Vom Wert der Fachlichkeit

Fachdidaktik an Universitäten und GHRF-Studienseminaren

HLZ 3/2020: Welche Ausbildung brauchen Lehrkräfte?

Im Fachmodul Musik lerne ich die von mir betreuten Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) gerne auch musikalisch kennen, häufig mit einem Quiz zur Musikgeschichte und Musiktheorie. Bei diesem „pädagogischen Doppeldecker“ lernen wir einiges übereinander. Gleichzeitig erproben wir auch Formen möglicher Diagnostik im Musikunterricht. Im Anschluss sind wir alle dann irgendwie unzufrieden, denn Wissenslücken in unterrichtsrelevanten Bereichen werden uns schmerzlich bewusst, beispielsweise beim Erkennen von Epochen und/oder bei musiktheoretischen Begriffen. Aber vielleicht ist es gerade die Funktion der Diagnostik, dass sie Vermutungen objektiv macht. Also machen wir uns auf die Suche nach den Ursachen. Auf meine Frage, wie tief sich die Referendarinnen und Referendare in ihrem Studium mit solchen Inhalten beschäftigt haben, erklärten mir die Kolleginnen und Kollegen mit dem ersten Staatsexamen für das Lehramt an Grundschulen, dass sie diesbezüglich nur eine einzige Veranstaltung besuchen mussten, im HR-Lehramt waren es dagegen immerhin drei.

Defizite an den Hochschulen …

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Anspruch vielleicht zu hoch ist. Natürlich steht in der Grundschule das konkrete Musizieren mit Kindern im Vordergrund, müssen Unterrichtende mit ihren Lernenden tanzen, singen und musizieren. Aber sie müssen sie auch an das Hören klassischer und aktueller Musik heranführen können, selbst die Musik analysieren und verstehen können, die umgesetzt wird, Sätze für ihre Klassen bedarfsgenau arrangieren und musikalische Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler einschätzen. Hierfür braucht es enormes fachliches und fachdidaktisches Wissen und Kompetenz. Wo erwirbt eine Lehrkraft diese Kompetenz? Das Grundschulstudium beinhaltet neben den verpflichtenden Fächern Deutsch und Mathematik in Hessen ein drittes Fach, das in einer Gesamtstudienzeit von 32 Creditpoints fachliche, fachpraktische und fachdidaktische Inhalte vermitteln soll. Das entspricht ungefähr der Arbeitszeit eines Semesters. Fakt ist, dass alle drei Fächer mit ihren 32 Creditpoints je Fach aufgrund der kurzen Studiendauer nur sehr oberflächlich und rudimentär studiert werden können, und das nicht, weil die Studierenden dies so wollen, sondern weil die Studienordnung nicht mehr ermöglicht. Hessen hat im Fach Musik den geringsten Umfang in der fachlichen Ausbildung und die kürzeste Studiendauer bundesweit. Die Anzahl der Lehramtsstudierenden mit dem Fach Musik ist ohnehin aufgrund der verbindlichen Aufnahmeprüfung und den zu erwartenden späteren Arbeitsbedingungen in den Grundschulen stark rückläufig. Ist es wirklich verlockend, auf Grund des Fachkräftemangels dann in mehreren Klassen mit jeweils einer Unterrichtswochenstunde eingesetzt zu werden, zumeist ohne Fachräume und bei sinkendem Ansehen des Faches?

Im Haupt-, Real- und Förderschullehramt sieht es nicht wesentlich besser aus. Hier haben Studierende nur zwei Fächer bzw. ein Fach und eine Fachrichtung, was die tiefere Einarbeitung in die Schwerpunkte des Faches ermöglicht. Aber auch hier ist festzustellen, dass teilweise Grundlagen fehlen. Nun sind die Hochschulen durchaus engagiert, im Rahmen ihrer Vorgaben und der Verteilung von Mitteln hier für eine gute Ausbildung zu sorgen, aber die Rahmenbedingungen ermöglichen nicht mehr. Auch hier fehlen an vielen Schulen Lehrkräfte. Man studiert dann lieber Gymnasiallehramt, weil die Stundentafel das Fach Musik im HR-Bereich nur ein um das andere Jahr epochal vorsieht und der Unterricht in den besonders heterogenen Lerngruppen anstrengend ist.

