Erfahrungen und Visionen

Wünsche für ein neues Lehrerbildungsgesetz

HLZ 7-8/2016: Neue Baustelle Lehrerausbildung

Lehrerbildung sollte ein Spiegelbild pädagogischen Handels sein. Wenn also Studierende und Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) lernen sollen, individuelle Lernentwicklungen in der Bewertung zu berücksichtigen, längerfristige Lernprozesse anzuleiten und kreatives und individuelles Lernen zu ermöglichen, dann sollte ihre eigene Ausbildung dies ebenso abbilden und systemisch strukturell ermöglichen.

Meine eigene Ausbildung fand noch unter den Bedingungen der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (APVO) statt. Zwei Drittel der Ausbildung fand in den beiden Fächern und ein Drittel im erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Seminar statt. Bewertet wurde nur in der zweiten Hälfte der Ausbildung. In der „Halbzeit“ gab es eine Beratungskonferenz, in der sich alle an der Ausbildung Beteiligten an einen Tisch setzten und die Leistungen der LiV würdigten. Kritisch sah man damals die persönliche Abhängigkeit von einem Ausbilder oder einer Ausbilderin und das zu große Gewicht des Prüfungstags. Außerdem wusste man erst nach eineinhalb Jahren, in welchem Bewertungsbereich sich die bisherige Leistung bewegt hatte.

Die seit 2005 schrittweise auf den Weg gebrachte Modularisierung sollte die Ausbildung effektiver und einheitlicher machen. Prüfungen durch „fremde“ Ausbilderinnen und Ausbilder, die die LiV nicht kennen, sollten Vergleichbarkeit herstellen, führten aber in der Realität zu merkwürdigen Diskrepanzen. Die Anzahl der Besuche war zu hoch und die Bewertungskriterien waren sehr heterogen. In vielen Modulen waren wie in der Universität Referate die Bewertungsgrundlage und der praktische Anteil war zu gering. Der Einfluss der Schulleitung auf die Bewertung beschränkte sich auf das Modul „Schule mitgestalten und entwickeln“. Die Fachausbildung verkürzte sich von einem Drittel auf ein Sechstel der Ausbildung und fand im Prüfungssemester (zumindest im GHRF-Bereich) und an vielen Seminaren auch in der Einführungsphase überhaupt nicht mehr statt.

Die Erfahrungen

Im Zuge der erneuten Novellierung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG) wurde die Ausbildung in der zweiten Phase 2011 von 24 auf 21 Monate verkürzt. Die Absicht, die so eingesparten Mittel zur Entlastung der Mentorinnen und Mentoren zu verwenden, wurde aber nicht umgesetzt. Die Zahl der bewerteten Module reduzierte sich von 12 auf 8, deren Bewertung sich wieder auf Unterrichtspraxis konzentrierte. Die „Pädagogische Facharbeit“ ist seither nicht mehr zulassungsrelevant und die Schulleitungen wurden wieder stärker in die Bewertung einbezogen. Die Novellierung von 2011 stellte sicher eine Verbesserung dar, dennoch bestehen weiterhin große Schwächen in der modularisierten Ausbildungsstruktur.
Wenn die zweite Phase der Lehrerbildung nun 2017 erneut novelliert werden soll, so stellt sich die Frage, wie ein System aussehen müsste, mit dem alle Beteiligten eine größere Zufriedenheit verbinden würden. Schaut man sich die Rückmeldungen der an der Ausbildung Beteiligten an, so häufen sich folgende Aussagen zur aktuellen Ausbildungsstruktur:

  • Viele LiV äußern am Ende ihrer Ausbildung: „Für meinen Lernprozess am wichtigsten war die Fachausbildung.“
  • Die LiV schildern häufig, dass ihrem persönlichen Lernen oft die Zergliederung der Ausbildung im Wege steht. So lautet die häufigste Frage oft: „Wie soll ich das für DFB/ EBB/ DLL/ MLL machen?“ Oder: „Wie soll ich dies für Sie machen?“ Die angedachte Verzahnung fachdidaktischer, fachwissenschaftlicher und allgemeinpädagogischer Aspekte erschließt sich im bisherigen System den Lehrkräften im Vorbereitungsdienst oft nicht in der gewünschten Weise und die aktuell praktizierte Struktur wird oft als „Häppchen-Ausbildung“ empfunden. Die angedachte Ganzheitlichkeit erschließt sich oft nicht in der Praxis.
  • Die LiV empfinden die acht Unterrichtsbesuche im ersten Hauptsemester zu Beginn ihres eigenverantwortlichen Unterrichts insbesondere in kurzen Semestern mit 16 Wochen als einen erheblichen Stressfaktor, zumal die LiV zunächst einmal ihre Klassen kennenlernen und sich in der Schule als Unterrichtende orientieren müssen.
  • Der ständige Bewertungsdruck ist allgegenwärtig und behindert innovatives Ausprobieren und Experimentieren im Unterricht, weil man als Lehrkraft im Vorbereitungsdienst unter dem Druck der Bewertung gerne und verständlicherweise eine „ganz sichere“ Stunde zeigen möchte.

Meine Visionen

1.) Die erste Phase des Referendariates mit der Einführungsphase und dem ersten Hauptsemester enthält keine Bewertung, sondern nur Beratung.
Die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst erhalten bei Unterrichtsbesuchen im ersten Hauptsemester nur Beratung, keine Bewertung. Lernprozessorientierung bedeutet auch in der Lehrerbildung, sich ausprobieren zu dürfen, zu experimentieren, Fehler zu machen, diese zu analysieren und zu bearbeiten, sich in ihrer Lehrerprofessionalität entwickeln und finden zu dürfen ohne den Stressfaktor, dies ab dem ersten Unterrichtsversuch als bewertenden Anteil des Examens gewertet zu bekommen. Bewertung findet im zweiten Hauptsemester, im Prüfungssemester und in der Prüfung statt. Das erste halbe Jahr des eigenverantwortlichen Unterrichtens aber bleibt bewertungsfrei.

2.) Die Lehrerbildung wird ganzheitlicher strukturiert.
Die zweite Phase der Lehrerbildung teilt sich in die Ausbildung in den beiden Fächern und in einen allgemeinpädagogischen Strang, der die bisherigen „Allgemeinen Module“ integriert, aber personell jeweils in einer Hand ist. In die Fachmodule und in die Allgemeinpädagogik ist der Strang DFB integriert, denn für eine pädagogische Diagnostik im Fach benötigt man zwingend Fachwissen sowie fachdidaktische Erfahrung. Andererseits gibt es auch nichtfachliche, das Lernen behindernde Faktoren, die im allgemeinpädagogischen Modul reflektiert werden.
Daneben gibt es einen unbewerteten Strang über die gesamte Dauer der Ausbildung, dessen Augenmerk sich auf die Reflexion der eigenen Berufsrolle richtet und der auch „Coaching“-Elemente aufgreift, wobei die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst auch die Möglichkeit haben, ihre Sorgen in einem nicht bewerteten Raum zu schildern. Die Begleitung der LiV durch vier Personen über die gesamte Dauer der Ausbildung stellt eine gewisse Kontinuität her, die eine Lernbeziehung zwischen Ausbilderinnen und Ausbildern und LiV ermöglicht.

3.) Die Lehrerbildung wird mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet.
Die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst werden nur zu einem geringen Teil den Schulen angerechnet. Dies ermöglicht die Doppelsteckung mit Mentorinnen und Mentoren und erhöht die Ausbildungsbereitschaft der Schulen.
Auch müsste die qualitative und quantitative Mehrarbeit der engagierten Mentorinnen und Mentoren ihren Niederschlag in einer Würdigung über eine Deputatsstunde finden.
Ausbildung kann im besten Fall innovative, neue Ansätze in die Schule integrieren, und hierbei sind Mentorinnen und Mentoren Multiplikatoren, deren Arbeit es zu würdigen gilt.
Neue gesellschaftliche Aspekte wie die Beschulung von Flüchtlingen, die Inklusion und sprachsensibler Unterricht müssen im Sinne von Innovation, Chancengleichheit und Individualisierung in die Ausbildung integriert werden. Innovation in der Lehrerbildung lässt sich nur über die Vergabe von zusätzlichen Ressourcen bewerkstelligen, da intensivere Teamarbeit und Kooperationen mit außerschulischen Trägern Zeit und Arbeitsaufwand erhöhen.

