Die Meldungen über das Ausmaß des Lehrkräftemangels in Hessen werden nicht weniger. Betroffen sind nicht mehr ausschließlich die Grund- und Förderschulen, sondern auch die Schulen mit den Bildungsgängen Hauptschule und Realschule – die Beruflichen Schulen sowieso. Scheibchenweise deckt auch das Hessische Kultusministerium (HKM) die Karten auf. Gegenüber dem Hessischen Rundfunk (hr) bezifferte es die Zahl der Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern ohne Lehramtsstudium in hessischen Schulen Anfang 2020 mit 4.900. Zur gleichen Zeit weist die Landesstatistik insgesamt 59.000 Personen im Unterricht aus. Für die Beantwortung einer Anfrage der SPD-Landtagsfraktion zur Zahl der befristet Beschäftigten brauchte das HKM allerdings weiterhin satte acht Monate (Drucksache 20/632). Danach waren 2018 5.443 Lehrkräfte mit einem befristeten Vertrag ausgestattet, die meisten davon an Grundschulen (1.633). Gegenüber 2016 stieg die Anzahl der befristet Beschäftigten an Grundschulen, die in dieser Schulform fast ohne Ausnahme kein Lehramt haben, um 28 Prozent an. Der bildungspolitische Sprecher der SPD Christoph Degen bezeichnete diesen weiteren Zuwachs befristeter Beschäftigung als „sozialpolitisch grundfalsch“ und als „ein Armutszeugnis für Schwarz-Grün“. Zahlen über die Qualifikation der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger hält das HKM weiter zurück.
In Zeiten des Lehrkräftemangels geraten nicht nur die Unterrichtsqualität und die Arbeitsbedingungen der Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, sondern auch die professionellen Standards ihrer Ausbildung. Ein Blick in die von den anderen Bundesländern aufgelegten Programme zur Qualifizierung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern zeigt, dass der Ruf nach sofortiger Verfügbarkeit im Unterricht durchweg die Anforderungen an eine angemessene Qualifizierung nach professionellen Standards gefährdet (1). Ein Seiteneinstiegsprogramm, bei dem „die pädagogische und fachliche Qualifizierung an erster Stelle steht“, bei dem die Bewerberinnen und Bewerber „ein auskömmliches Einkommen erhalten“ und das zugleich für die Schulbehörden einen spürbaren, schnellen „Beitrag zur Lösung der Personalprobleme“ leistet, kommt für den Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann einer „Quadratur des Kreises“ gleich (2).
Bei aller Kritik, die auch die GEW-Landesverbände an den in Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Niedersachsen aufgelegten Qualifizierungsprogrammen haben: In Hessen findet dieses Tauziehen zwischen schneller Verfügbarkeit im Unterricht und den Anforderungen an eine gute Qualifizierung, die den Betroffenen dauerhafte berufliche Perspektiven und eine finanzielle Gleichstellung ermöglicht, erst gar nicht statt. Die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in Hessen werden vom ersten Tag an mit der vollen Stundenzahl und ohne jede Unterstützung durch den Arbeitgeber und ohne berufliche Perspektive im Unterricht eingesetzt. Aufgrund einer völlig überholten Regelung in der Pflichtstundenverordnung müssen sie sogar als Lehrkräfte ohne Lehramt eine Stunde zusätzlich und ohne Entgelt erbringen.
Im Bereich der allgemeinbildenden Schulen gibt es lediglich für die kleine Gruppe der Kolleginnen und Kollegen mit einem gymnasialen Lehramt, die auf das Lehramt an Grundschulen oder an Förderschulen umsatteln, eine – unzureichende – Entlastung im Unterricht, um an verbindlichen Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen (3).
