Alte Probleme - neue Lösungen?

BÜA 2.0: Erfahrungen nach dem ersten Halbjahr

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Seit einem Schulhalbjahr läuft der Schulversuch BÜA im Berufsschulzentrum Wiesbaden und ein erstes Fazit könnte so lauten: Der Start war etwas holprig, die gewünschte Flughöhe ist wohl auch noch nicht erreicht, aber alle schlagen kräftig mit den Flügeln. Aber schauen wir uns das Ganze auf der Grundlage einzelner Beobachtungen etwas genauer an.

Holpriger Start

Schulübergreifende Kommunikation zwischen den Lehrkräften ist mangels einheitlicher oder nicht datenschutzkonformer IT-Systeme schwierig, zum Beispiel was Fehlzeiten angeht. So war es den Schülerinnen und Schülern überlassen, eine Karte mit ihrer Anwesenheit von Lehrkraft zu Lehrkraft mitzuführen. Dies hat keineswegs funktioniert, wie leider zu erwarten war. So ergab sich eine „Notkommunikation“ per Email, was einen stark erhöhten Arbeitsaufwand bedeutete.

Die Sozialpädagogischen Kräfte, die das Konzept von BÜA verbindlich vorsieht, konnten noch nicht gefunden werden, offensichtlich – so mein Wissensstand – sind die Stellen noch nicht einmal ausgeschrieben (!). Also müssen die Kolleginnen und Kollegen der Schulsozialarbeit einspringen und die Betreuung der BÜA-Klassen mit übernehmen – obwohl das ausdrücklich nicht zu ihren Aufgaben gehört.

Diese Beispiele zeigen ein leider sehr bekanntes Schema: Vor Beginn eines Schulversuchs gibt es Vorüberlegungen hinter den Kulissen, Konzepte und Zusagen, danach müssen alle Probleme bitte „vorübergehend“ durch „Behelfslösungen“ von den Akteurinnen und Akteuren vor Ort „aufgefangen werden“.

Erst wenn die Probleme offenkundig werden, beginnt eine zaghafte Bottom-up-Kommunikation: Die beteiligten Kolleginnen und Kollegen weisen auf oft altbekannte Lösungen hin und sitzen – wesentlich länger als geplant – in Konferenzen, um neue Lösungsansätze gemeinschaftlich zu besprechen, zu sammeln und zusammenzufassen. Dies alles sind in großem Maße absehbare Herausforderungen, denen sich bei adäquater Vorbereitung alle Kolleginnen und Kollegen stellen. Ermüdend sind jedoch vermeidbare Zwischenlösungen.

Noten oder Kompetenzen?

Parallel dazu kündigen sich weitere Schwierigkeiten an. So ist beispielsweise die konkrete Umsetzung der Abschlussprüfungen (Projektprüfungen) nach Abschluss des ersten (halbjährigen) Fachunterrichts keineswegs klar. „Es liegen noch keine Informationen vor“, heißt es dazu.

Eine Beurteilung der Schülerinnen und Schüler wird mittels eines einheitlichen Kompetenzrasters für jeden Fachbereich bzw. Fachunterricht vorgenommen. Das ist eine echte Neuerung und sehr zu begrüßen. Der Umgang mit diesem Kompetenzraster brachte jedoch viele Fragen mit sich, die nicht immer sofort beantwortet werden konnten. Den eigenen Unterricht zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen für kompetenzdiagnostisches Vorgehen zu organisieren, stellt eine große Herausforderung dar, auf die kaum jemand vorbereitet war oder wurde. Absurd wird es jedoch, wenn die für die Beurteilung eingereichten Kompetenzniveaus mittels „Zeugnistool“ wohl doch wieder in Noten umgerechnet werden…

Da haben uns die Schülerinnen und Schüler etwas voraus. Sie haben schon lange verstanden, dass es in der Schule um Noten geht. Eine transparentere Beurteilung der eigenen Fähigkeiten mittels Kompetenzraster interessiert sie kaum, denn sie wissen, dass die Betriebe nach „guten Noten“ fragen, wenn sie die Ausbildungsstellen vergeben.

Für viele Betriebe spielen Noten dann keine Rolle mehr, wenn sie die Chance haben, die Jugendlichen bei der Arbeit im Betrieb zu erleben und sich selbst „ein Bild“ zu machen. Genauso wichtig ist es, den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, das Feedback aus den Betrieben annehmen und dann auch umsetzen zu können. Ist dieser Prozess möglich, verlieren Noten sofort an Bedeutung, wenn es darum geht, eine Lehrstelle zu bekommen.

Die intendierte berufliche Orientierung entpuppt sich, so wie im ersten Schulversuch zu BÜA, als eine große Herausforderung. Schülerinnen und Schüler können oder dürfen für sie attraktive Tätigkeiten im jeweiligen Berufsfeld oft nicht ausführen. Schnell laufende Maschinen in der Werkstatt oder gefährliche Chemikalien im Labor sind tabu. Allzu komplexe Tätigkeiten müssen durch didaktische Reduktion zugänglich oder überhaupt erst möglich gemacht werden.

So müssen die Lehrkräfte kreativ werden, um einen Praxisunterricht zu liefern, der einen realen Eindruck vom Berufsfeld vermittelt. Das ist keineswegs einfach, wie das „BÜA-Kreativprojekt“ der Kollegen der Oskar-von-Miller-Schule in Kassel zur Herstellung eines CNC-Stiftplotters in der BÜA-Stufe II im Berufsfeld Metall- und Elektrotechnik zeigt (HLZ 4/2022, S. 15).

Berufsfeld Chemie

Zu den Herausforderungen im Berufsfeld Chemie gehört es, oftmals unsichtbare Prozesse zugänglich zu machen. Die zahllosen Internetvideos, die chemische Reaktionen zeigen, haben das Bild verzerrt, was Chemie ist. Oft schaue ich in enttäuschte Gesichter, wenn ich den Schülerinnen und Schüler erklären muss, dass es genau diese Explosionen sind, die man in der beruflichen Praxis verhindern muss. Dennoch kann Chemieunterricht natürlich Spaß machen, muss er sogar. Die Faszination kommt mit dem Verständnis für Prozesse, die für Außenstehende vielleicht unscheinbar wirken, bei der richtigen Betrachtung aber dennoch für Erstaunen und ein Lächeln sorgen können und gleichzeitig die berufliche Praxis einschließen.

Um diesen Ansprüchen annähernd gerecht zu werden, wird an der Kerschensteinerschule Wiesbaden für den Fachunterricht Chemie ein Messcomputer eingesetzt, dessen Sensoren vielfältige Messwerte von der Leitfähigkeit und den pH-Wert über Temperatur und Druck bis zur CO2-Konzentration liefern, die dann live auf eine Internetplattform zur weiteren Auswertung übertragen werden können (https://labpi.de). Die an der Universität Jena entwickelte Messstation besteht aus einem preisgünstigen Minicomputer und senkt die Kosten im Vergleich zu üblichen Messgeräten, nicht nur durch seine Vielseitigkeit, sondern auch über den niedrigen Preis. Die Bedienung ist im Vergleich zu anderen Laborgeräten vereinfacht, da das Gerät die Messdaten sowohl erfasst als auch auswertet.

Mithilfe des Labpi und herkömmlicher Analyseverfahren können die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Themas „Wasser“ mitgebrachte Wasserproben untersuchen. So können auch ökologische Aspekte in der chemischen Industrie im Unterricht thematisiert werden.

Weil die Schülerinnen und Schüler der BÜA-Klassen oft nicht das Durchhaltevermögen haben und in der Chemie viele Prozesse nicht sichtbar, sondern lediglich messbar ablaufen, ist die schnelle Visualisierung von Ergebnissen wichtig. Deshalb arbeiten wir auch mit iPads, mit denen man auf einfache Weise Stop-Motion-Filme erstellen kann, die eine Wiederholung der Versuchsbeobachtungen ermöglichen. Bei schnellen chemischen Prozessen kann man auf die Zeitlupenaufnahme zurückgreifen, langsame Prozesse können im Film beschleunigt gezeigt werden. Wie wichtig diese Visualisierung für Schülerinnen und Schüler ist, gerade wenn diese dem Medium Text eher abgeneigt gegenüberstehen, habe ich an anderer Stelle dargelegt (1).

Vermittlung in Ausbildung

Ein zentrales Ziel von BÜA ist es, die Schülerinnen und Schüler in Ausbildung zu vermitteln. Das kann nur gelingen, wenn es gute Kontakte zu Praktikumsbetrieben gibt und die Jugendlichen dort gut betreut werden. Die Praktikumsbetriebe wiederum brauchen Praktikantinnen und Praktikanten, die ernsthaft am Praktikum und einer Ausbildung interessiert sind. Doch das ist nur begrenzt der Fall.

Hier ist die Schule gefragt, in Zusammenarbeit mit den Betrieben dafür zu sorgen, dass jeder Schüler und jede Schülerin eine Chance bekommt, Betriebe aber nicht mit Jugendlichen belastet werden, die gar nicht motiviert sind. Das ist eine Achillesferse des Konzepts, wenn Betriebe aufgrund „schlechter Erfahrungen“ aus der Kooperation aussteigen.

Für die Kooperation mit den Praktikumsbetrieben steht pro Schule eine einzige Deputatsstunde zur Verfügung. Offensichtlich ist es von verantwortlicher Seite kaum intendiert, dass die Schulen eine aktive Beziehung zu den Betrieben aufbauen können. Die bisherigen Vermittlungszahlen in Langzeitpraktika oder gar eine Ausbildung lassen auch deshalb zu wünschen übrig. Hier gibt es weit erfolgreichere Beispiele auch aus dem außerschulischen Sektor. Warum nicht von diesen lernen?

Es tut sich was!

Trotzdem: Es tut sich was! Die Kompetenzraster werden gerade auf der Grundlage der Anregungen der Lehrkräfte und mit wissenschaftlicher Begleitung der TU Darmstadt überarbeitet. Eine Befragung der Kolleginnen und Kollegen ist gerade abgeschlossen worden. Es ist gelungen, die Fehlzeiten digital zu erfassen und so eine Kommunikation schulübergreifend zu etablieren. Und auch die vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen im Fachunterricht und in den Profilgruppen werden immer sicherer und erfolgreicher bei der Umsetzung und Gestaltung ihrer Aufgaben. Es bleibt also zu hoffen, dass eine Feedback-Kultur und eine Bottom-up-Kommunikation dazu genutzt werden, BÜA mit Hilfe der Erfahrungen der unterrichtenden Lehrkräfte vom Modellversuch zum Erfolgsmodell werden zu lassen.

Dan Löwenbein


(1) Dan Löwenbein: Bilder im Unterricht. Mit ihnen lehren und lernen. Apple Books 2014.