Klimaschutz und Lehrkräftebildung

BNE als Querschnittsthema verankern

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Nimmt man Jugendliche und junge Erwachsene als Zielgruppe und eigentliche Nutznießer der Lehrkräftebildung in den Blick, sollte Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) auch in der Gesetzgebung ihren Niederschlag finden. Unübersehbar haben Jugendliche hinsichtlich Klimaschutz und Nachhaltigkeit inzwischen ein deutliches Problembewusstsein. Fridays for Future, die Protestbewegung, die 2018 mit dem globalen Klimastreikaufruf von Greta Thunberg ihren Anfang nahm, ist in Deutschland besonders aktiv. Aktuelle Studien zeigen, das die Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen dort mit 51,5 Prozent am stärksten vertreten ist. 90 Prozent der Befragten bezeichnen Klimaschutz als eines der „wichtigsten Probleme, denen sich unser Land gegenübersieht“, und fast alle (96 %) finden, dass jede und jeder Einzelne Verantwortung für den Klimaschutz übernehmen muss (1). Jugendliche wollen der Politik Druck machen, klimapolitische Versprechen endlich einzulösen!

Handeln statt Reden!

Das Interesse junger Leute am Klimaschutz schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. 23 % der deutschen Erstwähler:innen zwischen 18 und 23 Jahren haben bei der Bundestagswahl 2021 die Grünen gewählt, die im Wahlkampf das Thema Klimaschutz zum Hauptthema gemacht haben. Es ist allerdings bezeichnend, dass ebenso viele die FDP wählten, die sich für das Thema Digitalisierung stark machte. „Handeln statt Reden“ steht aktuellen Umfragen zufolge an erster Stelle der Forderungen der Jugendlichen an die Politik, es folgen die Forderungen nach Gesetzen für Nachhaltigkeit und mehr Anreizen für nachhaltiges Verhalten. Wenn sie selbst politische Entscheidungen für den Klimaschutz treffen könnten, würden sie den öffentlichen Nahverkehr attraktiver gestalten, Plastik reduzieren, die Recyclingfähigkeit von Verpackungen zur Pflicht machen, erneuerbare Energien und klimafreundliche Investitionen in die Industrie fördern, durch gesetzliche Auflagen gegen die Missachtung von Klimavorgaben vorgehen und vor allem Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schule und Unterricht stärken. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Fridays for Future inzwischen auch zu Friedensdemonstrationen aufruft: Das Diskussionsbedürfnis der Jugendlichen geht also über das Thema Klimaschutz hinaus.

Politische Vorarbeit hat dafür gesorgt, dass BNE in jüngster Zeit ins Bewusstsein der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerückt ist. Schon 2016 haben die Vereinten Nationen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die sogenannte Agenda 2030, mit einer Laufzeit von 15 Jahren verabschiedet, darunter als Ziel 13 auch Maßnahmen für den Klimaschutz (HLZ S. 14 f.). Unter Bildung für nachhaltige Entwicklung wird in diesem Zusammenhang die Befähigung der Individuen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln verstanden. Sie soll es allen Menschen ermöglichen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Ziel 13 der UN-Ziele schlägt sich auf Bundes- und Länderebene in Nachhaltigkeitsstrategien und in der Gesetzgebung nieder, z. B. in der Änderung des bundesdeutschen Klimaschutzgesetzes.

BNE: Beispiele guter Praxis

Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat 2016 gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den fächerübergreifenden Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung veröffentlicht (Download: bit.ly/3K4mwmg). Kapitel 6 thematisiert die Verankerung des  Lernbereichs Globale Entwicklung in der Lehrkräftebildung und die Implementierung des Themas Nachhaltigkeit als interdisziplinäres Lehrangebot im Lehramtsstudium. Als Beispiele guter Praxis wurden 2016 das fächerübergreifende Leuphana-Semester der Universität Lüneburg, die Studierendeninitiative „Greening the University“ der  Universität Tübingen und der ebenfalls von Studierenden initiierte „Konsumkritische Stadtrundgang“ der Universität Kassel genannt.

Auch die Hessische Lehrkräfteakademie propagiert BNE als Aufgabe der Schule und der Lehrkräftebildung, nimmt die Empfehlungen der KMK zur Implementierung von BNE bisher aber vorwiegend durch Fachtage an den Staatlichen Schulämtern, Fortbildungen zur Klimabildung, pädagogische Tage an Schulen und die Implementierung von BNE in die Schulcurricula wahr. In der Novelle zum Hessischen Lehrerbildungsgesetz (HLbG), die Anfang Juli 2021 vorgelegt wurde und in den nächsten Wochen verabschiedet werden soll (HLZ S.23), ist von Lernen und Handeln im Rahmen der BNE nur wenig zu lesen.

Die neue Fassung von § 1 HLbG erwähnt die Themen „gesellschaftliche Vielfalt und nachhaltige Entwicklung“, die im „Themenfeld der Entwicklung von Schule und Unterrichtsqualität“ „besondere Beachtung“ finden sollen. Bei den namentlich genannten verbindlichen „Querschnittsthemen“ der Lehrkräftebildung taucht BNE nicht auf. Woran liegt das? Ich behaupte, es liegt daran, dass wir ein verkürztes Verständnis von Allgemeinbildung haben. Im Zuge der Implementierung der nationalen Bildungsstandards in Deutschland hat Jürgen Baumert 2001 ein kompetenzorientiertes Modell der Grundstruktur der Allgemeinbildung mit den „Modi der Weltbegegnung“ vorgestellt (2). Hier wird Allgemeinbildung ausschließlich fachkultur- und fertigkeitsbezogen anhand sogenannter „Kulturwerkzeuge“ definiert. Baumert unterscheidet den (schulischen) Fächerkanon als kanonisches Orientierungswissen und daneben sogenannte „basale Sprach- und Selbstregulationskompetenzen“. Dazu gehören die Beherrschung der Verkehrssprache, die Mathematisierungskompetenz, die fremdsprachliche Kompetenz, die IT-Kompetenz und die Selbstregulation des Wissenserwerbs.

