Digitale Grundrechte

Der Datenschutz zwischen „Ayatollahs“ und „Desperados“

HLZ 5/2021: Digitalisierung

Im Brennglas der Pandemie weiß nun jede:r, dass die Schulen den digitalen Standards in der Gesellschaft meilenweit hinterherhinken. Seitdem wird vor allem bei den politisch Verantwortlichen rhetorisch der Turbo der nachholenden Entwicklung gezündet. Mangels einer zeitgemäßen IT-Infrastruktur und einheitlicher Vorgaben aus Wiesbaden stehen die Schulen seit letztem Frühjahr vor riesigen Herausforderungen, um Distanzunterricht als „das neue Normal“ gestemmt zu bekommen. Im gesellschaftlichen Diskurs über das Wie und Wann der nachholenden Digitalisierung und die digitalen Grundrechte scheiden sich die Geister vor allem beim Thema Datenschutz (1).

Von Datenschutz-Ayatollahs ...

Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, prägte in der Diskussion um die Corona-Warn-App
der Bundesregierung den Begriff des „Datenschutz-Ayatollahs“ (2). Auf die Datenschutzdebatten in den Schulen übertragen
passt er auf den ersten Blick in das Framing derjenigen, die sich selbst als pragmatische Enthusiast:innen der Digitalisierung begreifen. Die „Ayatollahs“ sind in dieser Perspektive diejenigen, die mit dem Datenschutz in der Pandemie die Nutzung digitaler Medien für den Distanzunterricht blockieren und sich mit größter Emphase und dogmatischer Strenge auf die Suche nach jeder noch so kleinen Möglichkeit eines Datenlecks in der Corona-Warn-App und anderswo machen – und selbstredend auch fündig werden.

Im Schulkontext lassen sie sich dann gut erkennen, wenn vor Ort bereits vergleichsweise hohe Datenschutzstandards
erreicht worden sind. Der „Datenschutz-Ayatollah“, es sind in der Empirie wirklich überwiegend Männer, sucht und findet
immer weitere Gründe, die eine Nutzung digitaler Plattformen und digitaler Tools bis auf Weiteres unmöglich machen.

… und Datenschutz-Desperados

Kolleginnen und Kollegen, denen der Datenschutz erkennbar am Herzen liegt, fühlen sich durch die Begrifflichkeit karikiert und sehen zugleich in den anderen die „Datenschutz-Desperados“, die die Möglichkeit der Datensouveränität in digitalen Netzwerken in der Schule als weltfremde Vorstellung hinstellen und den Plattform-Kapitalismus mit seiner Tendenz, digitale Infrastruktur in die Verfügungsgewalt weniger Tech-Giganten zu legen, zum Naturgesetz erheben. Statt sich mit müßigen Datenschutzfragen zu quälen, preisen sie die Chancen der vielfältigen Tools und kommerziellen Lern- oder Büroplattformen und verklären den Service der leistungsstarken Giganten zur Lösung der sozialen Frage im Distanzunterricht. In diesen holzschnittartigen Framings haben beide Seiten große blinde Flecken:

  • Die Desperado-Perspektive verstellt die Sicht auf die politische Verantwortung des Hessischen Kultusministeriums (HKM) für die Wahrung der Datensouveränität der Schulen. Schließlich muss das Schulportal Hessen (SPH), das seit vielen Jahren von der Lehrkräfteakademie mit seiner Philosophie der Datensparsamkeit by design entwickelt wird und erst vor drei Jahren den ministeriellen Ritterschlag erhielt, bis heute allein von abgeordneten Lehrkräften ohne eine einzige IT-Fachkraft gestemmt werden.
  • Gleichzeitig verbaut die Ayatollah-Perspektive hinnehmbare Kompromisse zwischen dem Datenschutz und dem Recht auf Bildung, da der Weg zu der noch fehlenden öffentlichen IT-Infrastruktur und der damit herzustellenden Datensouveränität der Schulen mit Sicherheit noch ein weiter sein wird.

Der Jurist Buermeyer setzte auch bei der Corona-Warn-App auf die Güterabwägung zwischen dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Wahrung von Privatsphäre und informationeller Selbstbestimmung der App-Nutzer:innen. In diesem Spannungsverhältnis galt es konkret zu bestimmen, wie die via Bluetooth getrackten personenbezogenen Daten verarbeitet werden und welche Behörde zu welchem Zweck welche Daten auswerten kann. Ganz wesentlich zur Wahrung der Rechte der Bürger:innen ist, dass die App-Macher:innen ihre Entscheidungen gegenüber den App-Nutzer:innen transparent machen, die die App dann freiwillig herunterladen können. Was heißt das für die Schule?

Abwägung von Grundrechten

Buermeyer und andere zeigen auch für die Schule Wege für einen Umgang mit dem Datenschutz auf, der nicht handlungsunfähig macht. Sicher, der Vergleich mit der Corona-Warn-App hinkt, weil sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte unter Pandemiebedingungen nur sehr bedingt freiwillig in die „Schule am Draht“ begeben. Doch um die Abwägung des Grundrechts auf Bildung und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung kommen auch sie nicht
herum! Die Abwägung muss an jeder Schule erfolgen, den konkreten Stand der Digitalisierung der Schulgemeinde betrachten und kurz- und langfristige Schritte hin zu einer datensouveränen IT-Infrastruktur aufzeigen.

So gab es während der ersten Schulschließung im Frühjahr 2020 durchaus nachvollziehbare Gründe, auch digitale
Tools und Plattformen für unterrichtliche Zwecke möglichst datensparsam zum Einsatz zu bringen, die in Sachen Datensicherheit und Datenschutz zumindest bedenklich sind. Der Ansturm der Schulen auf das SPH war immens, und die Aufnahme konnte mit den begrenzten Ressourcen nur mit Wartezeit realisiert werden. Das rechtfertigt es jedoch nicht, die
damals gefundenen Lösungen auf Dauer beizubehalten und die digitalen Grundrechte der Beteiligten weiter dem Desperado-Opportunismus zu opfern. Genauso wenig ist es gerechtfertigt, die Einsatzmöglichkeiten sehr stark einzuschränken.

Der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (HBDI) hat den Weg zwischen Skylla und Charybdis
gesucht, für alle „gängigen Videoplattformen“ eine „befristete Duldung“ ausgesprochen (allerdings ohne Auflagen
zur Datensparsamkeit) und jetzt eine Nutzung über den 1. August 2021 hinaus untersagt.

Siehe Artikel "Datenschutz an Schulen. Erfahrungen eines Schülers: „Microsoft Teams oder gar nichts!“

Schulen, die zu Beginn der Schulschließungen eine kommerzielle Lern- oder Büroplattform gewählt haben, haben bewusst oder unbewusst in Kauf genommen, dass sie dafür mit den Meta-Daten von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften bezahlen. Diese Daten fließen in die Entwicklung algorithmischer Entscheidungsverfahren ein, die künftig das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler messen und Bildungschancen gewähren oder versperren könnten (3). Viele Schulleitungen kennen ihre Pflichten nicht, die sie als datenverarbeitende Stelle nach der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) haben, oder sie werden vernachlässigt oder gar geleugnet (4). Von einer Aufklärung der Betroffenen über die aufkommende Ungleichbehandlung ganzer gesellschaftlicher Gruppen via Datenanalyse sind wir weit entfernt. Das HKM hat sich seinerseits erst spät und mit der üblichen Geheimniskrämerei daran gemacht, die Datenschutzkonformität des Schulportals auf den Weg zu bringen. Das ist ärgerlich und behindert die Mitbestimmungsrechte des Hauptpersonalrats der Lehrerinnen und Lehrer (HPRLL) bei essenziellen Dingen wie dem Verfahrensverzeichnis, den Rollenkonzepten oder der Risikofolgenabschätzung. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich eine Perspektive auf eine nachholende Datensouveränität der Schulen nur im Rahmen des SPH realisieren lässt.

Siehe Artikel "Digitale Endgeräte auf dem Weg"

Das Schulportal unterstützen und hinterfragen

Würde sich das HKM aus dem Paradoxon herausbegeben, Datenschutz hinter verschlossenen Türen vorantreiben zu wollen, würde sich die großartige Chance eröffnen, das Schulportal zu einem virtuellen Lernort für digitale Grundrechte
in den Schulgemeinden zu machen:

  • Das Schulportal könnte ein Lernort für die Fortbildung der Kollegien werden und Lehrkräfte in die Lage versetzen, den Schüler:innen einen mündigen Umgang mit den kleinen und großen Computern vorzuleben, die unser aller Leben prägen.
  • Das Schulportal würde so auch zu einer Werkstatt zur Veränderung des Unterricht. Der vielgestaltige Einfluss, den die digitale Vernetzung in immer mehr Bereichen unserer Gesellschaft ausübt, gehört in den Unterricht, in Fächer wie Ethik und PoWi und in fächerübergreifende Vorhaben, nicht nur an Projekttagen. Digitale Mündigkeit ist mehr als die Vermittlung der technischen Seite der digitalen Medaille im Informatikunterricht.

Grundlage all dessen ist ein anderes Verständnis von Digitalpolitik, das einer fortschrittlichen Gesellschafts- und Bildungspolitik verpflichtet ist, wie es unter anderem von der Initiative „Chaos macht Schule“ vertreten wird (5). Unterstützen
und hinterfragen wir also das Schulportal:

  • Wie stärkt das Schulportal die Datensouveränität der Schule gegenüber der Nutzung kommerzieller Lösungen der Tech-Giganten?
  • Wie unterscheiden sich Datensicherheit und Datenschutz auf meinem privaten Smartphone, in der SPH-App „Mein Unterricht“ oder bei der Gestaltung einer Präsentation mit dem SchulMahara?
  • Welchen Grad an Transparenz wird das Datenschutzkonzept des HKM für das SPH bieten? Wie steht es um die mögliche und notwendige Transparenz? Welche politischen, ökonomischen und juristischen Motive verfolgt die Landesregierung?
  • Welche gestaltenden Handlungsmöglichkeiten bieten sich für Personalräte und Schulleitungen, für die Gesamtkonferenzen und für die Vertretungen der Schülerinnen, Schüler und Eltern - einzeln und gemeinsam?
  • Welche Restrisiken gibt es für die Einzelnen und für die Gesellschaft und lassen sie sich beseitigen oder sind sie in Kauf zu nehmen?

Die Chancen für ein umfassendes Demokratie-Lernen in einer kollektiven Praxis und für eine progressive Digital- und Bildungspolitik liegen auf der Hand. Und die GEW wäre nicht meine GEW, wenn sie nicht zum Motor eines solchen Prozesses würde! Personalräteschulungen zu den Datenschutzkonzepten des Schulportals sowie übersichtliche Informationsmaterialien könnten ein Anfang sein. Lasst uns die Digitalisierung unserer Schulen als Kampfansage für unsere digitalen Grundrechte anpacken, anstatt sie bewusstlos der destruktiven Dialektik von Datenschutz-Desperados und Datenschutz-Ayatollahs zu überlassen.

Dirk Kretschmer

Dirk Kretschmer ist Lehrer an der Max-Beckmann-Schule, einem Oberstufengymnasium in Frankfurt, und Mitglied der GEW-Fraktion im Gesamtpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer beim Staatlichen Schulamt Frankfurt.

(1) vgl. Rainer Mühlhoff: Warum wir gerade jetzt eine Debatte über Datenschutz brauchen. In: netzpolitik.org
(2) Buermeyer beteiligt sich an der Debatte vor allem über den Politik-Podcast „Lage der Nation“, den er mit dem Journalisten Philip Banse betreibt. https://lagedernation.org
(3) vgl. Sigrid Hartong: Learning Analytics und Big Data in der Bildung. GEW-Schriftenreihe Bildung in der digitalen Welt (11/19).
(4) vgl. HLZ S.13 und Dirk Kretschmer: Lernplattformen nachhaltig gestalten. In: HLZ 12/2020. S. 24f.
(5) Chaos macht Schule: Forderungen für eine zeitgemäße digitale Bildung an unseren Schulen. ChaosComputerClub

Bild: Hatice Erol, pixabay