Hilfen zur Erziehung

Aus dem Arbeitsalltag der Kinder- und Jugendhilfe

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Die ambulante Hilfen zur Erziehung – ein randständiges und vernachlässigtes Organisationsfeld in der GEW Hessen oder prekäre Lebensverhältnisse - prekäre Arbeitsbedingungen: Spiegeln sich die Verhältnisse der Menschen, mit denen wir arbeiten, in unseren Arbeitsbedingungen wieder und haben sie Auswirkungen auf unsere Organisationsfähigkeit als Arbeitnehmer:innen?

 

Das Arbeitsfeld einer Gewerkschaft, die sich als Interessenvertretung von Beschäftigten sieht, die im Sozial- und Erziehungsdienst tätig sind, umfasst ein sehr breites und heterogenes Berufsspektrum. Erziehung, Bildung und Fürsorge finden in verschiedensten Institutionen und Kontexten statt, die unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben im Rahmen der Sozialisation übernehmen. Alles findet in Ergänzung zur Familie statt, welcher schon seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland – im Gegensatz zu anderen Nationen – die Kern-Pflichten und Rechte zur Erziehung übertragen wurde (1). Dieser Grundsatz bestimmt die Strukturierung von Erziehungs- und Bildungsangeboten unserer Gesellschaft und inszeniert Familie als besonders schützenswerte Einheit im gesellschaftlichen Kontext, wie es auch im Grundgesetz Artikel 6 verankert ist. Was aber, wenn die Familien trotz der professionellen unterstützenden Institutionen wie Kitas, Schulen und Horte in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Erziehung und Bildung an ihre Grenzen kommen oder die Institutionen die Erziehungsprobleme sogar mit verursachen? 

 

Im Sozialgesetzbuch VIII §27 wird festgelegt, dass Menschen, die aus rechtlicher Sicht Verantwortung und Sorge für einen jungen Menschen tragen, ein sogannter Personensorgeberichtigte:r, Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen kann, wenn die Erziehung zum Wohl des jungen Menschen nicht gesichert ist. Hier unterstützt das Jugendamt, indem es öffentliche, konfessionelle oder freie Träger beauftragt Hilfen zur Erziehung durchzuführen und für die dem Fachkräftegebot entsprechend je nach Hilfeart in der Regel Sozialarbeiter:innen, Sozial- oder Heilpädagog:innen, Erzieher:innen oder Heilerzieher:innen eingesetzt werden. 

 

Dieses Feld der Sozialen Arbeit sichtbarer innerhalb der GEW zu machen, dazu soll dieser Artikel dienen. Dafür nehmen wir im Folgenden drei Bereiche der Hilfen zur Erziehung in den Fokus, nämlich die intensive sozialpädagogische Einzelfallbetreuung (§35 SGB VIII), die sozialpädagogische Familienhilfe (§31 SGB VIII) und die Erziehungsbeistandschaft (§30 SGB VIII), die neben der Erziehungsberatung (§28 SGB VIII)  zu den ambulanten Hilfen zur Erziehung gehören. Darüber hinaus zählen zu den Hilfen zur Erziehung (teil-)stationären Hilfen wie die Tagesgruppe (§32 SGB VIII), die Vollzeitpflege (§33 SGB VIII) und die Heimerziehung (§34 SGB VIII). Verschiedene Hilfeformen können kombiniert werden, soweit es dem erzieherischen Bedarf entspricht. Eine Kombination wird jedoch selten angewandt. Vorrangig gilt es den Verbleib in der Familie oder die Rückkehr dorthin zu unterstützen, bevor eine längerfristige Unterbringung in einer anderen Familie oder in einem Heim stattfindet, weil das Kindeswohl in der Familie trotz ambulanter oder teilstationärer Hilfen nicht mehr sichergestellt werden konnte oder der/die Jugendliche darauf vorbereitet werden soll ein selbständiges Leben führen zu können. Neben dem Teilarbeitsfeld ambulanter Hilfen, sollen in dem Artikel vor allem auch die entsprechenden Arbeitsbedingungen der Fachkräfte beleuchtet werden. 

 

Zum 31.12.2020 erhielten in Deutschland ca. 700 000 (in Hessen: ca. 40 000) Kinder, Jugendliche und junge Volljährige Hilfen zur Erziehung, davon ca. 210 000 (Hessen: ca. 8 000) im Rahmen von Sozialpädagogischer Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft und Intensiver Sozialpädagogischer Einzelbetreuung, wobei weit mehr als die Hälfte davon durch die Sozialpädagogische Familienhilfe betreut wurden. Die Tendenz aller Hilfen insgesamt war erstmals nach vielen Jahren sinkend, vermutlich deswegen, weil weniger Hilfen, aufgrund der Kontaktbeschränkungen wegen der Pandemie, eingerichtet worden sind. Es ist davon auszugehen, dass die Zahlen wieder steigen werden, zumal durch die Isolation, Vernachlässigung und Vereinsamung vieler Kinder und Jugendlicher während der Pandemie es einen enormen Hilfebedarf zu geben scheint. (2)

 

Maßnahmen im Sinne der Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff. SGB VIII) werden ausschließlich durch das Jugendamt in Auftrag gegeben. Seit der Novellierung im Form des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) 2021 veränderten Jugendämter und Sozialämter, die für Eingliederungshilfe von Kindern und Jugendlichen zuständig sind, ihre Struktur. Einige von diesen sind dem Jugendamt untergeordnet, einige noch an die Sozialämter angegliedert. Dies ist besonders dann relevant, wenn Kindern und Jugendliche eine Eingliederungshilfe im Rahmen des Paragrafen 35a SBVIII zu Verfügung gestellt wird, welcher als Grundlage eine besondere Bedürftigkeit und Bedrohungslage hinsichtlich einer emotionalen oder psychischen Behinderung beim betroffenen Kind voraussetzt. Alle anderen Maßnahmen beauftragt die Abteilung "Allgemeine Soziale Dienst" (ASD) des Jugendamtes der Kommune. 

 

Der Kontakt zwischen den Mitarbeitenden des Jugendamts und der Familie kann auf unterschiedliche Weisen hergestellt werden: Die Eltern, ein Elternteil oder das Kind oder der/die Jugendliche selbst können bzw. kann sich hilfesuchend an das Jugendamt wenden, es kann zu Meldungen von Institutionen kommen wie bspw. Kitas oder Schulen, die Unterstützungsbedarf oder sogar eine Gefährdungslage beobachten, aber auch durch Institutionen des Gesundheitswesens wie Kinderarztpraxen oder Kinder- und Jugendlichenpsychiatrien. Es kommt dann zu einer Vorstellung der Familie beim Jugendamt und ein Kennenlernen. Die Fachkräfte des ASD schätzen dann die Situationen und den Bedarf in den Familie ein und werden dann passende Hilfsmaßnahmen installieren, welche im SGB VIII aufgelistet sind. 2019 nahmen fast drei Prozent der unter 21-Jährigen eine ambulante Maßnahme mit Ausnahme der Erziehungsberatung in Anspruch (3). Die Hilfe können entweder freiwillig in Anspruch genommen werden oder eine Auflage des Familiengerichtes sein, was auch Einfluss auf das sogenannte Arbeitsbündnis zwischen Familien, Kindern und Jugendlichen und Anbieter:in der Hilfemaßnahme nehmen kann. Alle ambulanten Hilfen zur Erziehung sind jedoch erst einmal vorrangig eine Ergänzung zur Erziehungsarbeit in der Familie. Die Frequenz der Termine können variieren von monatlich bis tägliche Termine, sie können in regelmäßigen Rhythmen stattfinden oder von Termin zu Termin gemäß dem aktuellen Bedarf vereinbart werden. Die Bedarfe orientieren sich am Angebot des Trägers und an den Bedürfnissen der Kinder und Familien. Sie werden in Form von Zielen in Hilfeplangesprächen zwischen Familien, Trägern und Jugendämtern vereinbart. Diese finden alle halbe Jahre statt und dienen dazu, Entwicklungsverläufe zu erfassen sowie Ziele ggf. anzupassen. 

 

Je nach Verlauf der Arbeit mit den Kindern, Jugendlichen und Familien können die Hilfeplangespräche der einzige Kontakt zu den zuständigen Sachbearbeiter:innen des Jugendamts sein oder es finden noch weitere Absprachen und Fachgespräche zwischen den Fachkräften statt. Neben der Arbeit an den Erziehungskompetenzen der Eltern und der Entwicklungsunterstützung sowie Stärkung der Kinder und Jugendlichen ist die Vernetzungsarbeit mit Institutionen Teil der Arbeit von Trägern der Hilfen zur Erziehung. 

Ganz konkret sieht die pädagogische Arbeit mit den Kindern, Jugendlichen und Familien letztlich immer unterschiedlich aus und hängt von den theoretischen sowie konzeptionellen Hintergründen der Träger ab. Diese richten sich jedoch immer an den Bedarfen der Klientel aus: So kann es darum gehen, mit Jugendlichen innerhalb der pädagogischen Beziehung oder über Gespräche über deren Alltag ihre sozialen Kompetenzen oder ihre Individualisierung zu stärken. Des Weiteren kann der Blick unter anderem auch auf dem Schulalltag von Kindern liegen, wo sie noch Bedarfe der Unterstützung haben. Ein Ziel kann auch sein, die Kinder in den Bereichen, in denen sie sich selbstständig und selbstwirksam erleben können, weiter zu stärken. In der Elternarbeit kann es einmal darum gehen, die elterliche Haltung zu schärfen und ihre Kompetenzen zu fördern, diese gegenüber den Kindern zu vertreten. In anderen Familien kann der Fokus darauf liegen, einen fürsorglichen und realistischen Blick auf ihre Kinder zu erarbeiten, möglicherweise persönliche Wünsche gemeinsam zu revidieren und positive Entwicklung wahrnehmen zu können. Diese Aufzählung ist nicht vollständig und dient nur beispielhaft einen Ausschnitt zu liefern, mit welchen Themen sich die Fachkräfte der ambulanten Hilfen zur Erziehung auseinandersetzen.

 

Ein Teil der Hilfen findet bei vielen Trägern direkt in den Familien statt, besonders im Arbeitsfeld der sozialpädagogischen Familienhilfe. So besuchen Kolleg:innen die Familien zuhause und bieten dort direkt in ihrem Alltag ihre Unterstützung an. Bei anderen Maßnahmen finden die Treffen im öffentlichen Raum oder aber in den Räumlichkeiten des Anbieters statt. Die Besonderheit, dies vor Ort in den privaten Bereichen der Familien durchzuführen, bringt auch eine besondere Herausforderung für die Fachkräfte mit sich: Die Grenze zwischen Nähe und Distanz droht wie in kaum einem anderen Feld zu verschwimmen, zumal Kolleg:innen oftmals alleine in den Familien arbeiten. Selbst dort wo ein sogeannntes Tandem aus zwei oder vereinzelt sogar mehr Fachkräfte eingerichtet ist, das für eine Familie zuständig ist, klappt es oft nicht die einzelnen Fälle der Fachkräfte so zu terminieren, dass man tatsächlich auch gemeinsam in die Familie gehen kann. Das kann u.a. zu einer "Einzelkämpfer:innen-Mentalität" bei Fachkräften führen, nahezu rund um die Uhr und manchmal sogar im eigenen Urlaub für Klient:innen erreichbar zu sein. Wird dies nicht von dem Rahmenbedingungen Seiten des Arbeitgebers oder durch die Leistungsvereinbarungen mit dem Jugendamt entsprechend abgefangen, bleibt die Fachkraft mit den unmittelbaren Bedarfen der Familie alleine. Das bedeutet dann unentgeltliche Leistungen, eine extreme psychische Belastung und das Verschwimmen von Arbeitszeit und Freizeit bis hin zur Unkenntlichkeit für die entsprechende Fachkräfte. In diesem Zusammenhang wäre aus gewerkschaftlicher Sicht wichtig vor allem die institutionellen Bedingungen zu beleuchten, die dazu führen, dass Fachkräfte in dieses Dilemma geraten und was man dagegen tun kann.

 

Die ambulanten Hilfen zur Erziehung finden stets in Ergänzung zum Kita- und Schulalltag statt, was bedeutet, dass diese dann erfolgen kann, wenn Kinder und Jugendlichen nicht in den jeweiligen Institutionen sind. Für die Fachkräfte, die im jeweiligen Bereich arbeiten, bedeutet dies häufig Termine in die Nachmittags- und ggf. Abendstunden hinein. So haben bspw. die Pläne hinsichtlich eines Ganztags auch deutliche Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen von Angestellten der Hilfen zur Erziehung und sollten bei GEW internen Diskussionen immer mitgedacht werden. Auch wenn die Schüler:innen länger Zeit in der Schule verbringen, tragen weiterhin die Eltern in den meisten Fällen die Sorge und Verantwortung für Erziehung und Bildung. Ambulanten Hilfen zur Erziehung werden weiterhin ein wichtiges Angebot bleiben, um gute Entwicklungsbedingungen für Kinder zu fördern und sollten immer in der Diskussion um multiprofessionelle Teams und Kooperation zwischen Schule und den Institutionen der Jugend- und Familienhilfe mitgedacht werden.

