Pandemien und Katastrophen

Die Klassiker antisemitischer Verschwörungsmythen

HLZ 11/2022: Lehrkräftebildung

Wie die Finanzkrise ein Movens für eine Spielart antisemitischen Verschwörungsdenkens war, basierend auf den klassischen antisemitischen Zuschreibungen, die Juden mit Geld und Reichtum in Verbindung bringen und ihnen unterstellen, ihren Einfluss für finstere, geheime Machenschaften zu nutzen, so bieten auch Epidemien und Pandemien vielen Menschen Anlass, problemlos an bestimmte Facetten antisemitischen Verschwörungsdenkens anzuknüpfen. Im Mittelalter forderten die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung unzählige Opfer, weil ihnen im 14. Jahrhundert unterstellt wurde, sie hätten die Brunnen vergiftet und damit die Pest ausgelöst. Am Ende waren einige der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Frankreich und Deutschland ausgelöscht. In jüngster Zeit waren Ausbrüche von Ebola, Vogel- und Schweinegrippe von antisemitischen Attribuierungen begleitet, und aktuell finden sich solche Hirngespinste im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie massenweise in den sozialen Medien, aber auch auf Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen. In diesen Narrativen sind Juden die Strippenzieher, die dafür sorgen, dass die Mehrheitsbevölkerung sich wie Marionetten nach ihren Vorgaben bewegt.


Die Covid-19-Pandemie gehört wie Epidemien und Naturkatastrophen im Allgemeinen zu jenen Ereignissen, die komplexe Ursachen haben und nicht einfach zu erklären sind. Heute dient nahezu jedes schwer fassbare Ereignis als Trigger für die Bildung von Mythen und Gerüchten, aus denen sich rasch - zumal in der Welt der ungehinderten Datenflut des Internets – Verschwörungsfantasien entwickeln können, die nicht immer, aber doch häufig einen antisemitischen Hintergrund aufweisen, weil sie an eine mehr als 100 Jahre alte Erzählung anknüpfen können: die „Protokolle der Weisen von Zion“. Dieses antisemitische Machwerk vom Beginn des 20. Jahrhunderts dient bis heute als Vorlage für „das Gerücht“ über Juden. Es ist im Internet in allen politischen und gesellschaftlichen Spektren zu finden, bei Rechts- und Linksextremisten, bei Islamisten, aber ebenso bei Ufologen und Esoterikern. Heute werden solche Inhalte ungefiltert über Mikroblogging-Dienste wie Gab, Imageboards, 4chan und 8chan, über Messenger-Dienste wie insbesondere Telegram, über Gaming-Plattformen oder Videoportale wie das chinesische TikTok sowie konventionelle soziale Medien in Umlauf gebracht.


Angeheizt durch solche weitverbreiteten Gedankengespinste ist es nicht verwunderlich, wenn Hinweise auf dieses antisemitische Pamphlet bei Querdenker-Demonstrationen auftauchen: „FCK Zion - Lies die Protokolle“ prangte auf einem T-Shirt. Im Internet hat der „Happy Merchant“ Hochkonjunktur, die widerlich verzerrte Fratze eines karikierten Menschen, der nach „Stürmer“-Manier mit antisemitisch konnotierter großer Hakennase als „Jude“ gekennzeichnet ist und als Code für antisemitische Zuschreibungen dient. Der „glückliche Händler“ reibt sich die Hände angesichts der Verheißungen, die die Covid-19-Pandemie für ihn angeblich bereithält. Es wird unterstellt, „Juden“ hätten die Pandemie ausgelöst, um entweder aus dem Impfstoff beziehungsweise aus dem ihr folgenden Kollaps der Wirtschaft Profit zu schlagen, oder gar suggeriert, sie wollten die Menschen mit einem Coronavakzin impfen, um sie auszurotten. In die Bildsprache einer antisemitischen Karikatur umgesetzt, hält eine im Internet kursierende Version des „Happy Merchant“ eine Spritze in der Hand und im Vordergrund fordert ein gelbes Schild im Stil der australischen Känguru-Warnschilder auf: „Get Your Corona Virus Shot“. Eine andere Variante der antisemitischen Covid-19-Gerüchte behauptet, Israel habe das Virus in einem Biowaffenlabor fabriziert, um es als Kampfmittel einzusetzen. Der Kanon solcher Verschwörungsnarrative rekurriert auf das jahrhundertealte Stereotyp der Juden als Brunnenvergifter, das regelmäßig im Zusammenhang mit Epidemien grassiert. Es ist ein willkommenes, von Generation zu Generation tradiertes Stereotyp, das scheinbar leicht zu reaktivieren ist.


Auf „Hygienedemonstrationen“, die in Deutschland Tausende auf die Straße treiben, die gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 protestieren, sind aber auch immer wieder Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu beobachten, die sich den gelben „Judenstern“ angeheftet haben, um sich als vom Staat Verfolgte zu stilisieren. Die nationalsozialistische Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung war eine einschneidende Maßnahme auf dem Weg zum Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden. Wie stark solche Reminiszenzen an die NS-Rassenpolitik beabsichtigt sind, ist nur allzu offensichtlich: das „J“ der NS-Stigmatisierung ist durch „Ungeimpft“ in hebräisierter, geschwungener Schrift ersetzt. Das Emblem wird nicht nur als Stoffaufnäher vertrieben, sondern kann im Internet auch als Autoaufkleber erworben werden. Damit trivialisieren und relativieren die Protestierer den Holocaust und scheinen sich der Dimension dieses staatlich initiierten Massenmords nicht im Geringsten bewusst zu sein.


Der ständige Rückgriff auf die NS-Terminologie soll Aufmerksamkeit erzeugen, zeigt aber auch, wie tief verwurzelt ein solches antisemitisches Vokabular noch immer ist. Zudem sind Slogans wie „Impfen macht frei“, die die KZ-Inschriften ad absurdum führen, auf Schildern und Transparenten bei den Demonstrationen zu identifizieren. Karikaturen - im Netz überall zu finden - zeigen etwa das Eingangstor eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers, das von zwei Wachleuten rechts und links flankiert wird, die jeder eine Spritze als Waffe im Arm halten. Untertitelt ist die Grafik mit „Die Pointe des Coronawitzes“ und auf der Webseite des Cartoonisten stößt man auf folgenden Satz: „Karikatur vom 17. April 2020: Impfen macht frei: Wer die befohlene Impfung verweigert, bekommt im Lager Gelegenheit, über diese Verbohrtheit konzentriert nachzudenken.“


Vegankoch Attila Hildmann, der inzwischen vor deutscher Strafverfolgung in die Türkei geflohen und zu einer Ikone der Querdenker und der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie geworden ist, veröffentlichte auf seinem Telegram-Kanal am 21. April 2021 eine Karikatur, die den Eingang zum Stammlager Auschwitz zeigt und statt der Originalaufschrift „Arbeit macht frei“ am Portal im Stil des Jurassic-Park-Emblems die Lettern „Judaic Park“ aufweist. Untertitelt ist Hildmanns weitergeleitetes Bild wie folgt: „Holocaust-Märchen! Der Jude ist ein Weltparasit“. (...)