…und in den Studienseminaren

Auch in der zweiten Phase der Ausbildung sieht es im GHRF-Bereich nicht besser aus. Verbindlich vorgesehen ist im ersten und zweiten Hauptsemester jeweils ein Modul mit vier Terminen, die sich auf Anwesenheitszeiten von 20 Stunden beziehen, also über die gesamte Dauer des Vorbereitungsdienstes der Arbeitszeit einer Woche entsprechen. In dieser Zeit sollen grundlegende fachliche und fachdidaktische Inputs und Auseinandersetzungen erfolgen, zusätzlich sollen an diesen vier Vormittagen pro Semester Querschnittsaufgaben wie inklusive Beschulung im Fach, Berufsorientierung, sprachsensibler Fachunterricht, Mediendidaktik und ähnliches integriert werden. Die Fachdidaktik als eierlegende Wollmilchsau! Allgemeinpädagogische Module wie das Diagnostizieren, Fördern und Beurteilen werden überfachlich ausgebildet und im Grundschulbereich oft auf die Fächer Deutsch und Mathematik begrenzt. Dabei ist die Diagnostik von stimmlichen oder rhythmischen Kompetenzen oder der Hörkompetenz im Fach Musik wichtig für einen Unterricht, der Lernprozesse in Gang bringen soll. Auch andere lehramtsspezifische Module würden durch einen Fachbezug enorm gewinnen.
Diesem vergleichsweise geringen Anteil des Faches an der gesamten Ausbildung steht diametral entgegen, dass am Ende dieser Ausbildung zwei der vier Mitglieder der Prüfungskommission Fachdidaktiker oder Fachdidaktikerinnen sind. Diese sind oft erstaunt, dass in der schriftlichen Vorbereitung zwar viel über Methoden und Medien zu lesen ist, wenig jedoch über die Auswahl und didaktische Begründung des Unterrichtsgegenstandes und die Einbettung in eine Einheit. Wenn Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst in Prüfungen scheitern, liegt es oft nicht daran, dass sie nicht mit Kindern und Jugendlichen angemessen umgehen, sondern dass sie nicht in der Lage sind, Lernprozesse in Gang zu bringen, weil ihnen elementare fachdidaktische Kenntnisse fehlen.

Die Crux der aktuellen Situation wird an folgender Erfahrung deutlich: Als Prüferin erlebte ich den Fall, dass eine Stunde nicht als ausreichend bewertet werden konnte. Der betroffene Schulleiter warf daraufhin ein: „Wenn Sie die Kandidatin durchfallen lassen, habe ich im nächsten Jahr keine Fachkraft für Musik mehr.“ Auf die Frage, ob er denn meine, es habe in der gesehenen Stunde ein Lernen stattgefunden, verneinte er dies. Das sei aber auch nicht so wichtig. Wirklich? Sollen unsere Kinder in Schulen gehen, in denen sie freundlich betreut werden, ohne dass ein inhaltlicher Anspruch auf Lernen existiert? Oder gilt das nur für Musik? Oder ist es ganz anders: Weil es im Grundschulbereich so viele unbesetzte Stellen gibt, ist es eigentlich inhaltlich egal, was im Unterricht passiert. Hauptsache, er wird abgedeckt?

Auch bei Prüfungen in anderen Fächern zeigt sich, dass das Scheitern oft in der Fachdidaktik seinen Anfang nimmt. Um angemessene didaktische Entscheidungen treffen zu können, braucht man fachliche Kompetenzen, die auch vermittelt werden müssen und für die es in Studium und Vorbereitungsdienst eine Zeit geben muss, um diese zu erwerben.

Um hier keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst sind engagiert, willig, innovativ und sehr lernbereit, aber das System der Lehrkräfteausbildung in Hessen sorgt strukturell nicht für eine gute fachliche und fachdidaktische Ausbildung im Sinne eines gelingenden fachlichen Lernens! Wir brauchen längere Studienzeiten, mehr fachdidaktische Ausbildung und mehr Möglichkeiten der individuellen und neigungsbezogenen Schwerpunktsetzung in der ersten und zweiten Phase der hessischen Lehrerbildung!

Musikunterricht: Ein Beispiel

Ich habe die aktuelle Situation am Fach Musik verdeutlicht, doch sind die Probleme auch auf andere Fächer übertragbar. Im Fach Musik sind sie allerdings besonders evident, weshalb der fachfremde Einsatz hier besonders unbeliebt ist. Lehrkräfte mit anderen Fächern kennen die hohen Anforderungen, nicht nur in Bezug auf die praktische Beherrschung eines oder mehrerer Instrumente. Gleichzeitig kommt es aber auch immer mal wieder vor, dass fertig ausgebildete, fachdidaktisch sehr gute Lehrkräfte nach „mit Auszeichnung“ bestandenem Examen keinen Musikunterricht erteilen, sondern stattdessen fachfremd Sachunterricht, weil Musik ja auch von der Musikschule übernommen werden kann. Verkehrte Welt in Hessen: Es ist Zeit, diese wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen…

Christina Nickel
Christina Nickel ist Ausbilderin unter anderem für das Fach Musik am Studienseminar Wiesbaden und leitet gemeinsam mit Andrea Gergen das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand.