HLZ-Redakteur Harald Freiling sprach mit Professor Nikolaus Meyer, Steve Kothe und Maike Reichartz über das professionelle Selbstverständnis und die Arbeitsbedingungen in den Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit sowie über die Folgen der Pandemie. Da Aussagen zu den Auswirkungen der Pandemie in hohem Maße zeitbezogen sind, sei darauf hingewiesen, dass das Gespräch bereits Ende Mai geführt wurde.
HLZ: Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Arbeitsbedingungen in den Berufsfeldern der Sozialen Arbeit dürfte kaum möglich sein, ohne über die Folgen der Pandemie zu sprechen. Nikolaus, ihr habt das an der Hochschule Fulda in einer gemeinsamen Studie mit der Hochschule Darmstadt und ver.di untersucht…
Nikolaus: … und zwar mit einem klaren Fokus auf die Arbeitsbedingungen. Insbesondere bei der ersten Befragungswelle im ersten Lockdown war die Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen enorm. Viele haben bei den freien Antworten geschrieben: „Schön, dass sich jemand für uns interessiert.“ Entsprechend groß war die Nachfrage nach den Ergebnissen der Studie. Die meisten Einrichtungen waren im ersten Lockdown geschlossen, die Beschäftigten hatten kaum oder nur notdürftige digitale Kontakte zu den Adressat:innen…
Steve: … ich kenne aber auch Kolleginnen und Kollegen, die haben sich mit ihren Klienten auf der Bank im Park getroffen und dort die Formulare fürs Job-Center ausgefüllt…
Nikolaus: … aber das dominierende Gefühl war: Hier herrscht Chaos, wir werden – auch von den Leitungen – allein gelassen. Wir wissen von Erzieher:innen, die wurden als Corona-Streife bei der Stadtpolizei eingesetzt. Professionelle Standards waren plötzlich außer Kraft gesetzt. Entscheidungen über eine Inobhutnahme sollten plötzlich in einer Zoom-Konferenz getroffen werden und Mitarbeiter:innen der Jugendhilfe mussten mit einem gefährdeten Kind über das Handy des Vaters telefonieren. Das Deutsche Jugendinstitut DJI hat – anders als wir - die Leitungen gefragt, da war scheinbar alles in Ordnung…
HLZ: War das beim zweiten Lockdown besser?
Nikolaus: Erst einmal war die Beteiligung der Beschäftigten bei der zweiten Befragung Ende 2020 im Verhältnis zum Befragungszeitraum deutlich schwächer, ich glaube, viele waren einfach erschöpft, vor allem die Beschäftigten an der Basis, die auf einmal die Verantwortung alleine tragen sollten. Gerade im Sozial- und Erziehungsdienst gab es überdurchschnittlich viele Infektionen, auch wenn die Schutzausrüstung im zweiten Lockdown eher verfügbar war. Auch in der Sozialen Arbeit wirkte die Pandemie als Katalysator der Digitalisierung, aber richtig zufrieden waren die Beschäftigten nicht: Es fehlte an geeigneter Hardware für die berufliche Nutzung, oft wirkten die Leitungen als Bremser, aber vor allem sank die Arbeitszufriedenheit, weil viele ihren eigenen hohen Ansprüchen an die Arbeit nicht mehr gerecht werden konnten.
Steve: Die Probleme der geringen Bezahlung, der Überlastung durch Personalmangel, der Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit sind ja nicht neu. Aber sie haben sich noch einmal verschärft und der einzige Schutz in dieser Situation schien von engagierten Betriebsräten auszugehen. Übrigens: Kolleginnen und Kollegen aus dem Kita-Bereich haben berichtet, wie produktiv und befriedigend sie die Arbeit in kleineren Gruppen fanden…
HLZ: … etwas, was wir aus dem Schulbereich gut kennen. Und trotz der guten Erfahrungen mit halbierten Lerngruppen im Wechselunterricht waren die meisten Kolleginnen und Kollegen sehr froh, als endlich wieder Präsenzunterricht möglich war – trotz der großen Klassen.
Maike: Wenn ihr die verschiedenen Arbeitsfelder vergleicht, dann müssen wir uns der Tatsache bewusstwerden, dass es hier klare gesellschaftlichen Prioritäten gibt. Und die werden nicht nach professionellen, sondern nach ökonomischen Gesichtspunkten gesetzt. Dass Kitas und Schulen als erste Institutionen im Bereich von Bildung und Sozialer Arbeit wieder geöffnet wurden, war ja vor allem der Frage geschuldet: Wohin mit den Kindern, damit die Eltern wieder arbeiten können?
Nikolaus: Du hast recht, wenn es um Bildung gegangen wäre, hätte die Öffnung nicht für die Kinder von „systemrelevanten Eltern“ begonnen, sondern für die abgehängten, bedürftigen…
Maike: Die letzten Einrichtungen, die wieder geöffnet wurden, waren die Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, die Jugendzentren. Das hatte auch für die Studierenden zum Teil verheerende Konsequenzen. Die Studiengänge der Sozialen Arbeit haben ja eine starke fachpraktische Komponente. Einige Praxisbereiche, in denen wir unsere 400 Praktikumsstunden absolvieren können, sind weiterhin gesperrt oder nur eingeschränkt zugänglich, die Drogenhilfe zum Beispiel. Wer eine lange Berufserfahrung hat, kann vielleicht eine solche Phase bewältigen, aber wenn man sich einarbeiten will und beispielsweise in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigung oder Behinderung nur digital kommunizieren darf, wird man den praktischen Blick auf die alltägliche Arbeit und den Blick auf die Menschen verlieren.
HLZ: Sind wir denn wieder auf dem Weg zur Normalität?
Maike: Ich sehe, dass viele Studierende ganz große Probleme haben, sich wieder in den Präsenzbetrieb einzubringen. Auch wenn die Schutzkonzepte der Einrichtungen jetzt abgespeckt sind, gibt es eine viel größere Distanz, Praktikant:innen aufzunehmen. Auch das ist Ausdruck der Erschöpfung der Beschäftigten, von der Nikolaus vorhin sprach. Denn gleichzeitig sind die Bedarfe stark gestiegen: Die Armutsrisiken wachsen deutlich, die Problemlagen verschärfen sich. Die Beschäftigten in der Sozialen Arbeit haben Menschen verloren und noch längst nicht zu allen wieder Kontakt…
Steve: Ich habe den Eindruck, dass die, die schon vorher zu den „Abgehängten“ gehört haben, es noch schwerer haben werden, eine Perspektive zu entwickeln, dies aber der Gesellschaft ohnehin weitgehend egal ist. Deshalb kommt es darauf an, dass wir unsere Stimme für diese Menschen erheben und die Verhältnisse kritisieren, die so viel Ausgrenzung, Leid und Armut produzieren. Und gleichzeitig gilt: Wer eine gute, professionelle Sozialarbeit leisten will, muss sich organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen und einen höheren Lohn eintreten.
Nikolaus: Wir sollten die Augen vor den Langfristwirkungen nicht verschließen. Einer meiner Schwerpunkte ist die Arbeit mit Wohnungslosen. Da war nichts mit digitaler Kommunikation. Gleichzeitig ist die gesamte ehrenamtliche Unterstützung weggebrochen und die kommt nicht einfach wieder zurück. In den Kitas hat man in der Not der Pandemie das Fachkraftprinzip außer Kraft gesetzt. Auch das lässt sich nicht so einfach zurückdrehen. Hier gibt es deutliche Begehrlichkeiten bei den Trägern. Ich würde aber gern noch zu einer anderen interessanten Studie kommen. Wir haben im Zeitraum März 2020 bis Januar 2021 288 Pressemitteilungen von Trägern, Verbänden und Interessenvertretungen ausgewertet, die die Bedingungen in der Sozialen Arbeit thematisieren: mangelnde Schutzkonzepte und Schutzmaßnahmen, fehlende digitale Ausstattung, Wechselbäder zwischen Schließung, Teilöffnung und erneuter Schließung – ihr kennt das alle. Bemerkenswert war aber auch die Tatsache, dass diese 288 Pressemitteilungen von 44 verschiedenen Akteur:innen stammten: Eine solche Parzellierung der Sozialen Arbeit kann der Profession nicht gut tun, sie fördert die Deprofessionalisierung und Marginalisierung der einzelnen Sparten, die mühelos gegeneinander ausgespielt werden können.
Steve: Das fängt ja schon damit an, dass wir zum Teil unterschiedliche Auffassungen darüber haben, welche Berufe überhaupt zur Sozialen Arbeit gehören. Als ich einer Kollegin von dem heutigen HLZ-Gespräch zum Thema Soziale Arbeit berichtet habe, sagte sie mir, da fühle sie sich gar nicht angesprochen, denn sie arbeite ja im Kita-Bereich.
Nikolaus: In der Tat wissen wir heute nicht einmal, wieviele Menschen in dieser Profession arbeiten! Die Schätzungen gehen weit auseinander und reichen von 400.000 bis 5 Millionen. Wir haben regulierte Bereiche wie den der Kinder- und Jugendhilfe, wo fast ausschließlich qualifizierte Fachkräfte arbeiten, die einen festen, tarifgebundenen Arbeitsplatz haben, und wir haben völlig deregulierte Bereiche wie den der Arbeit mit behinderten Menschen mit einer Mischung von professionellen Kräften, semiprofessionellen und ganz vielen Ehrenamtler:innen. Die Tätigkeitsfelder reichen von den Kitas und der Schulsoziarbeit über die Kinder- und Jugendhilfe und die offene Jugendarbeit bis zur Schuldnerberatung, zur Arbeit mit Wohnungslosen und Drogenabhängigen und im Justizvollzug.
HLZ: Aber wenn sich die Menschen in diesen Berufen vor allem über ihre Träger und ihre spezifischen professionellen Ansprüche definieren, warum brauchen wir dann ein einheitliches Verständnis oder gar eine einheitliche Instanz, die für die soziale Arbeit spricht?
Nikolaus: Ganz klar: Nur so wird sich an den Arbeitsbedingungen etwas verändern. Wenn etwas viele betrifft, lassen sich Verbesserungen gemeinsam durchsetzen. Das ist eine zutiefst gewerkschaftliche Frage!
HLZ: Brauchen wir dazu eine neue Gewerkschaft für Soziale Arbeit?
Nikolaus: So weit würde ich nicht gehen. Aber vielleicht müssen die bestehenden Gewerkschaften mal über ihren Schatten springen, alte Konflikte und die kleinteilige Konkurrenz überwinden. Das nächste Mega-Thema, der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, steht doch schon vor der Tür und das bei einem eklatanten Fachkräftemangel schon heute!
Maike: Das sehe ich auch so. Ich will Menschen davon überzeugen, wie wichtig die Gewerkschaften sind. Dazu müssen sie sich über gemeinsame Interessen verständigen. Da ist es mir am Ende des Tages egal, ob jemand das Formular der GEW oder von ver.di unterschreibt. Wobei die GEW natürlich die bessere Wahl ist (lacht), sonst wäre ich ja nicht dabei…
HLZ: Wie lässt sich denn ein solches kollektives Verständnis einer gemeinsamen Profession Soziale Arbeit aus eurer Sicht entwickeln?
Nikolaus: Das ist sicher ein ganzes dickes Brett. Schließlich schießen immer neue gegenläufige Projekte aus dem Boden, die das Trennende, Exklusive betonen. Dasselbe gilt für die Träger: Die erwarten vorrangig eine Identifikation mit der Einrichtung. Und daran hat auch die Bildung von Fachbereichen für Soziale Arbeit nichts geändert. Das ist noch ein weiter Weg, bis wir zu den altehrwürdigen Disziplinen wie Medizin oder Jura aufschließen können. Wir kommen nur schwer an Forschungsgelder, weil wir ja „nur angewandte Wissenschaften“ betreiben sollen. Master-Studiengänge gibt es nur in spezialisierten Bereichen, weil der Bachelor als ausreichend angesehen wird, um die Menschen schnell in den Einrichtungen einsetzen zu können. Wer den Master macht, gilt dann als überqualifiziert und findet keine Stelle. Wir kämpfen gerade um das Promotionsrecht, denn selbst die Professor:innen sind ja nur selten vom Fach, die meisten kommen – wie ich – von den Erziehungswissenschaften, aus der Soziologie oder Psychologie.
