Unterschätztes Problem

Die (gar nicht so) komplizierte Sache mit dem Antisemitismus | HLZ 9/10 2024

Der Antisemitismus ist in den Hochschulen, in den Schulen und in anderen Bildungsbereichen wie der offenen Kinder- und Jugendarbeit (siehe diese HLZ, S. 8-9) derzeit so sichtbar wie selten zuvor. Kompliziert sei die Sache mit dem Antisemitismus, so hört man oftmals. Doch für wen? Für Jüdinnen und Juden oder für die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft, von der der Antisemitismus kommt?

Das wirft erhebliche Fragen auf. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf eine Unter- und auf eine Überschätzung hingewiesen: Unterschätzt wird die Vielfalt der Ausprägungen und die Wirkmächtigkeit antisemitischer Ressentiments bis heute. Überschätzt wird dagegen der Zusammenhang von Bildung und dem Erkennen von Antisemitismus. Historisch kam und kommt der Antisemitismus auch von Gebildeten, von Akademiker:innen, von Intellektuellen.


Die Unterschätzung des Antisemitismus

Die Unterschätzung des Antisemitismus umfasst mehrere Punkte. Besonders deutlich wird das Relativieren der aktuellen Erscheinungsweisen im derzeitigen israelbezogenen Antisemitismus. Während der klassische Antisemitismus zumeist auf „Juden als Juden“ abzielt und diese als bedrohlich und gefährlich imaginiert, ist im aktuellen israelbezogenen Antisemitismus „Jude“ durch „Israel“ beziehungsweise „Israelis“ oder „Zionisten“ ersetzt. Der 7. Oktober 2023 zeigt unter anderem auch, dass „Juden als Juden“ und „Israelis als Israelis“ angegriffen und vergewaltigt, verschleppt und ermordet wurden.

Die nationalsozialistische Parole „Die Juden sind unser Unglück“ ist heute überführt in „Israel ist unser Unglück“. In beiden Denkfiguren liegt zugleich eine implizite Handlungsaufforderung: Wenn „die Juden“, wenn Israel so markiert wird, dann ist darin auch die Aufforderung enthalten, das Unglück abzuschaffen. An dieser Stelle setzt das Hass- und Gewaltpotential an, das bis heute so schwer aufzulösen ist. Antisemitische Ressentiments können als Vorurteil, als Othering und als Diskriminierung erscheinen, funktionieren jedoch zusätzlich auch noch anders: Während im Othering die dichotome Struktur von „Wir und Sie“ die Grundbausteine der diskriminierenden Unterscheidung bilden, können antisemitische Ressentiments strukturell zudem auch auf die „ganz Anderen“ abzielen. Im Othering gibt es Freunde und Feinde, die im dichotom-binären Denken wurzeln. Kategoriale Annahmen und Zuschreibungen bilden den Ein- und den Ausschluss und stellen die Feindbilder her. Im Antisemitismus können Jüdinnen und Juden zwar als die Anderen, die Fremden erscheinen, jedoch zudem auch als die „ultimativ Bösen“ konzeptualisiert werden, die dadurch umso bedrohlicher und gefährlicher imaginiert werden.

Der Antisemitismus liefert damit nicht nur Bausteine für Vorurteilsstrukturen, sondern ein ganzes Weltbild. Im antisemitischen Denken kann alles, was auf der Welt (nicht) passiert, eingeordnet werden in ein Raster, das stets funktioniert: Der Jude ist schuld. Heute ist dies übergegangen in: Israel ist schuld. Die an den Hochschulen, im Feuilleton und im Kunst- und Kulturbetrieb sichtbaren Debatten um Israel als „Apartheitsstaat“ oder als „Siedlerkolonialismus“ wurzeln in diesem uralten und doch bis heute immer wieder reaktualisierten Muster eines jeden Antisemitismus. Gesucht und gefunden werden „Begründungen“, die auf die Verfolgung und Vernichtung von Juden als Juden, von Israelis als Israelis abzielen. Das macht den Antisemitismus so banal und gleichzeitig so brutal.

Viel an dem aktuell virulenten israelbezogenen Antisemitismus kann mit dem 3-D-Test dekonstruiert werden: Werden an Israel Doppelstandards angelegt, die in dieser Art und Weise an keinen anderen Staat angelegt werden? Wird Israel dämonisiert und delegitimiert? Bereits der einfache 3-D-Test mit den Prüffragen der Doppelstandards, der Dämonisierung und der Delegitimierung zeigt, was an Hochschulen derzeit an antisemitischen Ressentiments im Umlauf ist, genauer sogar: was an antisemitischen Ressentiments an Hochschulen als diskursfähig gilt und legitimiert wird.


Der Zusammenhang von Bildung und Antisemitismus

Während in Bildungskontexten der rassistische Antisemitismus der Nationalsozialisten weitestgehend verpönt ist und einer sozial breit akzeptierten Ächtung unterliegt, gilt das für die aktuelle dominierende Form, den israelbezogenen Antisemitismus, nicht. Im historischen Rückblick zeigen sich die Entwicklungen des Judenhasses genauer. Die lange Tradition des christlichen Antijudaismus überzeugte Ende des 19. Jahrhunderts einige linke Intellektuelle, aber auch völkische Professoren und deutschtümelnde Akademiker nicht mehr vollständig. Sie wollten eine wissenschaftliche Basis für ihren Antisemitismus und im Zuge dieser in sich auch heterogenen Gemengelage gab es einen gemeinsamen Bezugspunkt, der die ansonsten bestehenden Differenzen einebnete: Der Jude ist schuld, qua Rasse. Mit der mörderischen Erfindung des rassistischen Antisemitismus war eine Kontinuität und gleichzeitig qualitative Veränderung in der Geschichte des Antisemitismus verbunden. Erschaffen und in die Welt gesetzt von Intellektuellen, Bildungsbürgern und Akademikern.

In der heute nun dominierenden Erscheinungsweise, dem israelbezogenen Antisemitismus, zeichnen sich die Legitimierungen durch Intellektuelle ebenso ab. Bildung und Antisemitismus schließen sich demnach nicht aus, ganz im Gegenteil. Historisch und aktuell kann nachgezeichnet werden, dass auch die Gebildeten den Antisemitismus aktualisieren, begründen und legitimieren. Diese hier nur grob skizzierte Linie bedeutet auch, dass die verbreitete Annahme von „wenn Bildung, dann antisemitismusresistent“ hinterfragt werden muss. Dies betrifft auch pädagogische Vorstellungen, die implizit davon ausgehen, „wenn Holocaust-Film beziehungsweise Klassenfahrt nach Auschwitz, dann geschützt vor Antisemitismus“. Der Zusammenhang von Bildung und Antisemitismus ist demnach weitaus komplexer und voraussetzungsvoller als einem lieb sein kann. In der Schule, in der Hochschule oder in der offenen Kinder- und Jugendarbeit bildet die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Antisemitismus eine anspruchsvolle Aufgabe (Müller 2021).

Im Anschluss an die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers habe ich dazu einen dialektischen Zugang vorgeschlagen, der das Spannungsfeld von Aufklärung und Nicht-Aufklärbarkeit des Ressentiments in pädagogischen Kontexten in den Mittelpunkt rückt (Müller 2021). Folgerungen, die sich daraus ergeben, sind zum einen darin zu sehen, dass Reflexionsschleifen über gesellschaftliche Normalitätsannahmen und die lange Tradition des Judenhasses in die Gestaltung von Bildungserfahrungen eingebaut werden. Zum anderen ist damit eine zentrale Prüffrage verbunden: Werden Jüdinnen und Juden in Bildungskontexten als Subjekte anerkannt, oder instrumentell als Objekte, die der eigenen politischen und/oder weltanschaulichen Versicherung dienen (Bernstein, Grimm, Müller 2022)?


Die höchste Form der Reflexion ist die Selbstreflexion

Für die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft kann diese Reflexion auch schmerzhaft sein, wenn die Herkunft des Antisemitismus benannt wird. Der Antisemitismus entstammt den Vorstellungen, den Projektionen von Nicht-Juden über „Juden“. Dabei erschafft die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft seit ca. 2.000 Jahren Bilder des „Juden“, die als „Begründung“ für die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung benutzt werden.

Eine der Herausforderungen besteht darin, dass der Antisemitismus der anderen nahezu problemlos erkannt, benannt und auch kritisiert werden kann. Je nach Milieu, dem man sich aus guten Gründen zurechnet, kann der Antisemitismus in anderen Milieus zumeist in der gebotenen Deutlichkeit problematisiert werden. Gänzlich anders sieht es im eigenen Milieu aus. Das sollte auch im gewerkschaftlichen Bereich reflektiert werden. Für die jüdische Minderheit in Deutschland, aber auch weltweit, und für den demokratischen und jüdischen Staat Israel ist und bleibt es eine Zukunftsfrage, ob die jahrtausendealte Tradition des Antisemitismus geändert wird – von denjenigen, von denen der Antisemitismus kommt.

Prof. Dr. Stefan Müller hat die Professur für Bildung und Sozialisation unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten an der Frankfurt University of Applied Sciences inne.


Literatur zum Weiterlesen

Müller, Stefan (2021): Identität und antisemitische Ressentiments in Bildungskontexten, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 12 (1), 36-54, online

Bernstein, Julia/ Grimm, Marc/ Müller, Stefan (2022): Juden und Jüdinnen als Objekte oder als Subjekte?, in: Bernstein, Julia/ Grimm, Marc/ Müller, Stefan (Hg.): Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln, Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, S. 17-31, online

Müller, Stefan/ Scaramuzza, Elia (2024): Mündigkeit in der politischen Bildung. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, online

Voigt, Sebastian (2024): Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende?, Stuttgart: Hirzel