4.) Es gibt zwischen den einzelnen Studienseminaren verbindliche Absprachen und klare übergeordnete Kriterien.
Ausbildung an Studienseminaren ist aktuell vielfältiger als in vergangenen Systemen zuvor. Dies betrifft die Bereiche Modulausgestaltung, aber auch die „Anforderungen an die schriftliche Unterrichtsvorbereitung“, wenn eine LiV in einem anderen Seminar die Fachausbildung besuchen muss, oder auch die unterschiedlichen Blickweisen von Ausbilderinnen und Ausbildern verschiedener Seminare auf Prüfungen.

5.) Es gibt ein ganzheitliches Konzept über die gesamten drei Phasen der Lehrerbildung.
Schaut man auf die Realität der hessischen Lehrerbildung in allen Phasen der Ausbildung, so stellt man fest, dass die erste Phase – je nach hessischem Studienort – in ihrer Ausgestaltung ausgesprochen vielfältig ist, die zweite Phase im Vorhinein ausführlicher beschrieben und die dritte Phase wenig strukturiert erscheint.
In anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gibt es Lehrerbildungszentren, die alle drei Phasen der Lehrerbildung integrieren und verzahnen und nicht jede Phase isoliert ansehen. Dies kann im hohen Maße befruchtend und innovativ sein im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung eines lebenslangen Lernens. Gegen die verstärkte Verschulung der ersten Phase sollten dort auch neigungsbezogene Ansätze zugelassen werden. Ich habe in meinem Studium auch Veranstaltungen besuchen dürfen, die zwar nicht in erster Linie zu meinem Unterrichten beigetragen haben, die aber meine Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung meiner Lehrerprofession im umfassenden Sinne positiv beeinflusst haben. Ein Zentrum für Lehrerbildung, in dem Beteiligte aus allen drei Phasen mitarbeiten, könnte hier wichtige neue Impulse setzen.

6.) Ausbildung braucht Partizipation und Teilhabe.
Die Lehrerbildung bietet nach den Grundsätzen der Erwachsenenbildung die Möglichkeit zur Partizipation. Studierende und LiV sollten ihre Bedürfnisse und Interessen und Ideen zur Veränderung einbringen können und so wichtige Impulse für eine Qualitätsentwicklung setzen.
Aber auch innersystemisch können die Kompetenzen der Beteiligten stärker eingebunden werden. So wäre es wünschenswert, wenn der Seminarrat eines Studienseminares als verbindliches Beschlussgremium fungieren würde und nicht nur über „Empfehlungen“ an die Seminarleitung beschließt und dass das Arbeitsprogramm eines Seminares mit den Gremien der Vollversammlungen und dem Seminarrat erörtert und abgestimmt wird. Hier ist mehr Vertrauen in die Kompetenzen der an der Basis Arbeitenden notwendig.
Insgesamt ist die erneute Novellierung als eine Chance zu begreifen, größere strukturelle und inhaltliche Überarbeitungen vorzunehmen zum Wohle aller an der Ausbildung Beteiligten und zur Verbesserung der Qualität der Lehrerbildung in Hessen. Hoffentlich wird diese Chance genutzt.


Christina Nickel ist Ausbilderin am Studienseminar für Grund-, Haupt-, Real- und Förderschulen Wiesbaden und unterrichtet an der Gutenbergschule in Eltville. Seit Mai 2016 ist sie Mitglied im Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer.