Der „Sommer der Migration 2015“ hat hessische Schulen vor unvorhergesehene Herausforderungen gestellt: Bis zum Jahresende kamen rund 80.000 Flüchtlinge nach Hessen und seit Jahresbeginn 2016 waren es noch einmal mehr als 11.000. Fast ein Drittel von ihnen ist unter 18 Jahre alt und damit größtenteils (berufs-)schulpflichtig. Aber auch volljährige Migrantinnen und Migranten benötigen schulische Sprachförderung.
Es stellen sich die Fragen, welche schulischen Angebote es zur Integration von zugewanderten Jugendlichen in Hessen gibt und welche Aus- und Fortbildungsangebote für ihre Lehrerinnen und Lehrer noch geschaffen werden müssen.
Da zur Qualifizierung der Asylbewerber in Hessen bislang keine genauen Zahlen vorliegen, kann zu Beschulungsbedarfen der Migrantinnen und Migranten bislang nur festgestellt werden, dass Intensiv- und Integrationsklassen in Hessen von einer großen Heterogenität der Schülerschaft geprägt sind. Diese reicht von primären Analphabeten ohne Kenntnisse zur primären Stiftführung über funktionale Analphabeten mit bis zu fünf Jahren Schulerfahrung bis hin zu sogenannten „Zweitschriftlernern“, die schulisch sozialisiert und in einem nicht-lateinischen Schriftsystem alphabetisiert sind.
Intensivklassen an allgemeinbildenden Schulen
Im Rahmen ihres Aktionsplans zur „Integration von Flüchtlingen und Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ hat die Landesregierung zu Beginn des Schuljahres 2015/16 800 neue Lehrerstellen an Schulen unter anderem zur Sprachförderung eingerichtet. Das Gesamtsprachförderkonzept sieht die Beschulung von Migrantinnen und Migranten in Intensivklassen, Intensivkursen und Alphabetisierungskursen vor sowie das InteA-Programm für Intensivklassen für Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger ohne Deutschkenntnisse an beruflichen Schulen („Integration und Abschluss“). Darüber hinaus wird es in Zukunft an den Schulen für Erwachsene Angebote für bereits alphabetisierte 20-Jährige geben. Für Durchführung des Konzepts wurden zu Beginn des Schuljahres neu ausgebildete Lehrkräfte, Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und Pensionäre angeworben. Sie alle sollen für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) oder Deutsch als Fremdsprache (DaF) weiterqualifiziert werden.
Die Ausbildung der Lehrkräfte in Intensivklassen an allgemeinbildenden Schulen erfolgte zu Beginn des Schuljahres 2015/16 in einem fünftägigen Angebot der Hessischen Lehrkräftekademie (LA) zur „DaZ-Basisqualifikation“. Im kommenden Schuljahr wird ab dem 1. August 2016 für Lehrerinnen und Lehrer aller Schulformen eine einjährige Weiterbildung für das Fach „Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache“ (DaF/DaZ) durch die LA angeboten. Der Kurs umfasst den Zeitraum von zwei Schulhalbjahren, findet an 14 Präsenztagen statt und wird in mehrtägigen Blockveranstaltungen, Tagesveranstaltungen und Eigenstudien durchgeführt. Darüber hinaus bieten die Universitäten Gießen, Kassel und Marburg und die TU Darmstadt viersemestrige Weiterbildungsmasterstudiengänge für DaZ/DAF an, die zum Teil auch als Online-Studiengänge absolviert werden können. Weitere Qualifizierungsmöglichkeiten für Daz/DaF-Lehrkräfte gibt es am Frankfurter Goetheinstitut als Fernstudienprogramm, an der VHS Wiesbaden und an verschiedenen hessischen Volkshochschulen als Zusatzqualifizierung von Lehrkräften in Integrationskursen.
InteA-Klassen an berufsbildenden Schulen
Die an berufsbildenden Schulen neu eingerichteten InteA-Klassen richten sich an Flüchtlinge, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und Zuwanderer ohne Deutschkenntnisse im Rahmen der Bildungsgänge zur Berufsvorbereitung, wobei die Zugangsberechtigung nur für Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren gilt. Ihre Ausgestaltung und die Umsetzung des Intensivsprachförderprogramms liegen in der Verantwortung der InteA-Schulen. An sogenannten Aufnahme- und Beratungszentren (ABZ) werden die Ausgangsbedingungen der Schülerinnen und Schüler anhand von Lernstandtests und Förderplangesprächen erfasst. Danach werden die Migrantinnen und Migranten in passende Lerngruppen eingeteilt. Die Stundenpläne umfassen 13 bis 18 Stunden DaZ-Unterricht sowie Fachunterricht und Fachpraxis mit Berufsorientierung, Berufspraktika und Maßnahmen zur Integration in die Schulgemeinde. Ziel der InteA-Sprachförderung an den berufsbildenden Schulen ist die Vermittlung ausreichender Sprachkenntnisse, der Übergang in das duale System bzw. in andere Schulformen und Bildungsgänge und der Erwerb eines externen Hauptschulabschlusses oder des mittleren Abschlusses. Dafür haben die zugewanderten Jugendlichen zwei Jahre Zeit.
