Gesellschaft im Wandel

Reform der Lehrkräftebildung im Stillstand

„In der Lehrerausbildung wird sich auch in Zukunft der unvermeidliche, der sattsam bekannte, der ebenso dauererregte wie unabschließbare ‚Lehrerbildungsdiskurs‘ hinweg wälzen – ein Prozess, der aus Reformkommissionen, Mahnrufen, einzelnen Wissenschaftlern und anderen Experten, Zeitungsartikeln, OECD-Berichten, Berufsverbandsvorsitzenden, Experten für Beamtenrecht und Gehaltstabellen und so weiter besteht und in dem die substanziell immer gleichen Argumente und Interessen immer nur in neuen Konstellationen arrangiert werden!“ Ewald Terhart, markanter Kenner der deutschen Lehrerausbildung, gab vor zwölf Jahren in der Zeitschrift „Seminar 4/2007“ diese Einschätzung. Seine Beurteilung scheint auch heute noch zu gelten. Joachim Euler – mehr als 35 Jahre im pädagogischen Vorbereitungsdienst als Mentor, Praktikumsbetreuer, Ausbildungsbeauftragter, Fachleiter, Leiter eines Studienseminars und in der Fortbildung tätig – erklärt, was ist, wie es zum Stillstand kam, warum es so niemals grundlegende Änderungen geben dürfte und wie die Lehrkräftebildung aus seiner Sicht in den nächsten zehn Jahren mit einem Masterplan so zu reformieren ist, dass Terharts Einschätzung nicht länger gilt.

Der pädagogische Vorbereitungsdienst in Hessen im Zeitraffer seit den 1970er Jahren mit wegweisenden Entscheidungen in der BRD:

  • 1977: prinzipiell gleiches Referendariat in allen Lehrämtern, 18 Monate Dauer, gleiche Unterrichtsverpflichtung, Gesamtbewertung mit Vornoten statt ausschließlicher Bewertung am Prüfungstag, Mitbestimmung der Referendarinnen und Referendare
  • 1983: Ausbildungspläne für die pädagogische Ausbildung
  • 1990: Einführung der Differenzierungsphase mit sechs Monaten Ausbildung auch an Lernorten außerhalb der Staatsschule
  • 2001: Neue Ausbildungs- und Prüfungsordnung (APVO), in der alle rechtlichen Bestimmungen vereinfacht und komprimiert zusammengefasst wurden und die Ausbildung der Fachlehreranwärterinnen und -anwärter für arbeitstechnische Fächer dem Referendariat angepasst wurde. Auch diese Veränderung gelang mit erheblicher Unterstützung und in Absprache mit oder aufgrund von Vorlagen der hessischen GEW wie 1990 sogar mit nachweisbarer Zustimmung der CDU.
  • 2004: Mit der Verabschiedung des neuen Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) will Kultusministerin Karin Wolff (CDU) alle drei Phasen der Lehrerbildung (Studium, Vorbereitungsdienst, Fortbildung) grundlegend reformieren. Ihr Slogan: Lehrerbildung aus einem Guss.
  • 2019: Die jetzige Landesregierung will diesen kaputten Guss 15 Jahre (!) später wieder zusammenfügen. Lehrerbildung soll „Motor der Qualitätsentwicklung“ sein (Koalitionsvertrag, S.84).

Missachtete Realitäten

Man staunt: Module mit 14 Prüfungen in gut zwölf Monaten und ein Prüfungsmarathon bestimmen die Ausbildung. Die Bewertungen bereits nach drei Monaten fließen in die Examensnote ein. Stress pur. Die fachdidaktische Ausbildung in den 21 Monaten wird in nur 45 Stunden je Fach vollzogen, folglich Beratungen eher am Rande. Funktion der Modulprüfungen: Herauskatapultieren „unfähiger“ Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) aus der Ausbildung. Permanente Prüfungen statt laufende Beratungen wie zuvor. Fast fünf Prozent aller LiV gelten zurzeit als ungeeignet, über Jahrzehnte zuvor waren es drei Prozent.

Seit Jahrzehnten wird die institutionalisierte Kooperation von 1. und 2. Phase der Lehrkräfteausbildung gebetsmühlenartig heruntergeleiert. Nichts Wirksames ist passiert. Rolltreppe abwärts. Kein Stillstand herrscht bei den Methoden: Metaplantechnik, Mind-Map-Methode, Black-Box-Methode, Methode 6-3-5, NLP, Stationenlernen usw. Was konnte sich davon im Unterricht etablieren?

Die Ignoranz des gesellschaftlichen Wandels bei der Weiterentwicklung der Lehrkräftebildung und die Entscheidungsschwäche beim Handeln kommen in der Missachtung bedeutsamer Sachverhalte zum Ausdruck. Die von der SPD initiierte Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen“ wurde aufgelöst, der Bildungsgipfel aufgrund der Dissense ergebnislos beendet. Terhart lässt grüßen. Integration, Inklusion und Diversität sind im pädagogischen Vorbereitungsdienst durchgängig faktisch keine Themen, die Digitalisierung bestenfalls fragmentarisch. Die Fortbildung zufällig, strukturlos und deutlich unterfinanziert, einem Torso nicht unähnlich – auch hier Realitätsverweigerung. Qualifizierte Fortbildung ist notwendig. Sie kostet Geld. Folglich sind die finanziellen Mittel zwischen Aus- und Fortbildung grundsätzlich neu auszutarieren.

Auch die hessische GEW scheint nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Sie plädiert weiter für ein Lehramt für Förderschulen (HLZ 7-8/2016) und befürchtet den Verlust des staatlichen Einflusses bei einer einphasigen Ausbildung (HLZ 5/2017). Mittlerweile ist mit Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, NRW, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein mehr als die Hälfte der Bundesländer vom 1. Staatsexamen zum Masterabschluss gewechselt. Sachsen-Anhalt und Thüringen bieten studienortgebunden auch noch eine 1. Staatsprüfung an. Die GEW Hessen plädiert aber weiterhin für ein 1. Staatsexamen, außerdem für die Zweiphasigkeit. Sie setzt wie vor 40 Jahren auf die Kooperation von 1. und 2. Phase, die nirgendwo in Deutschland rechtlich institutionalisiert ist und wegen absolut unterschiedlicher Organisationen kaum mit Leben zu erfüllen ist. Bessere Arbeitsbedingungen und eine veränderte Modul­struktur im Vorbereitungsdienst werden zu „Visionen“ verklärt (HLZ 7-8/2016, S.12f.). Die GEW auf Bundesebene hat dagegen auf ihrem Gewerkschaftstag 2017 den Weg zur Einphasigkeit geöffnet. Die GEW Hessen will die Module weitgehend abschaffen und durch „Stränge“ (?) ersetzen. Doch ein solches „Zurück“ wird es nicht geben. Es fehlen die Ideen, wie ein Referendariat, das übrigens keine Ausbildung, sondern ein Vorbereitungsdienst ist, nachhaltig für Lehrkräfte und (selbstständige) Schulen wirksam sein sollte. Die Lösung kann nur heißen: beraten, beraten und nochmals beraten, im Praxisjahr, in der Berufseingangsphase und Supervision sowie Fortbildung.

Bewegung im Radius null

Warum herrscht in Hessen Stillstand? Der Kultusminister (CDU) hat als Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) Wichtige(re)s zu tun. Für den Staatssekretär (CDU), Opus Dei-Mitglied, hat seit 2014 die schwarze Personalpolitik bezüglich Funktionsstellen Priorität. Die für die Lehrkräftebildung im Ministerium zuständige Fachabteilung wirkt mit Apathie. Ordnung und Bürokratie sind offensichtlich Devise der Hessischen Lehrkräfteakademie (LA), Innovation Fehlanzeige. In der CDU-(Bildungs-)Fraktion scheint innovative Lehrkräftebildung eine „No-Go-Area“ zu sein. Bisweilen wohlfeile, doch wirkungslose Worte aus der FDP-Fraktion. Grundsätzliche Reformüberlegungen seitens der Linkspartei: Fehlanzeige. Die Grünen, einst Motor für Reformen in der Ausbildung, mutieren offenbar zum Appendix der strukturkonservativen CDU-Bildungspolitik. Inhaltliche Ideen sind abhanden gekommen, verwaltungsbezogene gewinnen an Bedeutung.
Lediglich der aktuelle Gesetzentwurf der SPD zur „Modernisierung der Lehrkräftebildung in Hessen“ vom 11.6.2019 lässt Lichtblicke erkennen (HLZ S.22). Deutliche Fortschritte im Studium und in der Fortbildung werden sichtbar, aber auch ein Schwarzes Loch im pädagogischen Vorbereitungsdienst und kein Lösungsvorschlag, wie die prinzipiell wirkungslose Trennung von 1. und 2. Phase der Ausbildung aufgehoben werden kann.

Verschleierung und Ideologie

International unbestritten ist, dass die Lehrkräfteausbildung an den Universitäten stattfindet. In Deutschland folgt dem Studium das Referendariat, eine praktische Unterweisung, die zugleich Vorbereitungszeit auf den Schuldienst und Schulalltag ist. Diese Unterscheidung wird meist und bewusst verschwiegen, woraus zahlreiche Probleme entstehen. Im Prinzip machen die Bundesländer, was sie wollen. Die Dauer des Vorbereitungsdienstes variiert zwischen 15 und 24 Monaten, die Unterrichtsverplichtungen divergieren erheblich. Die Prüfungsanforderungen (Leistungen, Bewertungsverfahren) weichen deutlich voneinander ab.

Die Empfehlungen der KMK (1) sollten Einheitlichkeit herstellen, doch die Länder ändern relevante Regelungen für den Vorbereitungsdienst nach Bedarfslage alle paar Jahre. Die KMK wird im Kontext der Lehrkräfteausbildung zwar immer wieder zitiert, aber sie hat keine Sanktionsmacht und ist ein zahnloser Tiger. Bildung ist Ländersache, und die Länder beharren mehr denn je auf ihren eigenen Befugnissen. Sie können im Prinzip selbst bestimmen, ob und wie eine Praxisphase (Referendariat, Praxisjahr oder Berufseingangsphase) dem Studium folgt.

Die Zweiphasigkeit ist ein Tabu. Wie lange noch? Um sie zu retten und den Vorbereitungsdienst gegen eine universitäre Einphasigkeit abzuschotten, wird als Lösung die Kooperation der beiden Phasen gefordert, unermüdlich, doch erfolglos seit den 1980er Jahren. Diese Erfolglosigkeit ist aufgrund sachbezogener Analyse nur logisch. Arbeitszeiten, Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen sind im Universitäts- und Schulsystem höchst unterschiedlich. Es gibt äußerst wenige Zeitfenster für Zusammenarbeit. Von sehr wenigen lokalen Kooperationen abgesehen, funktioniert sie in Deutschland nicht. Schließlich: Welchen Zweck soll eine Kooperation zwischen Uni in A und Studienseminar in B erfüllen, wenn wie in Hessen etwa die Hälfte der Studentinnen und Studenten aus anderen Bundesländern kommt?

