Der Offene Dialog

Sozialpädagogische Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen

HLZ 9-10/2022: Soziale Arbeit

Die Arbeit mit Patient:innen, die unter Psychosen leiden, in einer anderen Realität zu leben scheinen, vielleicht halluzinieren oder Stimmen hören und von außen nur noch schwer erreichbar sind, gehört zu den schwierigsten Aufgaben von sozialpädagogischen Fachkräften in Wohnheimen, Reha-Werkstätten, Betreutem Wohnen oder Kliniken. Michael Köditz, Lehrer für Sozialpädagogik, stellt den „Offenen Dialog“ als alternativen Ansatz in der Arbeit mit psychisch Erkrankten vor. Sarah Berens berichtet auf Seite 18 aus der Praxis.


Die Psychiatrie setzt vorwiegend auf Medikation, wobei die Einstellung in der Regel stationär erfolgt. Nach einer Besserung der Symptome kommen soziotherapeutische und pflegerische Maßnahmen hinzu, die helfen sollen, wieder ein eigenständiges Leben zu führen. Die Hierarchie ist klar: Was die Patient:innen „haben“ und wie sie zu behandeln sind, definieren Ärzt:innen. Leider wirken Medikamente oft gar nicht oder nur eingeschränkt oder sie dämpfen den Menschen, ohne die Wahninhalte zu reduzieren. Gleichzeitig verursachen sie heftigste Nebenwirkungen mit kognitiven und emotionalen Einschränkungen oder motorischen Störungen. Gerade bei stark chronifizierten Patient:innen sollen sozialpädagogische Fachkräfte bei eingeschränkter Handlungsmacht dann retten, was zu retten ist.
 

Alternativen zu Medikation und Hospitalisierung

In West-Lappland in Finnland, einem Gebiet mit einem besonders hohen Anteil schizophrener Patient:innen, entwickelten Fachkräfte, die von Helm Stierlin systemisch geschult wurden, mit dem „Offenen Dialog“ eine neue Arbeitsweise mit Heilungsraten, die in der westlichen Welt einzigartig sind: Die Zahl chronifizierter Patient:innen sank rapide, und auch die Medikamentengabe konnte massiv reduziert werden. Schlecht für die Pharmaindustrie, aber gut für die Patient:innen! Auch die Fachkräfte berichteten über eine sehr viel höhere Arbeitszufriedenheit, wie ein Film des New Yorker Psychiaters Daniel Mackler zeigt. (1)


Der Offene Dialog geht davon aus, dass akute Psychosen als schwerwiegende Lebenskrise in einem Beziehungsumfeld zu verstehen sind. Die Behandlung orientiert sich an den Bedürfnissen der erkrankten Menschen. Es gibt eine rund um die Uhr erreichbare telefonische Anlaufstelle ohne Warteschleifen, Termine für ein sogenanntes Netzwerkgespräch werden innerhalb der nächsten 24 Stunden angeboten. Die Sitzung findet dort statt, wo die Klient:innen es wünschen, in den meisten Fällen bei ihm oder ihr zu Hause. Zum Termin kommt ein multiprofessionelles Team, in dem alle gleichberechtigt mitarbeiten und das aus mindestens zwei Therapeut:innen besteht. Menschen aus dem Umfeld der Klient:innen sollen teilnehmen, meist aus der Familie bzw. dem Freundeskreis. Die Einbeziehung mehrerer Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen trägt entscheidend zu einem tieferen Verständnis der krisenhaften Situation bei. Die Gespräche dauern 1,5 Stunden, so dass genügend Zeit für alle vorhanden ist. Sie finden in den ersten 14 Tagen meist täglich statt, danach in größeren Abständen, solange die Klient:innen es wünschen. Der höhere Personalbedarf rechnet sich, weil Klinikaufenthalte und Hospitalisierungen reduziert werden konnten.


Mit der neuen Herangehensweise können Menschen mit paranoider Schizophrenie, die starke Ängste haben, sehr viel besser erreicht werden: Den Klient:innen wird stets mit Respekt begegnet, bei allen Schritten wird ihre Erlaubnis eingeholt, Grenzen werden respektiert. Es geht darum, die Klient:innen ernst zu nehmen, ihre Einlassungen zu würdigen, ihnen zuzuhören und ernst zu nehmen, was sie sagen. Im Dialog soll ein tieferes Verständnis füreinander erzielt werden, woraus sich neue Sichtweisen und Lösungswege ergeben. Auch die Professionellen bringen sich ein: Authentizität steht im Vordergrund, denn Menschen mit psychischen Störungen sind häufig hochsensibel und sie merken schnell, wenn ihnen etwas vorgespielt wird.


Der Offene Dialog setzt auf die Polyphonie der Stimmen. Es gibt nicht die eine richtige Sichtweise, von der die Klient:innen überzeugt werden sollen. Verschiedene Ideen – auch der Therapeut:innen - werden im Beisein der Klient:innen geäußert und gemeinsam besprochen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, unterschiedliche Wahrnehmungen sind ausdrücklich erwünscht, auch wahnhafte Vorstellungen sind im Dialog willkommen und werden respektiert. Alle Stimmen werden gleichberechtigt gehört. Es geht weder um Diagnosen noch um Lösungen, sondern um ein tieferes Verständnis für die Situation, in der die Krise entstanden ist. Gerade durch die Vielzahl der Stimmen werden neue Möglichkeiten und Wege aus der Krise gefunden, wie der Bericht von Sarah Berens in dieser HLZ (S.18) eindrucksvoll bestätigt.

Michael Köditz


Michael Köditz ist Diplom-Pädagoge, Lehrer und Heilpraktiker (PsyTh) und Mitglied im Vorsitzendenteam des GEW-Bezirksverbands Südhessen. Zum Weiterlesen empfiehlt er die Aufsätze von Greve Aderhold: Was ist „Need-adapted Treatment“? (Download: bit.ly/3c507sH) und „Bedürfnisangepasste Behandlung und offener Dialog“. Download

(1) Offener Dialog, ein alternativer Ansatz aus Finnland zur Heilung von Psychosen; https://www.youtube.com/watch?v=IsnzUxE7emI