Wenn wir Menschen die Fragen über den aktuellen Zustand der Welt beantworten sollen, liegen wir angeblich regelmäßig falsch, denn unser Gehirn verführt uns zu einer dramatisierenden Weltsicht – so die Überzeugung des Autors eines aktuellen Bestsellers zur Kommunikation wissenschaftlicher Fakten. Im Fall der Beurteilung des hessischen Praxissemesters lag die GEW allerdings von Anfang an richtig und stellt nun ohne Häme und mit großer Erleichterung fest: „Das haben wir doch gleich gesagt!“
Im September 2019 haben die Goethe-Universität Frankfurt, die Justus-Liebig-Universität Gießen und die Universität Kassel im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) den Zwischenbericht der Evaluation der Praxissemesters in Hessen vorgelegt. Eine verlängerte Praxisphase für Lehramtsstudierende wurde ab dem Wintersemester 2015/16 an den o.g. Universitäten erprobt und wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Die Kritik der GEW an diesem Modell bezog sich u. a. auf die Zielsetzung der Eignungsabklärung durch das Praxissemester. Das Gesamtkonzept wurde nach Ansicht der GEW dem Anspruch einer reflexiven Lehrerbildung nicht gerecht. (1)
Um so erfreulicher ist es, dass wir uns in dieser Einschätzung durch den vorliegenden Zwischenbericht der Praxissemesterevaluation fast vollständig bestätigt fühlen. Er fasst die bisherigen Erkenntnisse zusammen und bündelt sie in sieben Empfehlungen, die sich „für eine effektive Gestaltung des Praxissemesters im Falle seiner flächendeckenden Einführung abzeichnen“ (2). Sie umfassen die zeitliche Positionierung zwischen dem fünften und achten Semester, organisatorische und inhaltliche Anpassungen im Studium, die Einführung eines Erkundungspraktikums zur Eignungsabklärung im zweiten und dritten Semester, die Einführung von Fort- und Weiterbildungsangeboten für die schulischen und universitären Betreuenden der Studierenden im Praxissemester, eine bessere Ausstattung der Schulen und Hochschulen für die Betreuung der Studierenden, die Etablierung effektiver Kooperationsstrukturen zwischen Schule, Schulamt, Lehrkräfteakademie und Universitäten und eine Verbesserung der Informationsstrukturen aller Beteiligten.
Die Ergebnisse dieses Evaluationsberichts bieten unserer Auffassung nach gute Anschlussmöglichkeiten für die Gestaltung verlängerter Praxisphasen im Lehramtsstudium an den an der Erprobung des hessischen Praxissemesters nicht beteiligten Universitäten in Marburg und Darmstadt.
Nun sollte es darum gehen, aus den Ergebnissen Rückschlüsse für eine Reform aller drei Phasen der Lehrerbildung zu ziehen (3). Zum einen müssten nach Ansicht der GEW die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der drei Phasen der Lehrerbildung inhaltlich genauer voneinander abgegrenzt werden. Andererseits sollte man erörtern, inwiefern sie im Sinne eines Spiralcurriculums organisatorisch stärker miteinander verzahnt werden könnten. Dies könnte ohne nennenswerte strukturelle Reformen auch der Lehrkräftefortbildung zugute kommen.
Vor dem Hintergrund der Evaluationsergebnisse, dass der Erfolg des Praktikums von der Qualität der Betreuungsverhältnisse abhängt und den Mentorinnen und Mentoren an den Ausbildungsschulen sowie den universitären Betreuenden eine Schlüsselfunktion im Praxissemester zukommt, bieten ihre Qualifizierung und die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Ausbildungsinstitutionen Schule, Universität und Studienseminar vielversprechende Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle an der Lehrerbildung beteiligten Akteure.
Darüber hinaus könnte man angesichts der Tatsache, dass in der dritten Phase insbesondere in Hessen das Fehlen fachdidaktischer Fortbildungen für Lehrpersonen beklagt wird, in größerem Umfang als bisher an bereits existierende universitäre Ausbildungsstrukturen andocken, um das Know-How der Fachwissenschaften über das Lehramtsstudium hinaus nutzbar zu machen. Organisatorisch gesehen könnten solche fachlichen und fachdidaktischen Fortbildungen an den Zentren für Lehrerbildung angesiedelt werden, deren Fortbildungsangebote ausgebaut und durch an der Hessischen Lehrkräfteakademie beschäftigte und an die Universitäten abgeordnete Lehrkräfte mitgestaltet werden könnten. Diese Lehrpersonen könnten für ihre Fortbildungsangebote universitäre Ressourcen wie Räumlichkeiten und Medienangebote nutzen und vice versa als Bindeglieder zwischen universitären Fachwissenschaften und schulischer Praxis fungieren – beispielsweise zur Vermittlung von Kontakten für schulinterne Fortbildungen. Es bleibt zu hoffen, dass die Qualitätsoffensive Lehrerbildung ihre Spuren in Hessen ganz im Sinne der ursprünglichen Intention hinterlassen wird, auch jenseits der ersten Phase der Lehrerbildung.
Andrea Gergen
Referat Aus- und Fortbildung der GEW Hessen
(1) Beschluss des GEW-Landesvorstands vom 5.2.2015 (https://www.gew-hessen.de > Bildung > Aus- und Fortbildung > Praxissemester)
(2) Goethe-Universität Frankfurt et al. (2019): Das Praxissemester in Hessen. Zwischenbericht der Evaluation. Frankfurt.
(3) vgl. Terhart, E. (2014): Dauerbaustelle Lehrerbildung, in: PÄDAGOGIK 6/2014, S. 43-47.