Der Diskussionsbedarf ist groß

Werkstattgespräch: Welche Ausbildung brauchen Hessens Lehrkräfte?

 

Seit Wochen kursieren im Hessischen Kultusministerium Gerüchte über den seit langem überfälligen Entwurf zur Novellierung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG), der den Verbänden offenbar noch in diesem Jahr zur Stellungnahme vorgelegt werden soll. Da traf es sich genau richtig, dass das Referat Aus- und Fortbildung der GEW für den 21. April zu einem hybriden Werkstattgespräch zu eben diesem Thema eingeladen hatte.

– Vor Ort im Frankfurter Presseclub präsent waren für die erste Phase Franziska Conrad, ehemals Studienseminarleiterin und Leiterin der Referats Aus- und Fortbildung, und Katharina Schilling-Sandvoß, Professorin für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt,

– und für die zweite Phase Mareike Ochs, Grundschullehrerin, David Redelberger, HR-Lehrer an einer Gesamtschule, Quereinsteiger und Mitglied der Jungen GEW Hessen, und Martin Tetzner, Leiter des Europaseminars BBS Gießen.

Marcell Saß, Professor für praktische Theologie und Mitglied im Direktorium des Zentrums für Lehrerbildung der Philipps-Universität Marburg, und Günter Steppich, Fachberater für Jugendmedienschutz, waren digital zugeschaltet. An der Videokonferenz nahmen 63 Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen der Lehrerbildung teil, die sich in Wort- und Chatbeiträgen rege an den Diskussionen beteiligten.
Zu Beginn stellte Franziska Conrad das GEW-Positionspapier zur Novellierung des HLbG und der entsprechenden Durchführungsverordnung (HLbG-DV) vor, das auf einem Beschluss des Landesvorstands von 2016 fußt und auf der Internetseite der GEW Hessen nachzulesen ist (www.gew-hessen.de > Bildung > Aus- und Fortbildung):

  • Die GEW schlägt weiter vor, die Zahl der Lehramtsstudiengänge auf vier Typen zu reduzieren. Die Mindeststudienzeit soll für alle vier Lehrämter zehn Semester betragen, da die zu erwerbenden Kompetenzen und Kenntnisse in allen Lehrämtern gleich umfangreich sind. Alle Lehrämter müssen mit der Eingangsstufe A 13 besoldet werden.
  • Inklusive Pädagogik, antisexistische und antirassistische Pädagogik sowie Umgang mit Heterogenität und Diversity sind als Querschnittsthemen in das Lehramtsstudium zu integrieren. Auch DaZ, Literalität in Mehrsprachigkeitskontexten sowie Sprachförderung im Fachunterricht sind in alle Lehramtsstudiengänge aufzunehmen. Für das Lehramt für Sekundarschulen und für berufsbildende Schulen soll DaZ/DaF als neues Unterrichtsfach aufgenommen werden. Demokratiepädagogik, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und das Fach Arbeitslehre sollen in alle Lehramtsstudiengänge eingeführt werden.
  • Die Zentren für Lehrerbildung und die Hessische Lehrkräfteakademie sollen gemeinsam ein Spiralcurriculum entwickeln, das die drei Phasen der Lehrerbildung inhaltlich vernetzt.
  • Für die zweite Phase fordert die GEW ein bewertungsfreies erstes Hauptsemester, eine Ausbildung in vier Strängen (1. Fach, 2. Fach, allgemeine Pädagogik und Beratung), eine stärkere Verzahnung der Inhalte und eine erhöhte Doppelsteckung mit den Mentorinnen und Mentoren.
  • Für die dritte Phase schlägt die GEW eine zweijährige, durch Mentorinnen und Mentoren begleitete Berufseinstiegsphase vor, in der die neuen Lehrkräfte ihre in der Lehrerbildung erworbenen Qualifikationen vertiefen und ergänzen können. Fortbildungsangebote, die das gesamte Berufsleben begleiten, brauchen sowohl eine regionale Ebene als auch bedarfsorientierte Angebote vor Ort, die sich an den Interessen der Lehrkräfte, der sozialpädagogischen Fachkräfte und der Schulen orientieren. Fortbildungsstätten müssen wieder stärker für die Lehrerfortbildung genutzt werden.
  • Auch das Weiterbildungsangebot muss ausgebaut werden, beispielsweise um eine sonderpädagogische Befähigung oder das Lehramt an berufsbildenden Schulen zu erwerben.

Die Forderungen der GEW

Um Lehrerbildung qualifiziert zu betreiben, werden in allen Bereichen zusätzliche Ressourcen benötigt, die Franziska Conrad wie folgt bilanzierte:

  • auskömmliche Ausstattung während der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung
  • Anrechnungsstunden für Mentorinnen und Mentoren zur Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen und für ihre Ausbildungsarbeit in der ersten und zweiten Phase
  • Reduzierung der Zahl der Stunden, mit denen die Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst (LiV) auf die Stellenbilanz der Schulen angerechnet werden, um mehr Ausbildungsunterricht zu ermöglichen
  • Anrechnungsstunden für die Teilnahme an Veranstaltungen der Berufseingangsphase
  • Ressourcen für die Lehrkräfteakademie zum Aufbau eines breiten Angebots an Lehrerfort- und -weiterbildung
  • Erhöhung des Fortbildungsbudgets der Schulen nach vielen Jahren des Stillstands

Nach der Präsentation wurde das Werkstattgespräch in zwei digitalen Breakout-Räumen für die erste und die zweite Phase der Lehrerbildung fortgesetzt. Prof. Schilling-Sandvoß begründete ihre Forderung nach Erhöhung der Studiendauer für das Grundschullehramt. Prof. Saß stellte den Modellversuch ProPraxis einer verlängerten Praxisphase im gymnasialen Lehramtsstudium an der Marburger Phi­lipps-Universität vor, der Fächer und Fachkulturen stärker verzahnt. Weitere „Markenzeichen“ sind der fallbasierte Ansatz des forschenden Lernens im Praktikum und eine erhöhte Interdisziplinarität bei den Querschnittsthemen „Inklusion“ und „Digitalisierung“.