Steve: Harald, du hast gefragt, wie sich ein gemeinsames Verständnis von Sozialer Arbeit als Dach entwickeln kann. Eine GEW-Fachgruppe Sozialpädagogische Berufe oder ein Frankfurter Netzwerk der Sozialen Arbeit werden alleine nicht ausreichen, denn so richtig viele sind wir da noch nicht. Wir brauchen überzeugende Hebel, um zu verdeutlichen, dass Gewerkschaften wirken können. Für mich ist der SuE-Tarifvertrag im Rahmen des TVöD ein solcher Hebel. Je mehr Beschäftigte unter dem Dach eines Flächentarifvertrags versammelt sind, um so eher können sie spüren und verstehen, dass sie gemeinsame Interessen haben und dass es sich lohnt, für gemeinsame Forderungen zu kämpfen. Deshalb ist der Kampf für die Tarifbindung bei freien Trägern der Sozialen Arbeit für mich ein ganz zentraler Aspekt für die Entwicklung der Professionalität. Darüber hinaus hoffe ich, dass dieses Gespräch Teil eines weitergehenden Austauschs und einer Vernetzung zwischen Wissenschaft und gewerkschaftlicher Praxis sein wird, um das Selbstverständnis der Beteiligten besser zu verstehen und die Profession stärken zu helfen.
Maike: Das ist auch unser Ansatz in der Studierendenarbeit. Wir wollen dazu beitragen, dass die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit besser vernetzt werden, dass die Studierenden über den Tellerrand blicken. Klar, das ist oft die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, nach dem Minimalkonsens…
HLZ: Funktioniert das denn?
Maike: Es ist mühsam. Aber ich sehe auch bei den Lehrenden, nicht bei allen, die Bereitschaft, sich für gewerkschaftliche Themen zu öffnen, uns in die Seminare einzuladen, die Studierenden zu ermutigen, in den Praktika auch danach zu fragen, wie es um die Mitbestimmung, die Tarifstrukturen, die gewerkschaftliche Arbeit in den Einrichtungen bestellt ist. Dann bleibt es für die Studierendengruppen des DGB nicht mehr nur beim Infostand auf dem Campus.
HLZ: Was wären denn solche gemeinsamen Perspektiven und Forderungen, die auch für Studierende relevant sind und mit denen wir sie erreichen können?
Maike: Ein ganz konkreter Anknüpfungspunkt sind die Arbeitsbedingungen in den vielen Praktika, die Studierende in allen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit absolvieren müssen. Viele Einrichtungen kommen gar nicht ohne diese Praktikant:innen aus. Und trotzdem sind sie oft das letzte Glied der Kette, auch in der Pandemie. Bei der Verteilung der Notdienste hieß es dann: „Ihr seid doch jung und weniger bedroht“ oder „Wir können das Stammpersonal nicht noch mehr belasten.“ Wenn die Gewerkschaften hier konkrete Forderungen zur Bezahlung und zur Mitbestimmung stellen, dann spüren die Studierenden, dass es auch um ihre Interessen geht. Vielleicht brauchen wir auch eine neue Kampagne „Generation Praktikum“, wie sie der DGB vor über zehn Jahren durchgeführt hat.
Steve: Dann schreibt doch mal einen Antrag für die nächste Landesdelegiertenversammlung der GEW. Die Fachgruppe Sozialpädagogische Berufe unterstützt euch bestimmt gerne dabei.
Maike: Mal sehen…
HLZ: Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für eure weitere Arbeit.