Autonomie macht schön

Gedanken zum Referendariat und zur Lehrerprofession

Aus HLZ 5/2020

Franziska Conrad leitete bis zu ihrer Pensionierung im Sommer 2019 das Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Darmstadt und – im Team mit Heike Lühmann – über viele Jahre das Referat Aus- und Fortbildung im GEW-Landesvorstand. Die Verabschiedung von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst (LiV) nach dem bestandenen Zweiten Staatsexamen war für sie mehr als eine Dienstpflicht, sondern auch eine Gelegenheit, die Veränderungen im Bereich der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und die Herausforderung beim Wechsel in den Beruf zu reflektieren. Beim Nachdenken, was sie den LiV am Ende der zweiten Phase der Ausbildung sagen kann, erinnerte sie sich an einen Satz, den Schülerinnen und Schüler ihres Leistungskurses Deutsch vor 25 Jahren mit auf den Weg gaben: „Autonomie macht schön“: „Damit fassten sie den ‚Output‘ unserer Literaturstudien zusammen, die wir zwei Jahre betrieben haben.“

Die HLZ gibt eine ihrer Reden in Auszügen wieder.

Ob Autonomie schön macht, darüber haben sich große Geister wie Kant und Schiller gestritten. Nichtsdestotrotz ist das Streben nach Autonomie unbedingt bewahrenswert und sollte eine zentrale Zielsetzung im Lehrerberuf sein. Daher ein paar Gedanken zur Bedeutung von Autonomie:
Th. W. Adorno hat in seinem Buch „Erziehung zur Mündigkeit“ die Auffassung vertreten, dass Erziehung das Ziel habe, den Rückfall in die Barbarei, für die Auschwitz steht, zu verhindern. Autonomie, Mündigkeit gilt für ihn als starke Gegenkraft gegen das Prinzip von Auschwitz; Adorno wie auch Kant verstehen unter Autonomie die Fähigkeit zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen. Wenn ich mir vergegenwärtige, mit welchen unterschiedlichen Zielvorstellungen ich in meinem Berufsleben konfrontiert worden bin, bestätigt sich im Nachhinein die Notwendigkeit der Forderung nach Autonomie und kritischer Selbstreflexion. Als ich im Schuldienst in den 80er Jahren anfing, mussten wir unseren Weg zwischen der antiautoritären Pädagogik, die die hierarchischen Gehorsamsstrukturen in der Schule aufbrechen wollte, und den bestehenden konservativen, auf Anpassung und Regelfixierung zielenden Strukturen finden. Meine Generation erfuhr, dass sie ihren eigenen Weg finden musste, Strukturen zu schaffen, die Sicherheit gaben, aber auch Freiräume, die Selbstbestimmung ermöglichten.

In den 90er Jahren glaubten wir dann einen Weg gefunden zu haben, um in der Schule bestehen zu können. Unterstützung geben, klare Grenzen und Regeln für Kinder aufstellen und diese auch durchsetzen – dieser sog. Autoritative Erziehungsstil schien uns erfolgsversprechend. Aber es kamen neue Herausforderungen und Irritationen: Handlungs- und Projektorientierung, ganzheitliches Lernen sollte mehr Erfolge bringen als die bloß kognitive Herangehensweise an den Stoff. Wir probierten Rollenspiele, kreatives Schreiben, öffneten die Schule und machten Projekte, alles in Gruppenarbeit. Mit einer gewissen selbstkritischen Distanz - und auch der Beobachtung der eigenen Kinder beim Heranwachsen - konnten wir feststellen, dass die Schüler und Schülerinnen durchaus motiviert waren, jedoch der Lernerfolg nicht immer der größte war. Dem versprach Heinz Klippert abzuhelfen. Ab 1995 etwa brachten uns Klippert-Teamer bei, wie wir den Schülerinnen und Schülern markieren, unterstreichen und kommunizieren beibringen sollten zwecks Schulung der Methoden- und Kommunikationskompetenz und der Förderung des eigenverantwortlichen Lernens. Ab 2000 zeigten uns dann die PISA-Studien, dass unsere Skepsis berechtigt war, dass die ,Gruppenarbeit wohl nicht so effektiv war, die Produktionsorientierung nicht immer zu größerer Lesefähigkeit führte und auch die Klippertschulungen nicht alle pädagogischen Probleme lösten. Der Siegeszug der Empirie begann, Leistungsvergleiche bestimmten das Lehrer- und Schülerleben und konnten dazu führen, dass wir nicht mehr die Fragen der Lernenden in den Mittelpunkt stellten, sondern Teaching to the Test, wenn wir nicht aufpassten und über unser Tun nachdachten. Wieder mal stellte sich der selbstkritischen Pädagogin die Frage nach dem Nutzen des eigenen Tuns für die anvertrauten Schülerinnen und Schüler. Und die meisten fanden einen gangbaren Weg, ihre Schülerinnen auf das Abitur vorzubereiten und dennoch ab und an forschendes und zeitintensives Lernen zu praktizieren. Mit PISA einher ging die Einführung der Kompetenzorientierung. Einleuchtend wurde sie damit begründet, dass zu viel totes Wissen die Gehirne träge werden lasse und man im Leben damit wenig anfange. Also unterrichteten wir kompetenzorientiert, sahen uns aber gleichzeitig darin bestätigt, dass spannende inhaltliche Fragestellungen und bildende Unterrichtsgegenstände einen Eigenwert hatten und nicht bloß der Förderung von Kompetenzen untergeordnet werden durften. Das mathematische Denken hat auch eben eine Schönheit jenseits des Instrumentellen, einen Roman zu lesen macht Freude und dient nicht nur der Förderung der Lesekompetenz; die Konfrontation mit dem Nationalsozialismus dient nicht bloß der Förderung der Urteilskompetenz, sondern zeigt, wie es zum Zivilisationsbruch kommen kann und lehrt vielleicht, wie man diesen verhindert. Inzwischen scheinen die Bildungsstandards für die Sekundarstufe II dem Bildungswert der Inhalte Rechnung zu tragen, aber vielleicht wieder in zu hohem Maße, so dass die Kompetenzorientierung auf der Strecke bleibt? Aber diese Frage müssen Sie dann in den vor ihnen liegenden Dienstjahren lösen.

Sie sehen, Mündigkeit ist vonnöten in dem Beruf, will man seinen Kurs behalten und nicht gefrustet und zynisch werden, wenn das, was gestern mit viel Energie umgesetzt wurde, heute nicht mehr so vordringlich ist und wieder neue Vorhaben als unbedingt notwendig propagiert werden. Und im Übrigen müssen Lehrer Vorbilder für die Schüler auf dem Weg zu mündigen Bürgern sein.

Adorno sieht eine zweite Gegenkraft zur Barbarei in der Empathie, der Wärme und dem Mitgefühl. Arno Gruen, der große Schweizer Psychoanalytiker verweist warnend darauf, dass Leistung und Wettbewerb die Empathie zurückdrängen und uns und unsere Schülerinnen und Schüler zu funktionierende Rädchen im System der Leistungsgesellschaft zu machen drohen. Er betont, dass die seelische Gesundheit des Einzelnen und der Bestand der demokratischen Gesellschaft davon abhängen, wie wir einander helfen und uns unterstützen. Die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft beruht nach seiner Analyse auf Kooperation, -Einfühlung und gegenseitiger Hilfe statt auf Konkurrenz.

Ich denke, dass diese beiden Haltungen ein gutes Rüstzeug für den Lehrerberuf und für das Leben überhaupt darstellen. Auf dieser Grundlage können Sie aus der Vielfalt der Zumutungen herausfiltern, was wichtig ist. Und zuweilen müssen Sie auch, um ihre Mitte nicht zu verlieren, mal sagen: „Des werd doch alles net so wischtisch soi“.

Ob Autonomie und Empathie schön machen, liegt im Auge des Betrachters. Aber sie verhelfen Ihnen zum Bewusstsein des eigenen Zentrums, zur Einsicht in die Lebendigkeit der eigenen Bedürfnisse und zur Verbundenheit mit den Schülerinnen, Schülern, Kolleginnen und Kollegen. Und letztlich wirken Ihre Ausstrahlung und Ihr Vorbild und so gelingt es Ihnen, die Welt ein wenig besser zu machen. Und das ist sehr viel


Franziska Conrad