Auf diesem Hintergrund diskutierte der GEW-Landesvorstand in zwei Sitzungen Ende November 2019 und Ende Januar 2020 sehr ausführlich über die Positionen der GEW. Den vollständigen Beschluss des GEW Landesvorstands findet man auf der Homepage der GEW Hessen (www.gew-hessen.de > Themen > Bildungspolitik). Die GEW fordert darin, dass endlich „Schluss mit der Verschleierung des Lehrkräftemangels“ sein muss. Sie skizziert darüber hinaus ihre Vorstellungen von einer „qualifizierten Weiterbildung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in den Lehrerberuf“:
„Die GEW Hessen fordert die Hessische Landesregierung auf, endlich eine ungeschminkte, transparente Bilanz über den Einsatz von Lehrkräften vorzulegen, die keine Lehrerausbildung durchlaufen haben, und konsequente Maßnahmen zur Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte und zur Qualifizierung von Seiteneinsteigern und Quereinsteigern zu ergreifen.“
Mehr Plätze an Universitäten und Studienseminaren
Die GEW bekräftigt in dem Beschluss ihre Forderung, „die zur Reduzierung des Lehrkräftemangels bereits ergriffenen Maßnahmen zu verstärken“. Dazu zählt die GEW insbesondere „die ausreichende Ausweitung der Zahl der Studienplätze in den Lehramtsstudiengängen an hessischen Universitäten und somit die Abschaffung des Numerus Clausus und die entsprechende Erhöhung der Zahl der Stellen im Vorbereitungsdienst“.
Die beiden Maßnahmen stehen in einem engen Zusammenhang. Dass die Ausweitung der Referendariatsplätze allein nicht ausreicht, zeigen die Einstellungen zum 1.11.2019. Zwar wurden die Einstellungsmöglichkeiten für neue Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) an Grundschulen auf 330 aufgestockt, doch konnten nur 265 mit Personen mit einem ersten Staatsexamen für Grundschulen besetzt werden. Auch im Bereich der Lehrämter für Förderschulen, Haupt- und Realschulen und berufliche Schulen konnten fast alle Bewerbungen berücksichtigt werden. Der eingeleiteten Aufstockung der Zahl der Studienplätze muss also sehr schnell auch die Aufstockung der Stellen im Vorbereitungsdienst folgen. Mindestens mittelfristig wird der Überhang der Bewerberinnen und Bewerber für ein Referendariat im Lehramt für Gymnasien ein Problem bleiben. Hier blieben am 1.11.2019 bei rund 500 Einstellungsangeboten 440 Bewerberinnen und Bewerber ohne ein Angebot.
Dies korreliert mit dem Ungleichgewicht der Bewerbungen für eine Einstellung nach dem zweiten Staatsexamen.
Nach Angaben aus dem Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer sind aktuell die Ranglisten für die Lehrämter an Grundschulen und Förderschulen so gut wie leer, während es auf der Rangliste für das Lehramt an Gymnasien noch fast 2.000 Kolleginnen und Kollegen gibt, die auf ein Einstellungsangebot warten. Im Bereich des Lehramts an Haupt- und Realschulen sind es aufgrund des Überangebots für bestimmte Fächer noch fast 500. Dass hierunter auch viele Lehrkräfte mit dem Fach Politik und Wirtschaft sind, steht in einem eklatanten Widerspruch zu dem hohen Anteil fachfremden Unterrichts und der Absichtserklärung der schwarz-grünen Landesregierung, dass das Fach zukünftig in allen Jahrgangsstufen verbindlich zu unterrichten ist. An den Beruflichen Schulen stehen weniger als 100 Kolleginnen und Kollegen auf der Rangliste, die meisten mit der Fachrichtung Wirtschaft und Verwaltung.
Angesichts der Dauer eines Lehramtsstudiums muss man zugleich vor kurzfristigen Einschränkungen bei der Ausbildung von Lehrkräften für das Lehramt an Gymnasien warnen. Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FIBS) berechnet für die Jahre nach 2023 einen deutlich steigenden Bedarf für Einstellungen im Gymnasialbereich. Derzeit erscheint es deshalb dringend angebracht, auch die Integrierten Gesamtschulen stärker in die Ausbildung von Gymnasiallehrkräften einzubeziehen, da sie alle Bildungsgänge vereinen und deshalb auch Gymnasiallehrkräfte einstellen können, von deren Ausbildung aber weitgehend ausgeschlossen sind.
Quereinsteiger qualifizieren
Die GEW hält es angesichts dieser Zahl mindestens für eine längere Übergangszeit für erforderlich, „Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für den Lehrerberuf zu motivieren und berufsbegleitend umfassend zu qualifizieren“. Das Land Hessen muss hier weitgehend bei Null anfangen, denn ein 2009 begonnenes Programm zur Quereinsteigerqualifizierung wurde 2012 wieder gestoppt. Auch die bestehenden Rechtsvorschriften im Hessischen Lehrerbildungsgesetz werden derzeit in der Praxis nur selten angewendet. Jedes Konzept für eine umfassende berufsbegleitende Qualifizierung muss aus Sicht der GEW folgende Kriterien berücksichtigen:
- Sicherung der Unterrichtsqualität
- Einstiegsqualifizierung vor Beginn des Unterrichtseinsatzes
- ausreichende Entlastung der Kolleginnen und Kollegen bei der Unterrichtsverpflichtung zur Erfüllung der Qualifizierungsauflagen
- ausreichende Entlastung der Kolleginnen und Kollegen, die sich in den Praxisphasen als Mentorinnen und Mentoren engagieren
- Sicherstellung einer attraktiven Bezahlung in allen Phasen der Qualifizierung
- Ermöglichung eines Abschlusses, der mit dem Erwerb eines Lehramts oder einer Gleichstellung verbunden ist
Gleichzeitig lehnt die GEW alle Abstriche an den Standards der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sowohl an den Universitäten als auch im Referendariat ab. Konkret gilt das zum Beispiel für Überlegungen, die Anforderung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) zu streichen, dass Bewerberinnen und Bewerber für den Quereinstieg ein abgeschlossenes Hochschulstudium nachweisen müssen, „aus dem mindestens zwei Unterrichtsfächer oder ein Unterrichtsfach und eine Fachrichtung oder zwei Fachrichtungen für das jeweilige Lehramt ableitbar sind“ (§ 53 HLbG-Durchführungsverordnung). Sollte zukünftig ein einziges Fach ausreichen, fordert die GEW die Nachqualifizierung für ein weiteres Fach. Ein-Fach-Lehrkräfte würden aus Sicht der GEW „die Möglichkeit der ausgebildeten Lehrkräfte weiter einschränken, möglichst auch in zwei Fächern eingesetzt zu werden“.
Die GEW fordert eine solche Qualifizierungsoffensive nicht nur bei Neueinstellungen, sondern auch für die im Rahmen einer „Unterrichtserlaubnis“ eingestellten Kolleginnen und Kollegen, die nur auf dem Papier „Vertretungskräfte“ sind. Mit der Realität hat das aus Sicht der GEW nichts zu tun, „denn sie decken in großem Umfang den Pflichtunterricht ab und verschleiern den Lehrkräftemangel“. Für die bisher befristet oder inzwischen unbefristet beschäftigten Bestandslehrkräfte fordert die GEW „ein umfassendes Qualifizierungsprogramm, das diesen, schon lange eingesetzten Kolleginnen und Kollegen eine dauerhafte Berufsperspektive und eine der Tätigkeit angemessene Bezahlung ermöglicht“.
Bei allen Qualifizierungsmaßnahmen ist die zusätzliche Belastung für die ausgebildeten Lehrkräfte und die „Stammkollegien“ zu berücksichtigen und durch die Bereitstellung von zusätzlichen Anrechnungsstunden zu kompensieren, so wie dies bei der Übernahme einer Tätigkeit als Mentorin oder Mentor notwendig ist, um Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger beraten, begleiten und unterstützen zu können.
Harald Freiling, HLZ-Redakteur
(1) Kai Eicker-Wolf: Ein Blick in die Länder. Voraussetzungen für die Einstellung und Qualifizierungsangebote. In: HLZ 1-2/2020, S. 18
(2) Klaus-Jürgen Tillmann: Zwei Wege zum Lehrerberuf. Seiteneinstieg und pädagogische Professionalität. In: HLZ 1-2/2020, S. 12-13. Die Langfassung seines Referats bei einem Fachgespräch der GEW Hessen findet man auf der Homepage der GEW Hessen (https://bit.ly/2UktzjQ).
(3) Neue Perspektiven: Das Lehramt wechseln? HLZ 1-2/2020, S.15