         

Im Folgenden soll nochmal mehr der Fokus auf die Arbeitsbedingungen in den ambulanten Hilfen zur Erziehung gerichtet werden. In den vergangenen Jahrzehnten wurde auf Grundlage des sogenannten Subsidiaritätsprinzips die meisten Hilfen zunehmend durch freie Träger erbracht. Zu den freien Trägern gehören gemeinnützige Träger, konfessionelle (z.B. Caritas, Diakonie und Zentralwohlfahrtsstelle) und nicht-konfessionelle Träger (z.B. AWO, ASB und DRK) und nicht-gemeinnützige, gewerbliche Träger. Ca. 244 000 Angebote der Hilfen zur Erziehung (davon ca. 70 000 Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft und intensive pädagogische Einzelbetreuung) wurden zum 31.12.2020 von sogenannten freien Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt, ca. 200 000 von öffentlichen Trägern (davon ca. 29 000 Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft und intensive pädagogische Einzelbetreuung), ca. 127 000 von konfessionellen Trägern (davon ca. 18 000 Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft und intensive pädagogische Einzelbetreuung) und ca. 32 000 von gewerblichen Trägern (davon ca. 9 000 Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft und intensive pädagogische Einzelbetreuung). (2)

 

Während öffentliche Träger dem TVöD unterliegen, wird dieser bei vielen freien Trägern nicht angewandt und selbst wenn es zumindest einen eigenen sogenannten Haustarifvertrag gibt, sind dessen Regelungen für die Beschäftigten im Vergleich zum TVöD meistens weniger gut, gerade auch was die Entlohnung betrifft. Die Konkurrenz unter den freien Trägern kann daher zu Lohndumping führen. Zwar gibt es sogenannte Tariftreueerklärungen der öffentlichen Auftraggeber, dass sie nach ausreichend Gelder zur Verfügung stellen würden, wenn Träger erklären, dass sie ihre Beschäftigten nach oder auf dem Niveau des TVöD bezahlen, aber inwiefern das kontrolliert wird, scheint unklar und ändert auch erst einmal nichts daran, wenn Träger in Leistungsvereinbarungsverhandlungen nicht die entsprechenden Gelder fordern. Gut für die öffentlichen Kassen, schlecht für die Beschäftigten: Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. Im Extremfall bedeutet das, wie Maud Zitelmann in ihrem Artikel 2021 in der HLZ resümiert "Kinderschutz kostet Geld; fehlt er, kostet dies Leben." Daher ist eine gewerkschaftliche Forderung, dass bei entsprechenden Verhandlungen auch Gewerkschaftsvertreter:innen aus dem jeweiligen Betrieb dran teilnehmen, und dass der sogenannte Tendenzschutz im Betriebsverfassungsgesetz u.a. für Träger der Sozialen Arbeit aufgehoben wird, damit Betriebsräte Wirtschaftsausschüsse im Betrieb einrichten können, um die Arbeitgeber entsprechend kontrollieren zu können. Wie in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit auch sei aber auch auf die kirchlichen Träger hingewiesen, die einen nicht unerheblichen Teil der Hilfen ausmachen, in denen aber durch das kirchliche Sonderrecht eine gewerkschaftliche Organisierung und Mitbestimmung de facto verunmöglicht wird und die Beschäftigten dadurch der Willkür der Arbeitgeber noch einmal mehr ausgesetzt sind, auch wenn sie zumindest die Möglichkeit besitzen Mitarbeitervertretungen zu gründen. Die gewerkschaftliche Forderung muss weiterhin sein, Abschaffung des kirchlichen Sonderrechts.      

 

In der Kooperation mit dem Jugendamt können wir unterschiedliche Arbeitsbedingungen beobachten. Es kommt jedoch immer mehr dazu, dass Kolleg:innen überlastet sind. Es kommt dazu, dass sie zu wenig Zeit den Bedarf gründlich zu ermitteln und eine Hilfe vor allem deswegen zu installieren, damit irgendwie das Kindeswohl zumindest formal als gesichert gilt. Hinzu kommt eine hohe Fluktuation: Oft viele junge noch wenig erfahrene Kolleg:innen tendieren erneut zu einen baldigen Arbeitsplatzwechsel aufgrund von Personalmangel, Arbeitsbelastung und Kostendruck. Dies wirkt sich wiederum auf die Qualität der Bedarfsermittlung und Begleitung von Hilfemaßnahmen aus. Dabei wäre es gerade wichtig, dass das Jugendamt als Auftraggeber ein stabiler und verlässlicher Ansprechpartner für alle an der Hilfe Beteiligten ist, der dem Ganzen einen haltenden Rahmen verleiht. Hier fordern wir entsprechend Ressourcen zu mobilisieren und Arbeitsbedingungen entsprechend zu gestalten, zumal mit der Corona-Pandemie sich die Situation auch auf den Jugendämtern weiter verschärft zu haben scheint. (4)

 

Wird nun ein Bedarf von Seiten des Jugendamtes entdeckt, muss nun in der kommunalen Trägerlandschaft ein geeigneter Anbieter gefunden werden. Hieraus ergeben sich Schwierigkeiten, die durch die Konkurrenz der Träger für die Kolleg:innen entstehen können: Undurchsichtige Leistungsvereinbarungen und fehlende Tariftreue. Es scheint vollkommen unterschiedliche von den einzelnen Trägern gehandhabt zu werden, was als Arbeitszeit abgerechnet werden darf und was nicht, oft mit dem Verweis was das entsprechende Jugendamt refinanzieren würde oder nicht, auch wenn andere gesetzliche Regelungen diesbezüglich dem Entgegenstehen würden, zum Beispiel nur anteilige Anerkennung von Fahrtzeiten als Arbeitszeit oder lediglich die Anerkennung einer pauschalen Arbeitszeit beim Ausfall eines Termins mit Klienten. Die Konkurrenz scheint auch in manchen Betrieben dazu zu führen, dass Hilfen, ohne die Möglichkeit im Team im Rahmen einer Fallvorstellung überlegen zu können, wer diese wie am besten durchführen könnte, von einem auf den anderen Tag angenommen werden muss, mit Verweis auf die sogenannte Auslastung aller Beschäftigten. Die aktuelle Auslegung des Subsidiaritätsprinzip führt zu einem Mangel, zu Risiken und einen Leistungsdruck unter den freien Trägern der Jugendhilfe, welcher nicht durch geeignete gesetzliche Rahmen gesichert werden, sondern auf die freien Träger und dann wiederum an deren Beschäftigten weitergegeben werden. Wenn Fahrtzeiten nicht als Arbeitszeiten angerechnet werden, führt das zu einer Reduktion der Vor- und Nachbereitungszeit einer:s Mitarbeiterin:s und damit zu einer höheren Arbeitsbelastung.

 

Zudem fällt auf, dass freie Träger nicht konsequent Kolleg:innen Arbeitsmaterialien, die benötigt werden, zu Verfügung stellen oder stellen können. Es steht oft kein eigener Arbeitsplatz oder entsprechende Arbeitsmittel zur Verfügung. Somit sind sie dazu gezwungen eigenes Material zu benutzen, anstatt dass ihnen Entsprechendes finanziert wird. So zum Beispiel ein Auto, ein Smartphone oder ein Laptop. Verschärfend kommt hinzu, dass durch zunehmend ganztägliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einem oft dequalifizierten Angebot es für Familienhelfer:innen  immer schwieriger wird  eine Stelle in Vollzeit alleine in diesem Feld wahrzunehmen, was ein  zusätzlichen  Druck erzeugen kann und was dazu führt,  dass man zu Abend- oder Wochenendzeiten arbeitet ohne jedoch Zuschläge zu bekommen. Gewerkschaften sollten die Beschäftigten aufklären, ermutigen und darin unterstützen, dass sie Betriebsräte gründen und wählen, die sich um die Durchsetzung entsprechender gesetzlicher Regelungen u.a. zu Arbeitszeiten oder Gesundheitsschutz im Betrieb kümmern.