Ohne Geld keine Reformen

In der Zeit der großen Bildungsreformen vor 40 Jahren galt der Satz „Die wahren Kultusminister sind die Finanzminister.“ Auch heute sind Pädagogen Meister darin, viele kreative, ideenreiche Forderungen zu stellen, ohne die Finanzierung zu bedenken. Ich habe die Kosten für alle Forderungen, die auf dem Markt gehandelt werden, in meiner Expertise „Die Zukunft der Lehrkräftebildung in Hessen“ (November 2016) zusammengetragen und aktualisiert: Eine einheitliche Studiendauer von zehn Semestern in allen Lehrämtern würde über 40 Millionen Euro kosten, die Besoldung der Grundschullehrkräfte nach A 13 70 Millionen, eine Berufseingangsphase 9 Millionen, Supervision und schulinterne Fortbildung 14 Millionen, Vertretungsunterricht für ausgefallenen Unterricht aufgrund schulexterner Fortbildung 38 Millionen und Vergütungen für Mentorentätigkeiten in verschiedenen Phasen 17 Millionen. Zur Gegenfinanzierung ließen sich mit einem Praxisjahr anstelle des Vorbereitungsdiensts 17 Millionen Euro einsparen, mit dem Umbau der Studienseminare 7 Millionen. Geld war bislang offensichtlich kaum ein Thema, auch nicht in der GEW. Beim Geld wird es jedoch wirklich ernst, weil Erfolge oder Misserfolge damit einhergehen.

Fortbildung vor Ausbildung

Im nächsten Jahrzehnt sollte es doch möglich sein, die genannten inhaltlichen, institutionellen und strukturellen Änderungen zu verwirklichen. Dabei sollte es im Kern um folgende Sachverhalte gehen:
Die Erkenntnisse des weltweit anerkannten Bildungsforschers John Hattie sind ernst zu nehmen und umzusetzen: Die Wirksamkeit in der Fortbildung beträgt 63 % gegenüber 11 % in der Ausbildung (2). Daraus folgt ein Prioritätenwechsel bezüglich der Finanzen: Fortbildung vor Ausbildung.
Der Vorschlag aller hessischen Universitäten und Lehrerbildungszentren von 2009 ist eine gute Grundlage, das Studium umzugestalten und den Vorbereitungsdienst auf den Prüfstand zu stellen.
Als Kompromiss zwischen ein- und zweiphasiger Ausbildung bietet sich der vorliegende vollständig ausgearbeitete Vorschlag des Verfassers für ein reformiertes Studium mit Praxisjahr an. Er enthält detaillierte Überlegungen für eine „ganzheitliche“ Lehrkräfteaus- und -fortbildung mit konkreten Struktur-, Organisations-, Inhalts-, Finanzierungs- und Personalvorschlägen. (3)
Seiten-, Quer- und Direkteinstieg werden in Zukunft Normalität und Bereicherung in der Lehrkräfteausbildung sein. Daraus resultieren eine Reduzierung und Veränderung der Ausbildertätigkeit an den Studienseminaren bei (modifizierter) einphasiger Ausbildung sowie neue Aufgaben und Erweiterungen in der Fortbildung.
Gleichstellung aller Lehrkräfte in allen Lehrämtern hinsichtlich Dauer des Studiums (zehn Semester) und Eingangsbesoldung (A 13), damit Ende der Diskriminierung von Grundschullehrkräften.
Die Politik muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass Studierende, LiV, Mentorinnen und Mentoren und die Schulen in den Gesamtprozess einer großen und umfassenden Reform tatsächlich und mit Gewicht einzubeziehen sind. Nur so kann breite Akzeptanz erreicht werden. Ausbildung und Fortbildung sind primär für die Lehrkräfte zu organisieren und zu gestalten sowie institutionell für die zunehmend selbstständigen Schulen.
Rationalität und nüchterner Pragmatismus sind angesagt. Rudolf Augstein beschrieb das Problem punktgenau: Gute Politik zeichnet sich durch „souveräne Missachtung ideologischer und moralischer Positionen“ aus (zitiert nach SPIEGEL 33/2015, S.12).

Joachim Euler

Joachim Euler leitete viele Jahre das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand und war  für die Referendariatsmappe der GEW (später „LiV-Spektrum“), zuständig.

(1) Helmut Kohl bezeichnete die KMK 1997 als „reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland“.  (FAZ 19.4.1997).
(2) Visible Learning, 2009; deutsche Fassung 2014, S.131 ff.
(3) Die Expertise kann beim Autor angefordert werden.