Jugendhilfe am Limit

Beschäftigte der Sozialen Dienste zwischen allen Stühlen

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

„Kindeswohlgefährdung“, „Inobhutnahme“, „Eingriffsverpflichtung“, „Garantenstellung“ oder „Bereitschaftspflege“: Solche Begriffe bilden nur sehr oberflächlich ab, was den beruflichen Alltag von Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen in der Kinder- und Jugendhilfe ausmacht. Sie arbeiten bei den kommunalen Trägern im Bereich des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) oder – wie in Frankfurt – im Bereich des Kinder- und Jugendhilfe Sozialdienstes (KJS). Harald Freiling sprach für die HLZ mit Mitgliedern der GEW Hessen, die in diesem Bereich arbeiten.
 

Lara-Mia, Chantal, Yagmur, Tayler oder Mohamed: Das Schicksal dieser Kinder und die tatsächlichen oder vermeintlichen Versäumnisse der zuständigen Jugendämter machten Schlagzeilen. Maud Zitelmann, die an der Frankfurt University of Applied Sciences eine der wenigen Professuren an deutschen Hochschulen für Jugendhilfe und Kinderschutz innehat, erinnerte in der HLZ 1-2/2021 an den Tod der acht Monate alten Siri aus Wetzlar, die wenige Wochen nach ihrer Geburt verbrüht, geschlagen und angstschreiend von den amüsierten Eltern gefilmt worden war und mit zertrümmertem Schädel starb. Der Strafprozess gegen die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamts endete zwar mit einem Freispruch, offenbarte aber eklatante Mängel in der Ausbildung und der personellen Ausstattung der Jugendämter. Das interdisziplinäre Frankfurter Modell „Kinderschutz in der Lehre“ hat hier seinen Ursprung (1).
 

Doreen Siebernik, die im GEW-Hauptvorstand den Bereich Jugendhilfe und Sozialarbeit vertritt, machte am Tag der Sozialen Arbeit am 15. März auf die inakzeptablen Zustände in vielen Jugendämtern aufmerksam: „Die Fallzahlen in der Familienhilfe sind deutlich zu hoch. Es schwingt jeden Tag die Sorge mit, Fehler zu machen und eine Kindeswohlgefährdung nicht rechtzeitig erkannt zu haben.“
 

Nach dem Tod von zwei Kindern Anfang Mai 2022 in Hanau, die mutmaßlich von ihrem Vater getötet wurden, erneuerte Maud Zitelmann ihre Kritik im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk: In vielen Jugendämtern sei die Arbeitsbelastung hoch und es gebe zu viele Fälle für zu wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dass ein Betreuer für 40 Kinder und ihre Familien verantwortlich sei, sei keine Seltenheit: „Viele sagen: Auch wenn ich versuche, gut zu arbeiten, habe ich dauernd das Gefühl, ich komme nicht hinterher. Und immer die Angst: Was ist mit den anderen Kindern in meinem Aktenstapel?“
 

Sicher ist die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, die Herausnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen aus der Familie gegebenenfalls auch mit staatlicher Gewalt, eine besonders gravierende Entscheidung, doch sie war allein in Hessen im Jahr 2020 in fast 2.500 Fällen als Ultima Ratio offensichtlich unabdingbar (siehe Tabelle).
 

Inobhutnahme als Ultima Ratio

Kinder im Alter bis sechs Jahre werden vorzugsweise in einer Pflegefamilie untergebracht, nur selten in einer stationären Einrichtung (siehe Tabelle). Trotz der großen Verantwortung und in dem Wissen, dass das Kind nur eine begrenzte Zeit in der Familie bleiben wird, gibt es nach dem Bericht von Kolleg:innen aus dem Bereich der Bereitschaftspflege genug Familien, die hier helfend eingreifen. Auch ihre verantwortungsvolle Aufgabe, die Familien auszuwählen, zu begleiten und zu unterstützen, wurde durch die Pandemie erschwert:
„Elternabende, Supervision oder regelmäßige Feste für die Pflegefamilien ausschließlich in digitaler Form: Das geht kaum.“
 

Alle Kolleginnen und Kollegen aus der Kinder- und Jugendhilfe berichten von dem enormen Druck, zahlreiche Fälle parallel bearbeiten und zugleich im Krisenfall schnell und richtig handeln zu müssen und sie haben das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen: „Handeln wir zu früh, drohen die Eltern, an die Presse zu gehen, denn es sei ja noch gar nichts Schlimmes passiert, warten wir ab, wird es uns später zum Verhängnis.“
 

Dass sich das auch abends und nachts nicht abschütteln lässt, versteht sich von selbst: „Wir sehen verdammt viel Elend und das mit der professionellen Distanz ist nicht immer einfach. Dazu kommt, dass wir auch immer wieder mit Beschimpfungen und Bedrohungen konfrontiert werden.“
 

Die Sozialrathäuser in Deutschland werden flächendeckend sicherheitsmäßig aufgerüstet, auch die Beschäftigten der Kinder- und Jugendhilfe rufen bei Kontakten mit Problemfamilien regelmäßig den Sicherheitsdienst hinzu (2).
 