 

Zudem sollte es eine interdisziplinäre Diskussion darüber geben, ob es für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern noch sinnvoll sein mag, zu diesen Zeiten pädagogische Unterstützung zu erhalten oder dies eher noch eine zusätzliche Belastung darstellen kann. So bedeutet dies jedoch auch möglicherweise, dass die Angebote der Hilfen zur Erziehung auch immer mehr Zeit und Raum im Rahmen des Schulalltags erhalten müssen. Wie schon am Anfang erwähnt, ist dies aus unserer Sicht eine wichtige Komponente der Diskussion für die Ausgestaltung des Ganztagsangebots in naher Zukunft. Zu einem guten interdisziplinären Austausch würde sicherlich nicht zuletzt auch gehören welche Bedingungen es sind, die dieses Schulsystem zu einem der nach oben undurchlässigstem Schulsystem im internationalen Vergleich macht und wie man dem gemeinsam entgegenwirken kann.     

 

Während die Bedeutung von Kita und Schule, der Personalmangel und die Arbeitsbelastung für die Beschäftigten in der Öffentlichkeit mittlerweile zurecht immer wieder Thema sind, auch wenn sich kaum zufriedenstellende Lösungen abzuzeichnen scheinen, sind die ambulanten Hilfen zur Erziehung, wie viele andere Bereiche der Sozialen Arbeit, kaum sichtbar, was daran liegen mag, dass diese Bereiche oft mit Menschen und Familien arbeiten, die in prekären Verhältnissen leben, keine starke Lobby haben und oft die ersten sind, bei denen weitere Einsparungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die unterschiedlichen Leistungsvereinbarungen, zerstückelte Trägerstrukturen in der unterschiedliche oder gar keine Tarifverträge gelten und in der es mal mehr, mal weniger Mitarbeitervertretungen, Personal- und Betriebsräte gibt, die sich für die Umsetzung von Arbeitnehmer:innenrechte einsetzen und eine Arbeitsstruktur bei der man oft alleine, flexibel und dereguliert arbeitet, erschwert es sicherlich vielen ein gemeinsames Professionsverständnis zu entwickeln für dessen Qualität man u.a. auch bereit ist auf die Straße zu gehen. Diese Bedingungen sollten aus gewerkschaftlicher Perspektive nochmal genauer untersucht werden.     

          

Wie in allen Bereichen der Daseinsfürsorge muss gegen den Personalmangel und Dequalifizierung vorgegangen werden, durch die Ausbildung von mehr Fachkräften und das kann sicherlich nur dadurch gelingen, dass diese Berufe attraktiver werden und dazu gehört auch eine bessere Bezahlung. Nur so lassen sich Arbeitsbedingungen verbessern, Burn-Outs und Abwanderung in andere Berufe, worunter nicht zuletzt die Klienten wiederum leiden, langfristig verhindern. Um das zu erreichen müssen Kolleg:innen bei Trägern der Kinder- und Jugendhilfe sich gewerkschaftlich organisieren, Betriebsgruppen bilden und Mitarbeiter:innenvertretungen, Betriebs- und Personalräte gründen und sich dafür einsetzen, dass gewerkschaftliche Stimmen auch in Jugendhilfeausschüsse und Arbeitsgemeinschaften gehören finden. Darüber hinaus gilt es sich zwischen allen Bereichen der Daseinsfürsorge weiter zu vernetzen, um gemeinsam für bessere Verhältnisse zu kämpfen. Ein beschwerlicher Weg, wenn man sich die Vereinzelung anschaut, aber ein Weg der unerlässlich ist, wenn man den Wert einer Gesellschaft daran bemisst, wie sie mit den Schwächsten unter ihnen umgeht.


(1) https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26682/die-halbtagsschule-in-deutschland-ein-sonderfall-in-europa/?p=1#footnote-target-6 (03.05.2022)

(2)  https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Jugendarbeit/Publikationen/Downloads-Jugendarbeit/erzieherische-hilfe-5225112207004.pdf?__blob=publicationFile (26.06.2022)

(3) http://www.hzemonitor.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/user_upload/documents/Monitor_Hilfen_zur_Erziehung_2021.pdf (04.05.2022)

(4) Meyer, Nikolaus; Alsago, Elke (2021): Professionelle Bedingungen in Gefahr? Empirische Befunde zur Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendhilfe. Forum Jugendhilfe [2], S. 72- 78