Stimmen aus dem Chat

In den Diskussionsbeiträgen und im Chat wurde noch einmal nachdrücklich eine merkliche Mentorenentlastung sowohl im Lehramtsstudium als auch im Vorbereitungsdienst gefordert

Mentoren brauchen Entlastung

sowie eine strukturierte Qualifizierung der Mentorinnen und Mentoren, die in beiden Phasen mindestens eine Anrechnungsstunde pro LiV erhalten müssten.

Nachhaltige Entwicklung fördern

Auch die Forderung, das Querschnittsthema Bildung für nachhaltige Entwicklung in alle Lehramtsstudiengänge und in den Fächerkanon aller Schulformen zu integrieren, fand nachdrückliche Unterstützung.

Mehr Zeit für Medienpädagogik

Günter Steppich fand große Zustimmung, das Thema Digitalisierung nicht nur methodisch zu diskutieren, sondern die Medienpädagogik im Lehramtsstudium als Fach zu verankern, so dass auch der Datenschutz und die Didaktik des digitalen Unterrichts ausreichenden Raum finden. Auch für die zweite Phase fanden die zentralen Forderungen der GEW grundsätzliche Zustimmung. Das erste Hauptsemester müsse bewertungsfrei sein.

Sich ausprobieren können

Auch die Referendarinnen und Referendare müssten zunächst einmal an ihren Schulen ankommen und sich in ihrer Rolle finden und ausprobieren können, so dass nicht schon der erste Unterrichtsbesuch bewertet wird. Die wichtige Rolle der Mentorinnen und Mentoren müsse mit einer ausreichenden Entlastung hinterlegt sein. Die aktuelle Anrechnung von einer Stunde pro LiV (also einer halben Stunde pro Fach) wird als vollkommen unzureichend angesehen.

Module besser vernetzen

Weitere Anregungen betrafen die bessere Vernetzung der fachlichen und überfachlichen Modulen und die selektive Form der Unterrichtsbetrachtung, die der Komplexität von Unterricht nicht angemessen ist. Eine echte Zusammenschau werde eigentlich erst zum Ende der Ausbildung in der Zweiten Staatsprüfung angestrebt.
Gerade die jüngeren Lehrkräfte, die an der Diskussion teilnahmen, fordern eine andere Bewertungspraxis als das „Hinterherjagen nach Noten“. Sie wünschen sich, bei Unterrichtsbesuchen anderer LiV hospitieren zu können, Teamteaching ausprobieren zu dürfen und im Rahmen ihres Referendariats kontinuierlicher betreut zu werden.
Die GEW solle sich intensiver mit der Qualifizierung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern gerade an den Grundschulen befassen, die mit hohem Fachwissen, aber ohne ausreichendes pädagogisches Wissen in die Schule kommen und mit Fragen der didaktischen Reduktion konfrontiert werden.

Unterstützung beim Quereinstieg

Aus der Grundschule wurde berichtet, dass in der ersten und in der zweiten Phase sehr viel abzuhandeln ist und die Zeit zum stressfreien Lernen fehlt. Viele Module seien ohne Grundschulbezug.
Wie nicht anders zu erwarten, spielte die Digitalisierung auch in diesem Werkstattgespräch eine große Rolle. In der Lehrerbildung müssten fachdidaktische Kenntnisse für einen digitalgestützten Unterricht, technisches Know-how und Wissen über Datenschutz, über die Gefahren des Internets und über den Umgang mit Videokonferenzen vermittelt werden.

Viele Fragen zur digitalen Schule

Die verwendeten Materialien seien oft auf rein reproduzierende Formen von Unterricht ausgelegt, Aufgaben, die problemlösendes Denken oder Reflexion fördern, finde man kaum. Zudem fehle die technische Ausstattung an vielen Schulen, es gebe kein W-LAN und nur eine sehr überschaubare Anzahl von Ausbildern, die im digitalen Unterricht eigene Erfahrungen vorweisen können. Hier brauche es dringend ein Fortbildungskonzept.
Zusammenfassend wurde noch einmal deutlich, dass die Lehrerbildung die Lehrkäfte am Arbeitsplatz Schule handlungsfähig machen muss - mit einer für alle Studienseminare einheitlichen, professionellen und kriterienorientierten Bewertung. Die Verzahnung zwischen erster und zweiter Phase muss endlich gelingen. Individualisierung in der Ausbildung muss gewährleistet und Querschnittsthemen sollten gezielter in die Ausbildung integriert werden.
Am Ende gab es kritische Rückmeldungen zur Nutzung des hybriden Veranstaltungsformats. Die vergleichsweise hohe Zahl an zugeschalteten Teilnehmern des Werkstattgesprächs und intensive Gespräche am Runden Tisch lassen dennoch darauf schließen, dass die Veranstaltung sowohl vom Format her als auch inhaltlich den Nerv vieler Beteiligten getroffen hat.
Auch wenn die Gesetzesnovelle wieder einmal in oder kurz nach der Sommerpause vorgelegt wird, also zu einem Zeitpunkt, an dem sich die zu beteiligenden Akteure im Urlaub befinden oder mit dem Beginn des neuen Schuljahres beschäftigt sind, ist die GEW nach diesem Werkstattgespräch auf ihre Stellungnahme zum HLbG gut vorbereitet!

Andrea Gergen und Christina Nickel
Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand