, in denen die Schüler und Schülerinnen erleben könnten, dass man von 8 bis 15 Uhr durchhalten kann, ohne online zu sein. Auch „Umweltauswirkungen digitaler Technologien berücksichtigen“ (4.4.1.) ist am besten durch Abstinenz zu erreichen.
Kompetenzbereich 5: Problemlösen und Handeln
Müssen Schülerinnen und Schüler wirklich in der knappen Unterrichtszeit „eine Vielzahl von digitalen Werkzeugen kennen und kreativ anwenden“ (5.2.1.) lernen? Die Kenntnis einzelner Werkzeuge ist natürlich sinnvoll: Bildbearbeitung am Computer ist im Fach Kunst bereits im Curriculum verankert, Tabellenkalkulation und Elemente der computerisierten Textverarbeitung sind ebenfalls sinnvoll, sollten aber keinen breiten Raum einnehmen. Der Bereich „Algorithmen erkennen und formulieren“ (5.5.) ist viel zu hoch gegriffen.
Kompetenzbereich 6: Analysieren und Reflektieren
Auch dies ist ein zentrales Thema vieler oder aller Fächer, hat aber nichts mit digitalen Techniken und wenig mit Medien zu tun. Lernen lässt es sich durch individuelles Tun (Schreiben von Aufsätzen) und besonders durch Diskussionen in Gruppen lebender Menschen.
Brauchen wir ein neues Fach?
Wenn aber wirklich so viele Kompetenzen zu vermitteln sind, bedürfte es dazu eines neuen Faches. Und in der Tat gibt es in dieser Richtung Vorstöße: Hessen führt an 70 „Pilotschulen“ das neue Fach „Digitale Welt“ ein, in dem Informatik mit ökonomischer und ökologischer Bildung verzahnt werden soll. Dies wird in Kooperation mit dem Hasso-Plattner-Institut in Potsdam (HPI) durchgeführt. Schlimmer kann man den Bock nicht zum Gärtner machen: Der Milliardär Hasso Plattner ist ein Gründer von SAP und betreibt über seine Stiftung politische Beeinflussung; außerdem lanciert SAP eine privatwirtschaftliche „Schulcloud“. Der Bildungssektor als riesiges künftiges Geschäftsfeld der Digitalindustrie, insbesondere auch im Hinblick auf die erzeugten Datenspuren, wird von der Öffentlichkeit leider kaum wahrgenommen (2). Hier ein Beispiel für den Einsatz des „Bildungscloud-Lernprofils“, einer am HPI Potsdam verfolgten Idee:
„Auf der Grundlage des digitalen Lebenslaufs kann die Wahl der Studien- und Ausbildungsrichtung vereinfacht werden und wäre nicht mehr von z.T. zufälligen Noten abhängig, sondern von tatsächlicher, individueller Qualifikation.“ (3) Beim Einsatz dieser Software würde also ein Algorithmus nicht nur entscheiden, was ich lernen werde und wie, sondern auch, welchen Beruf ich einmal ergreife!
Auch ein aktuelles Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (4) sieht ein Pflichtfach Informatik ab der 5. Klasse vor, das zunächst vierstündig und später sechsstündig unterrichtet werden soll. Wo die Stunden weggenommen werden sollen, bleibt offen.
Fazit
Es gibt im Wesentlichen zwei Medienkompetenzen, die Lesekompetenz, die leider bei unseren Schülerinnen im Schwinden begriffen ist, und die Medienvermeidungskompetenz (Suchtkompetenz). Lesekompetenz wird am besten durch das Lesen von Büchern erworben. Suchtkompetenz erwarben Menschen bislang im Elternhaus – oder aber eben auch nicht; inwieweit die Schulen diese Aufgabe erfolgreich übernehmen können, ist fraglich. Ein schulisches Medienkonzept ist sinnvoll, sollte sich aber nicht auf digitale Medien beschränken. Dabei kann der Kompetenzrahmen der KMK lediglich als Anregung dienen. Wir sollten mehr Selbstbewusstsein gegenüber Zumutungen „von oben“ zeigen.
Dr. Wendelin Himmelheber
Der Autor ist Lehrer für Mathematik und Physik. Vorher arbeitete er sieben Jahre als Programmierer. Jetzt hofft er auf die „vollständige Digitalisierung der Abiturarbeiten, um diese bequem mit wenigen Mausklicks von zu Hause aus korrigieren zu können“.
(1) Der Kompetenzrahmen ist Bestandteil der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“. Den Beschluss vom 9.11.2017 findet man auf der Seite der KMK und unter dem Kurzlink https://bit.ly/3zxyAJE.
(2) Shulman R. (Forbes 2017, May 17), Global Ed-Tech Investments and Outlook. 10 Ed-Tech Companies you should know about.
(3) https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/christoph-meinel-hpi-vision-zukunft-digitale-bildung
(4) Das Gutachten „Digitalisierung im Bildungssystem. Handlungsempfehlungen von der Kita bis zur Hochschule“ findet man auf der Internetseite der KMK und unter dem Kurzlink https://bit.ly/3sL3NoI.