Seit März 2016 hat die GEW Hessen bei mehreren Fortbildungsveranstaltungen zur Arbeit in Intensivklassen die Reaktionen und Erfahrungen der Lehrkräfte zu diesem Thema gesammelt und einen Katalog an Forderungen erstellt.
Starkes Interesse an GEW-Fachtagungen
Die hohe Zahl von Anmeldungen für die Fachtagungen der GEW zeigt, wie dünn gesät die staatlichen Fortbildungsangebote sind und wie groß der Bedarf an Möglichkeiten zum Austausch von Gedanken und Erfahrungen ist. Allerdings waren die Reaktionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das Sprachförderkonzept der hessischen Landesregierung verhalten. Neu eingestellte Lehrkräfte, die an allgemeinbildenden Schulen zumeist alleine mit mindestens 20 Wochenstunden in Intensivklassen eingesetzt sind, fühlen sich vielfach mit der Arbeitssituation überfordert. Zu den grundlegenden Forderungen in der Flüchtlingsbeschulung gehören daher die durchgehende Doppelbesetzung in Intensiv- und InteA-Klassen, der Unterricht in multiprofessionellen Teams und die Unterstützung durch Dolmetscherinnen und Dolmetscher. Lerngruppen sollten nicht mehr als zwölf Schülerinnen und Schüler umfassen, um individuelle Förderung ermöglichen zu können. Darüber hinaus müssen Lehrerinnen und Lehrer Zugang zu geeigneten Lehrmittteln und Fördermaterialien erhalten.
Zu wenig Angebote zur Fort- und Weiterbildung
Ein weiterer Grund für Überforderung liegt offenbar in Problemen in der Klassenführung durch mangelnde Kenntnisse zum Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Obwohl landläufig bekannt ist, dass hier zum Teil mit hohem Aggressionspotenzial aufgrund von Flashbacks von Kriegserlebnissen zu rechnen ist, fehlt es an Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte, durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen in der psychosozialen Unterstützung von Flüchtlingen und durch Supervision für Lehrkräfte in Intensivklassen durch den schulpsychologischen Dienst.
Die fünftägige Basisqualifikation für DaZ und DaF in Intensivklassen, die zu Beginn des Schuljahres für neu eingestellte Lehrerinnen und Lehrer durchgeführt wurde, wurde ausnahmslos als unzureichend beurteilt. Es besteht diesbezüglich auch bei den bereits eingestellten Lehrkräften großer Weiterbildungsbedarf. Dazu kommt, dass Unterricht in der Herkunftssprache nur noch im geringen Umfang durchgeführt wird, was allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Spracherwerb bei Mehrsprachigkeit entgegenläuft. Auch hierfür sollten wieder mehr Stellen bereitgestellt werden.
Da Schülerinnen und Schüler in den Intensiv- und InteA-Klassen zu großen Teilen in die Regelklassen der allgemeinbildenden und in die besonderen Bildungsgänge der berufsbildenden Schulen wechseln werden, müssen Lehrkräfte im Bereich DaF/DaZ in jedem Fach, auch an Gymnasien, für sprachsensiblen Unterricht qualifiziert und fortgebildet werden. Dazu müssen von Beginn an Plätze in Regelklassen freigehalten werden. Zuweisungen sollten so erfolgen, dass auch hier zumindest in ausgewählten Fächern wie Deutsch und Fremdsprachen eine Doppelbesetzung der Lehrerinnen und Lehrern erfolgt. Es sollten maximal drei Intensivklassen pro Schule und nicht mehr als 25 Prozent Flüchtlingskinder in einer Bestandsklasse aufgenommen werden.
In den meisten Fällen fehlt den Lehrkräften eine Qualifizierung für die Alphabetisierung junger Erwachsener. Darüber hinaus sollte die Fort- und Weiterbildung für DaZ/DaF-Lehrkräfte, die noch nicht oder nur befristet beschäftigt sind, ausgebaut und Daz/DaF als reguläres Studienfach für ein Lehramtsstudium anerkannt werden.
Neben der Forderung nach der Intensivierung der Basisqualifikation wünschen sich viele Lehrkräfte Fortbildungsangebote zu religiös motiviertem Extremismus, zum Islamismus und zum Umgang mit einer sich abzeichnenden Radikalisierung Jugendlicher. Als diesbezügliche Präventionsmaßnahmen erscheinen auch Möglichkeiten und Mittel zur Förderung des interkulturellen Miteinanders an Schulen und in den Kommunen, zum ungezwungenen und ungesteuerten Spracherwerb und im Zweifelsfall die Ausweitung der Zeitfenster in Intensivklassen zum Erwerb schulischer Qualifikationen für zugewanderte Kinder und Jugendliche in Hessen als unabdingbar.
Andrea Gergen ist Pädagogische Mitarbeiterin am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg und leitet mit Franziska Conrad und Heike Lühmann das Referat Aus- und Fortbildung im Landesvorstand der GEW.
Verwendete Literatur:
Birgit Koch und Maike Wiedwald: Bildung kann nicht warten, in: HLZ 6/2016, S. 24 f.
Landesregierung stellt Konzept zur Sprachförderung vor, Pressemitteilung des Hessischen Kultusministeriums vom 19. Mai 2016, kultusministerium.hessen.de > Presse > Pressemitteilungen