Ein anderes Thema ist die hohe Verrechtlichung der Materie. Niemand stellt den Rechtsstaat und die Möglichkeit in Frage, dass die Entscheidung der Verwaltung durch eine Gericht überprüft werden kann. Aber ein ungutes Gefühl ist deutlich zu spüren. Wer kann vor einer Entscheidung in Ruhe  jeden Hintergrundaspekt beleuchten oder sich die Zeit nehmen, die Gerichte für sich beanspruchen? Das macht hilflos und manchmal auch wütend.
 

Meine Gespräche machen deutlich, dass sich die Kolleginnen und Kollegen im hohem Maße als Anwälte der Kinder verstehen, als „Garanten“ ihrer Unversehrtheit, ihrer Grundrechte und ihrer Zukunft. Ihr Gefühl, dass das Pendel der Gerichte wieder stärker in die Richtung der Rechte der Eltern und der elterlichen „Gewalt“ ausschlägt, trägt ebenso wenig zur Berufszufriedenheit bei wie das ausufernde Berichtswesen: Alles müsse akribisch dokumentiert werden, auch für die rechtssichere Argumentation gegenüber dem Gericht. Diese Zeit fehlt dann bei der Arbeit mit den Familien, Kindern und Jugendlichen.
 

Jugendhilfe und Pandemie

Der Rückgang der Fallzahlen in der Pandemie wird inzwischen von einem deutlichen Anstieg der Beratungsanforderungen und Gefährdungsmeldungen überholt. Seit dem Frühjahr 2022 steigt die Nachfrage nach Plätzen für Kinder, die Inobhut genommen werden, nach der Wahrnehmung der Kolleg:innen wieder deutlich an.
 

Die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten sind auch Gegenstand eines Gesprächs in dieser HLZ (S.7ff.) und des Artikels von Anna Elsässer und Steve Kothe (S.12f.). Fallbesprechungen konnten nur noch digital stattfinden, das „Vier- bis Sechsaugen-Prinzip“ konnte auf Grund hoher Krankenstände nicht eingehalten werden. Auch für die Eltern wuchs der Stress: Direkte Kontakte der Eltern, deren Kinder aus der Familie genommen wurden, waren im Lockdown eingeschränkt und zeitweise ganz ausgeschlossen. „Dabei war uns bewusst, dass wir uns damit in einer rechtlichen Grauzone bewegten, und wir  mussten  jederzeit mit einer Anweisung des Familiengerichts rechnen“, berichtet eine Beschäftigte aus dem Jugendamt Frankfurt.
 

Dass dies keine subjektiven Eindrücke sind, bestätigen die Studien von Nikolaus Meyer und Elke Alsago über „professionsbezogene Folgen veränderter Arbeitsbedingungen in der Corona-Pandemie“ (3). Die Beschäftigten berichten übereinstimmend davon, dass Termine von den Adressat:innen nach Ausbruch der Corona-Pandemie häufiger abgesagt und Hilfemaßnahmen früher abgebrochen wurden. Nikolaus Meyer berichtet in der HLZ über die absurde Erfahrung, mit einem gefährdeten Kind nur über das Handy des Vaters telefonieren zu können, statt ein direktes Gespräch in einem geschützten Rahmen zu führen. Fachteams zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen wurden ausgesetzt, Vorgesetzte und Kolleg:innen waren im Home-Office schwerer erreichbar, Berufsanfänger:innen und Seiteneinsteiger:innen waren auf sich selbst gestellt: „In dieser Gemengelage fühlen sich 62,1 % der Beschäftigten belastet oder sogar extrem belastet. Insofern verschlechtern sich aus Sicht von jedem Zweiten die Arbeitsbedingungen und entsprechend denken 29,9 % über einen Stellen- sowie 16,2 % sogar über einen Berufswechsel nach.“
 

Zwar gaben 59 % der in der ACAJU-Studie befragten Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe dem Krisenmanagement der Einrichtung die Noten sehr gut oder gut, aber 86 % stimmten der Aussage ganz oder teilweise zu, dass die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung der Kinder- und Jugendhilfe in der Pandemie-Situation besonders deutlich wird (4). Diese Sichtweise wird von all meinen Gesprächspartner:in­nen geteilt. Warum sich die Wertschätzung und der Respekt für einen Diplom-Ingenieur und dessen Bezahlung so gravierend von der einer Diplom-Sozialpädagogin unterscheiden, will ihnen nicht in den Sinn: „Das wird dann doch auch etwas mit dem Frauenanteil in diesem Beruf zu tun haben und der Auffassung, man müsse eine solch schöne Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eigentlich aus purem Altruismus tun. Unser Beitrag zum Wohl der Kinder und zum sozialen Frieden wird höchstens mit Applaus bedacht.“

Harald Freiling


(1) Auf eine Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Lisa Gnadl, Nadine Gersberger und Dr. Daniela Sommer zum Frankfurter Modell „Kinderschutz in der Lehre“ (Drucksache 20/8028) verwies Wissenschaftsministerin Angela Dorn am 14. 6. 2022 auf das Fachforum „Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung als Baustein in Ausbildung und Studium“. Download
(2) Der DGB thematisiert dies in seiner Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch“. Die im Auftrag des Bundesinnenministeriums verfasste Studie „Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst“, die im Juni 2022 vorgestellt wurde, bestätigt die Missstände. Download der wichtigsten Ergebnisse
(3) Sozial Extra 3/2022. Download
(4) J.Teten: Krisenmanagement und Arbeitsbelastung in der Kinder- und Jugendhilfe angesichts der Covid-19 Pandemie. In: Jugendhilfe 2/2021, S.184-190. Download