Derzeit vollziehen sich bedeutende gesellschaftliche Umbrüche: Vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Spannungen müssen wir gleichzeitig die ökologische Transformation gestalten, die zunehmenden Unterschiede von „Arm und Reich“ überwinden und demokratische Toleranz fördern.
Das Hessische Kultusministerium arbeitet seit einigen Jahren an einer grundlegenden Reform der Berufsschulen und einer damit einhergehenden veränderten Ressourcenzuweisung. Bis zum Ende des Jahres 2023 sollen Standortkonzepte mit Schulträgern, Schulen und der Wirtschaft erarbeitet werden. Bei diesem Projekt geht es um Fragestellungen, die für die beruflichen Schulen von existenzieller Bedeutung sind, wie die erforderlichen Mindestgrößen von Berufsschulklassen und nach welchem Verfahren zukünftig Fachklassenstandorte gebildet werden, wenn einzelne Berufsschulen die Ausbildung in bestimmten Berufen nicht aufrechterhalten können.
Seit Beginn des Schuljahres 2021/22 wurden seitens des HKM Gespräche vor Ort mit den Schulleitungen geführt. Danach folgten Beratungen mit Vertretern der Wirtschaft und der Schulträger. Wir kritisieren, dass jedoch weder Schulpersonalräte (sogar, wenn es von Schulleitungen gewünscht wurde), noch der Hauptpersonalrat oder die Verbände bisher in den Prozess eingebunden wurden.
Bereits im April 2021 hatte das HKM die Mindestklassengrößen neu festgelegt: Von bisher 15 Schülerinnen und Schülern auf 12 im ersten, 9 im zweiten, 8 im dritten und 5 im vierten Ausbildungsjahr. Wenn in zwei aufeinanderfolgenden Jahren die Mindestklassengrößen nicht erreicht werden, muss demnach die Beschulung eines Ausbildungsberufes an der betreffenden Schule auslaufen. Bestehende Ausbildungsverträge seien nicht betroffen. Die Beschulung soll dann an ausgewählten Standorten konzentriert werden. Was auf den ersten Blick positiv erscheint (Absenkung der Mindestklassengrößen), führt in der Praxis zu erheblichen Problemen.
Bisher praktizierte Ausnahmeregelungen, z.B. durch jahrgangsübergreifenden Unterricht in Form von modularisierten Unterrichtsinhalten, sind dann nicht mehr zulässig. Im ländlichen Raum, z.B. im Odenwaldkreis, wird die Beschulung in manchen Berufen gefährdet. Die Erwartung, dass durch Konzentration der Beschulung an ausgewählten Standorten wieder größere Lerngruppen entstehen, ist erfahrungsgemäß ein Trugschluss. Wenn sie zur Berufsschule weite Entfernungen zurücklegen müssen, weil die nächstgelegene Schule ihre Fachklasse schließen musste, werden sich Jugendliche und junge Erwachsene, die an einer Ausbildung, z.B. in einem Handwerksberuf, interessiert sind, anders orientieren. Durch steigende Fahrtkosten und Zeitaufwand würde die Ausbildung, zumal in einem mäßig entlohnten Beruf, für viele unattraktiv. Die Rechnung, dass aus zwei oder drei Lerngruppen an unterschiedlichen Standorten eine große Lerngruppe gebildet werden könnte, wird so nicht aufgehen, sondern der Ausbildungsberuf wird in weiten Bereichen verschwinden. Betriebe werden in der Folge die Ausbildung dauerhaft aufgeben.
Auch in den Berufsbildenden Schulen in Großstädten wie Frankfurt oder Kassel sind Einschnitte zu befürchten, wenn sogenannte Kombiklassen aus Ausbildungsberufen mit sich überschneidenden Lerninhalten nicht mehr möglich sein sollten. Hatten die Berufsbildenden Schulen zuvor Spielräume für eine sinnvolle Beschulung genutzt, um auch in Ausbildungsberufen mit regional geringen Schülerzahlen qualifizierten Unterricht zu garantieren, so sollen nun strikt die Mindestgrößen der Lerngruppen eingehalten werden.
Die duale Ausbildung gilt, trotz der in manchen Bereichen in den letzten Jahren zurückgehenden Zahl an Ausbildungsverhältnissen, weiterhin als Erfolgsmodell. Dieses Modell sichere „bei der Ausbildung von Fachkräften“ „eine an den betrieblichen Bedarfen ausgerichtete Qualifizierung von Jugendlichen“ und verhindere Jugendarbeitslosigkeit – so die Aussagen des Hessischen Kultusministeriums im Konzept „Die zukunftsfähige Berufsschule“. Der „Erhalt einer möglichst betriebsnahen Beschulung“ sowie Schritthalten mit „Veränderungen in der Arbeitswelt“ werden dort als Ziele genannt. Diesen Zielsetzungen stimmen wir gerne zu.
Neben der fachlichen Qualifizierung sind auch politische Bildung und Vermittlung von Sprachkenntnissen essentieller Bestandteil des Berufsschulunterrichtes. Digitaler Distanzunterricht war zur Zeit der Corona-Pandemie eine Notlösung, kann den persönlichen Kontakt mit und unter den Lernenden jedoch nicht ersetzen. Gerade die Erfahrungen aus dieser Zeit haben gezeigt, wie wichtig fachlich qualifizierter Unterricht und professionelle pädagogische Arbeit mit den Auszubildenden in den Berufsbildenden Schulen ist. Dies gilt insbesondere für Geflüchtete und für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Wohnort- und betriebsnahe Berufsschulstandorte werden deshalb auch zukünftig gebraucht und sollten erhalten werden.
Wir fordern die Hessische Landesregierung daher auf,
- einen transparenten Prozess unter Beteiligung des Hauptpersonalrates als höchstes Mitbestimmungsgremium der an Schule tätigen Lehrkräfte und sozialpädagogischen Fachkräfte sowie Auszubildenden zu führen. Denn nur mit unserer Expertise sind die Berufsschulen zukunftsfähig.
- anstelle starrer Regelungen, die die duale Ausbildung gefährden, weiterhin praktikable Regelungen an den Berufsbildenden Schulen zuzulassen, die betriebsnahen Berufsschulunterricht ermöglichen und
- ein Moratorium zu praktizieren, bis mit den oben genannten Beteiligten ein konsensfähiges Konzept erstellt wurde.
Wir fordern die Ampel-Koalition auf,
- bundesweit der Ankündigung im Koalitionsvertrag endlich Taten folgen zu lassen und eine mittels betrieblicher Umlagen finanzierte Ausbildungsgarantie einzuführen.
- den versprochenen Pakt für die Berufsbildenden Schulen endlich umzusetzen.
Fachkräftemangel, z.B. im Zusammenhang mit der erforderlichen ökologischen Transformation, sollte nicht nur beklagt, sondern durch qualifizierte Berufsbildung behoben werden.
Beschlossen von den Teilnehmer:innen der GEW-Fachtagung „Perspektiven der beruflichen Bildung in Hessen“ am 29. März 2023 in Frankfurt a.M.