Generation Corona?

Ergebnisse einer Umfrage der Landesschüler:innenvertretung

HLZ 11/2022: Lehrkräftebildung

Bereits im Schuljahr 2017/18 sorgte eine Umfrage der Landesschüler:in­nenvertretung (LSV) unter hessischen Schülerinnen und Schülern für Aufsehen (HLZ 6/20218). Mitte September stellten Pia Rosenberg, Mika Schatz und Julian Damm als Sprecher:innenteam der LSV die Ergebnisse einer neuen Online-Befragung in den Abschlussklassen aller Schulformen und unter Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe und der beruflichen Schulen, die HeSchüB 2021/22, vor.

An der Befragung, die in der Zeit vom 1.11.2021 bis zum 28.2.2022 durchgeführt wurde, beteiligten sich 9.478 Schülerinnen und Schüler und damit rund 18 % aller Befragten. 60 % der Teilnehmenden (5.917) besuchen eine gymnasiale Oberstufe und 19 % eine Berufliche Schule. In den Gesamtschulen (11 %), Realschulen (7 %), Hauptschulen (2 %) und Förderschulen  (0,5 %) wurden die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Abschlussklassen befragt. Unverständlich ist die Tatsache, dass Gesamtschulen im Gegensatz zu allen anderen Schulformen bei der Auswertung der Einzelfragen nicht mehr dargestellt werden. Es wird auch nicht deutlich, ob die Antworten aus Gesamtschulen dann anderen Schulformen zugeschlagen wurden.

Die Befragung bestätigte die Belastungen, denen Schülerinnen und Schüler durch die Corona-Pandemie ausgesetzt waren. Gut zwei Drittel aller Schülerinnen und Schüler bemängeln die Durchführung des digitalen Unterrichts. Sie vermissten eine strukturierte Organisation und Kommunikation durch die Schulen und das Hessische Kultusministerium (HKM) und kritisieren das „pure Chaos“ durch die Nutzung unterschiedlicher Plattformen und die vielen Lehrkräften fehlende Medienkompetenz.

Digitalisierung: Es klemmt!

Die notwendige Fortbildung sei bisher ausschließlich ein Resultat der „Eigeninitiative der jeweiligen Lehrkraft“, müsse aber „verpflichtend und flächendeckend durch das Land organisiert und getragen werden“. Der Austausch im Rahmen von Online-Besprechungen wird von einer Mehrheit aller Schülerinnen und Schüler positiv bewertet, allerdings lassen die Fragen keine Rückschlüsse auf die Erfahrungen mit Distanz- und Online-Unterricht zu. In allen Schulformen sagt nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler, dass sie das Einbringen eigener Geräte in den Unterricht gut findet („Bring your own devices“), besonders hoch ist die Ablehnung dieses Trends an den Förderschulen. Auch die verpflichtende Teilnahme an einem Informatikunterricht findet nur eine geringe Zustimmung, die große Mehrheit wünscht sich solche Angebote im Wahlpflichtbereich.

Die psychosozialen Belastungen durch die Pandemie erklärt die LSV mit einer „fehlenden räumlichen Trennung von Schule und Privatleben“, fehlenden „festen Tages- und Arbeitsstrukturen“ und einer Geringschätzung der sozialen Aspekte von Schule und Unterricht. Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler seien zudem „durch die ständig erwartete Erreichbarkeit außerhalb der eigentlichen Schulzeit kontinuierlich gestresst“ worden.

Einsam und antriebslos

Immerhin 73 % der Schülerinnen und Schüler, die ein Gymnasium besuchen, stimmen der Frage nach einer verstärkten Antriebslosigkeit während der Pandemie „voll“ oder „eher“ zu. Viele Schülerinnen und Schüler berichten von „mehr Familienstreit“, finanziellen Sorgen und Zukunftsangst, besonders hohe Zustimmungswerte gibt es bei den Schülerinnen und Schülern der Förderschulen. Dasselbe gilt für die Fragen nach einer verstärkten Einsamkeit und dem Verlust von Freunden und Bezugspersonen.

Das Förderprogramm „Löwenstark“ sei zwar „der ganze Corona-Stolz von Kultusminister Lorz“, doch 62 % der Schülerinnen und Schüler, die sich an der Umfrage beteiligten, hatten von den Angeboten nichts gehört. Nur 3,5 % geben an, dass sie an einer Fördermaßnahme im Projekt Löwenstark teilgenommen haben, während 17,7 % private Nachhilfe in Anspruch genommen haben. Allerdings dürften nicht alle schulischen Angebote dezidiert mit dem Label gekennzeichnet und auch nicht unbedingt von anderen unterrichtlichen und sozialpädagogischen Zusatzangeboten zu unterscheiden sein. Der Aussage, dass es ausreichende Angebote zum Ausgleich der sozialen Defizite gibt, die durch die Pandemie entstanden sind, stimmen 59 % der Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium „gar nicht“ oder „eher nicht“ zu, etwas weniger (44 %) sind es bei den Unterrichtsinhalten.
Aber auch unabhängig von den unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie macht die HeSchüB den großen Aufklärungs- und Handlungsbedarf im Bereich der psychischen Gesundheit deutlich, die die LSV zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht hat (HLZ 3/2020). 41 % der Teilnehmenden sprechen von einer „hohen“ oder „extremen“ Belastung, an den Gymnasien sind es sogar 52,3 %.

Mehr Lebenspraxis gewünscht

Drei Viertel der Schülerinnen und Schüler gaben an, dass der Unterricht „nicht lebenspraktisch genug“ sei, im gymnasialen Bereich liegt die Quote mit 90 % besonders hoch. Wie bereits bei der HeSchüB 2017/18 sagt die übergroße Mehrheit, dass sie nicht ausreichend über ihre Rechte als Schülerinnen und Schüler aufgeklärt ist, an den Gymnasien sagen das ebenfalls 90 %. Große Mehrheiten interessieren sich für einen kostenlosen, verpflichtenden Erste-Hilfe-Kurs und die Themen Mietvertrag, Steuern oder Versicherungen. Auch die Überlegung, dass jeder Schüler und jede Schülerin „in der Schullaufbahn ein ehemaliges Konzentrationslager besuchen sollte“, findet in allen Schulformen Zustimmung.
Die Kritik am Notensystem wurde bereits in der Befragung 2017/18 deutlich. Besonders groß ist die Kritik bei den Schülerinnen und Schülern an den Gymnasien, da sie es für intransparent (38 %), subjektiv (66 %) und ungenau (47 %) halten. 66 % wünschen sich ein alternatives System, das Auskunft über reale individuelle Stärken und Schwächen gibt.

Rassismus auch von Lehrkräften

Rund 40 % aller Schülerinnen und Schüler gaben an, dass sie in ihrem konkreten schulischen Umfeld „häufig“ oder „sehr häufig“ rassistische Bemerkungen oder einen rassistischen Umgang wahrnehmen. Besonders viele sagten das an den Hauptschulen (45,5 %) und den Realschulen (47,3 %), weniger an Gymnasien (25,1 %) und Förderschulen (22,2 %). Dass sich die rassistischen Äußerungen auf die Herkunft beziehen, sagen 53 % aller Teilnehmenden, es folgen Anspielungen auf das Aussehen (49 %), die Aussprache (38 %) und die Religion (30 %). Dass der Rassismus von Mitschülerinnen und Mitschülern ausgeht, sagen 70 %, doch 25 % beobachteten und erlebten auch Rassismus durch Lehrkräfte. Weitere Themen der Befragung sind die Umwelterziehung, die Praxis der Mülltrennung in öffentlichen Schulen, das Schulessen und die Schülerbeförderung.
Harald Freiling

Alle Ergebnisse findet man unter https://bit.ly/3qSa4xS