Beziehungsarbeit ist ein zentrales Moment der Arbeit von Sozialarbeiter:innen und Pädagog:innen in den verschiedensten Feldern – ob es das Lehren, Begleiten, Erziehen oder die Beratung ist. Psychoanalytische Pädagogik bietet einen verstehenden Zugang zu den in die Beziehungsarbeit wechselseitig eingebrachten sowie verhandelten bewussten und unbewussten Lebensentwürfen. Dieser Zugang ist bedeutend, da sich die Beziehung zwischen Fachkräften und ihren Adressat:innen vor dem Hintergrund früher(er) konfliktträchtiger und oft unverarbeiteter unbewusster Beziehungserfahrungen entwickelt. Je früher und schmerzlicher diese Erlebnisse sind, desto weniger sind sie im Bewusstsein präsent. Sie führen in professionellen Beziehungen zu Verstrickungen, Projektionen, Übertragungen, also Wiederbelebungen vergangener unbewältigter oder gar traumatischer Erfahrungen. Doch nicht nur Adressat:innen, sondern auch Fachkräfte sind daran beteiligt. Dem psychoanalytischen Ansatz geht es daher gerade um gemeinsame – in der Sprache der 1920er Jahre – „Einsichten in eine bestimmte Gruppe von möglichen Störungen im Zögling und im Erzieher, […] die mit dem Unbewußtwerden und Unbewußtsein in Beziehung stehen“ (ZfpP, 1926, Bd. 1, 5, zit. nach Hierdeis 2016/19).
Den Fall verstehen
Fallverstehen in Kombination mit gezielter Selbstreflexion hat eine hohe Bedeutung, gerade um als Fachkraft die eigene unbewusste Beteiligung und blinde Flecken wahrnehmen zu können. Dies ermöglicht, die unbewussten psychodynamischen Inszenierungen in der Beziehung auch als solche zu erkennen, die eigenen Gefühle als Resonanz und auch als Gegenübertragungen zu verstehen und die dem Gegenüber unbewusst gebliebenen Bedürfnisse halten und aushalten zu können. So kann eine ungewollte Wiederholung der leidvollen Erfahrungen durch die Fachkräfte verhindert werden. Die dahinterstehende Annahme ist, dass das oft aggressive und herausfordernde Verhalten von Adressat:innen Ergebnis einer biografischen Anpassungsleistung ist, also etwas Sinnhaftes, das zu verstehen sich lohnt (vgl. Günther/Heilmann/Kerschgens 2022). Den verstehenden Zugang möchten wir an einer kurzen Fallszene verdeutlichen und dabei zentrale Grundgedanken ansprechen.
In einer Tagesgruppe werden zwölf Kinder im Grundschulalter betreut. An einem Tag kommt es kurz vor dem Mittagessen zu folgender Situation: Eine Sozialarbeiterin ist mit drei elfjährigen Jungen im Garten der Einrichtung, Alessio und Joni turnen auf einem Klettergerüst, Leon steht davor. Alessio gibt vom Klettergerüst abwertende Kommentare über Leon ab, Joni macht mit – „Leon ist fett“ und „Leon stinkt“. Die in der Nähe sitzende Fachkraft ermahnt die mobbenden Jungs, aber Alessio provoziert weiter, bis Leon ihn wutentbrannt zu einem Kampf herausfordert: „Komm doch her, Alter, dann kriegst du …“. Alessio zögert, aber schließlich klettert er herunter und geht auf Leon los. Die Sozialarbeiterin kann die Jungen mit Worten nicht mehr erreichen und holt schnell einen Kollegen zu Hilfe. Dieser kommt und versucht, die prügelnden Jungen zu trennen. Er hält Alessio fest und versucht ihn zu beruhigen, während er gleichzeitig mit lauter Stimme alle drei Jungen fragt, was das solle. Nun gerät Leon außer sich, brüllt den Pädagogen an und stürmt unter wüsten Beleidigungen an alle davon. Die Sozialarbeiterin folgt ihm und als beide zum Stehen kommen, entwickelt sich ein unverhofft ruhiges Gespräch. