„Winter. Ein Freund will sich kurz meine Handschuhe ausleihen. Lehrer: Nein, die braucht sie selbst, hier ist’s kälter als in Afrika.“(1)
Ist das Rassismus? Der Lehrer meint es in dieser Situation scheinbar doch nur gut. Er möchte nicht, dass seine Schülerin friert, könnte man meinen. Unbewusst, das soll hier einmal unterstellt werden, unterscheidet er zwischen der Schülerin und dem Schüler: Die Schülerin, so seine Vermutung, empfindet die Kälte aufgrund ihrer Herkunftsgeschichte schlimmer als der Schüler. Aber ist das schon Rassismus? Muss man mit diesem Begriff nicht ganz vorsichtig umgehen? Beschädigt man mit einer solchen Diagnose nicht die Person des Lehrers? Macht man sich möglicherweise auch selbst angreifbar, wenn man diesen Ausspruch rassistisch nennt?
Die Schülerin Niddal teilte diese Erfahrung auf dem Twitter-Hashtag #SchauHin mit, der im Herbst 2013 eine große mediale Debatte über Rassismus in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft auslöste. Den Hashtag initiierte die Journalistin Kübra Gümü¸say. Innerhalb weniger Tage berichteten dort mehrere Tausend Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer über ihre alltäglichen Rassismuserfahrungen. Unterschiedliche Medien griffen das Thema auf, denn die große Menge der geposteten Tweets machte deutlich, dass es sich dabei nicht um Einzelerfahrungen oder persönliche Befindlichkeiten handelt. Vielmehr offenbart sich hier ein strukturelles gesellschaftliches Problem.
Es ist nicht leicht, über Rassismus zu sprechen
Auch wenn der Hashtag eine große mediale Resonanz hervorrief, so fällt es in der Öffentlichkeit dennoch schwer, von Rassismus zu sprechen, geschweige denn Rassismus als zuschreibende Kategorie zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zu gebrauchen. Rassismus wird allenfalls als Einzelfall wahrgenommen, wie jüngst nach den rassistischen Bemerkungen des AfD-Vizevorsitzenden Alexander Gauland gegenüber Jerome Boateng zu beobachten war, oder im Zusammenhang mit rechtsextremen Gruppen als Ausnahmeerscheinung betrachtet. Der Rassismusbegriff wird in Deutschland (und auch in Österreich) immer noch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Ihn als dauerhaft präsentes Problem zu begreifen, widerspräche denn auch dem nahezu unhinterfragten bundesdeutschen Selbstverständnis, wonach die Überwindung von Faschismus und Antisemitismus sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit den Weg zur Demokratie und ihrer Festigung überhaupt erst geebnet hätten. Deshalb tut man sich schwer, bereits bei abwertenden Sprechakten, struktureller Diskriminierung oder alltäglicher Ausgrenzung und selbst bei offener Gewalt von Rassismus zu sprechen, gilt dieser doch als historisch überwunden. „Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit“ waren daher lange Zeit die gängigen Bezeichnungen, ohne dass diese kritisch hinterfragt wurden. Auch befürchtet man die Banalisierung der nationalsozialistischen Verbrechen, wenn man alltäglich vorkommende Diskriminierung als rassistisch bezeichnet.
Was ist Rassismus?
Rassismus gab es schon lange vor dem Nationalsozialismus; er war seit dem Kolonialismus als Vorstellung von der vermeintlichen Ungleichwertigkeit der kolonisierten Bevölkerung tief im europäischen Denken verhaftet. Das Europa des 18. Jahrhunderts war die Wiege des Rassismus.
Der Einfachheit halber soll hier auf eine Definition von Philomena Essed (1992, S. 375) zurückgegriffen werden. Danach ist Alltagsrassismus
„eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ‚Rassen‘ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.“
Danach ist Rassismus keine individuelle Einstellung, vielmehr legt der Begriff des Alltagsrassismus offen, dass es vielfältige Formen und Handlungen gibt, die durchaus auch in Institutionen und Diskursen beinhaltet sind. Rassismus bringt Macht- und Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck. Er wird durch die Konzeption der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit konstruiert. Der „moderne“ Rassismus ist allerdings ein „Rassismus ohne Rassen“, denn als Merkmale werden vor allem kulturelle und religiöse Zuschreibungen gebraucht, um „uns“ von „den Anderen“ zu unterscheiden. Die Unterschiede werden als natürlich gegeben dargestellt. Durch diese Konstruktion werden „uns“ Privilegien zugesichert, von denen „die Anderen“ ausgeschlossen werden.
Rassismus nach Lehrplan
Rassistisches Wissen wird gesellschaftlich reproduziert und formell wie auch informell auf unterschiedlichen Kanälen transportiert. Auch in Bildungsprozessen wird in alltäglichen Abläufen Rassismus reproduziert und es finden – zumeist nicht intendiert – rassistische Diskriminierung und Zuschreibungsprozesse statt. Die Schule ist neben dem Elternhaus sowie der Peer-Group die zentrale Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche und so verbreitet und reproduziert auch sie rassistisches Wissen: durch Unterrichtsthemen, aber auch durch Schulbücher und andere Unterrichtsmaterialien. Denn auch diese vermitteln als Teil des gesellschaftlichen Diskurses rassistische Klischees, wie die jüngst veröffentliche „Schulbuchstudie Migration und Integration“ (2015) deutlichen machen konnte. Lehrerinnen und Lehrer sind sich ihrer eigenen Nähe zu rassistischen Vorstellungen und Handlungen in der Regel nicht bewusst. Sie benötigen deshalb Wissen über Rassismus und Räume, die eigene Praxis zu reflektieren.
Das Konzept der Rassismuskritik setzt hier an und bietet eine Folie, sich der eigenen Sozialisation bewusst zu werden, das Involviertsein in rassistische Denkmuster zu thematisieren und das professionelle Handeln kritisch zu hinterfragen:
„Rassismuskritik heißt: zum Thema machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch Rassismen vermittelt sind und Rassismen stärken. Rassismuskritik zielt darauf ab, auf Rassekonstruktionen beruhende beeinträchtigende, disziplinierende und gewaltvolle Unterscheidungen zu untersuchen, zu schwächen und alternative Unterscheidungen deutlich zu machen.“ (Mecheril/Melter 2010, S.172)
Perspektiven für die Ausbildung von Lehrkräften
Lehrerinnen und Lehrer benötigen rassismuskritisches Professionswissen. Um dieses aufzubauen, müssen sie zunächst einmal ihr eigenes rassistisches Wissen „verlernen“, sich Wissen über die Entstehungsgeschichte des Rassismus aneignen und den wissenschaftlichen Diskurs über Rassismus rezipieren. Denn rassismustheoretisches Wissen ermöglicht es, Unterscheidungen von Menschen zu erkennen, die an Rassekonstruktionen anschließen. Vor allem sollten Lehrerinnen und Lehrer aber lernen, den Blick auf sich selbst und auf die Institution Schule zu richten wie auch sich selbst als permanent Lernende zu begreifen. Wer als Lehrerin oder Lehrer nicht in der Lage ist, die eigenen Positionen stets aktiv zu reflektieren und auch zu verändern, der läuft trotz bester Absichten Gefahr, zu diskriminieren und rassistisches Wissen zu reproduzieren.
Deshalb ist es notwendig, dass Rassismuskritik ein basaler Bestandteil der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern wird, und zwar in allen drei Phasen. Die bislang gültigen „Standards für die Lehrerbildung - Bildungswissenschaften“ der Kultusministerkonferenz in der Fassung von 2014 greifen zu kurz, wenn sie festlegen, dass die Absolventinnen und Absolventen eines Lehramtsstudiums „interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ kennen bzw. „die soziale und kulturelle Diversität in der jeweiligen Lerngruppe“ beachten. „Interkulturelle Kompetenz“ wird in einer weiteren KMK-Empfehlung zur „Interkulturellen Bildung und Erziehung“ (2013) verkürzt als „Kernkompetenz“ für professionelles Lehrerhandeln in der „global vernetzten Gesellschaft“ festgeschrieben.
Rassismuskritisch werden der Begriff der „Interkulturalität“ und die „Interkulturelle Kompetenz“ allerdings deshalb als problematisch angesehen, weil damit „die Anderen“ – im schulischen Kontext in der Regel die Schülerinnen und Schüler mit „Migrationshintergrund“ – im Fokus stehen. Man geht hier allein von der Annahme aus, dass spezifisches „interkulturelles“ Wissen notwendig sei, um in heterogenen Lerngruppen professionell pädagogisch handeln zu können. Die Selbstreflexivität hinsichtlich der eigenen Werte und Normen sowie die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und ungleichen Ressourcenverteilungen werden jedoch damit nicht in den Blick genommen: Die „Kultur“ dient als alleiniges Analysekriterium.
Gerade weil die kritische Reflexivität eine Kernkompetenz pädagogischen Handelns ist, müssen angehende Lehrerinnen und Lehrer darin gestärkt werden, diese zu entwickeln. Erst dann ist es ihnen möglich, Denkmuster und Verhaltensweisen zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Deshalb muss der Ansatz der Rassismuskritik im Lehrerbildungsgesetz festgeschrieben und in entsprechenden Lehr-, Aus- und Fortbildungsveranstaltungen curricular verankert werden. Nur so wird den Prinzipien von Gleichheit und Gleichbehandlung aller Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen; dann können auch die Rassismuserfahrungen von Schülerinnen und Schülern ernst genommen werden:
„D-Lehrerin mal zu mir: ‚Du wirst immer Probleme mit der deutschen Sprache haben.‘ Heute liest sie meine Artikel in ihrer Zeitung.“ (2)
Auch Erfahrungen wie diese können dann im Unterricht rassismussensibel bearbeitet werden.
Martina Tschirner ist Akademische Oberrätin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt.
(1) #SchauHin – Niddal Salah-Eldin(@Nisalahe), September 6, 2013
(2) #SchauHin – Emran Feroz (@Emran_Feroz) September 6, 2013