Die in den nationalen Bildungsstandards und auf Länder­ebene in den Kerncurricula formulierten Kompetenzen sind aber immer auch inhaltsbezogen definiert, nämlich in der Verzahnung von Inhalten und Fertigkeiten. Dies gilt jedoch nicht für die Metaebene der standardbasierten, fachkulturbezogenen Grundstruktur der Allgemeinbildung nach Baumert, obwohl entsprechende Modelle sehr wohl existieren. Tatsächlich wurde keine zehn Jahre vor dem Modell der „Modi der Weltbegegnung“ ein inhaltsbezogenes Modell der Allgemeinbildung vorgestellt - das der epochaltypischen Schlüsselprobleme mit folgenden Themen (3):  

  • Krieg und Frieden
  • Sinn und Problematik des Nationalitätsprinzips
  • Kulturspezifik und Interkulturalität
  • Umweltfrage bzw. ökologische Frage
  • Wachstum der Weltbevölkerung
  • gesellschaftlich produzierte Ungleichheit
  • multikulturelle und interkulturelle Erziehung
  • neue Informations- und Kommunikationsmedien  
  • Subjektivität und Anerkennung der jeweils Anderen

Außerdem zählen zum Modell epochaltypischer Schlüsselprobleme überfachliche Einstellungen und Fähigkeiten wie Kritikbereitschaft, Kritikfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstkritik, Argumentationsbereitschaft, Empathie und Zusammenhangsdenken. Der Inhaltsbezug dieses Modells der Allgemeinbildung ist interdisziplinär angelegt und ermöglicht eine Bezugnahme auf verschiedene Fachkulturen, auch im fächerübergreifenden Unterricht. Daneben ist eine Bezugnahme auf überfachliche Einstellungen und Fähigkeiten angedacht, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt des Modells. Dennoch finden sich letztere inzwischen auch in Kompetenzmodellen zur BNE wieder. Um BNE nach den Empfehlungen der KMK in das HLbG und damit in beide Phasen der Lehrkräftebildung in Hessen zu implementieren, benötigen wir also vor allem einen inhaltlichen Bezug auf die Umweltfrage und BNE als eines von verschiedenen Querschnittsthemen der Allgemeinbildung mit interdisziplinärem Fachbezug.

Währenddessen sehen wir neue Themen - aktuell ist das Thema „Krieg und Frieden“ beherrschend - am Horizont der epochaltypischen Relevanz der Querschnittsthemen aufscheinen. Auch sie sollten im interdisziplinären Zusammenhang mit BNE diskutiert werden, z.B. hinsichtlich der Gewinnung alternativer Energien. Querschnittsthemen als Themen der Allgemeinbildung werden im deutschlandweiten Diskurs über die Lehrkräftebildung in allen Phasen vorwiegend im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ thematisiert.

Qualitätsoffensive Lehrerbildung

Mit dem Förderprogramm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, das insgesamt 500 Millionen Euro bereitstellt, unterstützt der Bund bis zum Jahr 2023 in zwei Phasen Hochschulen in Deutschland, um innovative Konzepte für das Lehramtsstudium zu entwickeln und die Qualität der Lehrkräftebildung langfristig zu verbessern. Unübersehbar liegt der Fokus in Hessen auf den Themen „Digitalisierung“ und „Inklusion“. Wer sich hier für weitere Querschnittsthemen stark macht, wird – auch in den Diskussionen zur Novellierung des HLbG – regelmäßig mit der Frage der Ausbilderinnen und Ausbilder an den Universitäten und Studienseminaren konfrontiert: „Wie sollen wir alle diese Themen in unserem Ausbildungscurriculum und in den Studiengängen unterbringen?“ Mögliche Lösungsansätze könnten die Perspektiven der Epochaltypik und der Interdisziplinarität bieten, nach denen ausgewählte Themen der Allgemeinbildung je nach aktueller Relevanz in der Lehrkräftebildung thematisiert werden können. Die Jugendlichen stimmen schon jetzt mit den Füßen über die für sie relevanten Themen ab. Allerdings ist für die Verbesserung der Mathematisierungskompetenz oder der Selbstregulation des Wissenserwerbs meines Wissens noch niemand auf die Straße gegangen ...

Noch ist Zeit, ein inhaltsbezogenes Verständnis von Allgemeinbildung und damit auch BNE in der hessischen Lehrkräftebildung zu verankern, die Allgemeinbildung wieder verstärkt in der Schulpädagogik zu verorten und sie interdisziplinär in beiden Phasen der Lehrkräftebildung und je nach epochaler Relevanzsetzung thematisch zu fokussieren. Die Diskussion über diese Fragen ist mit der aktuellen Novelle des HLbG nicht beendet.


Andrea Gergen


Andrea Gergen ist Pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg und leitet mit Christina Nickel das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand.

(1) https://innosued.de/studie-junge menschenklimawandel
(2) J. Baumert (2001). Deutschland im internationalen Bildungsvergleich.
(3) W. Klafki, W. (1994). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 4. Auflage, Weinheim/Basel: Beltz.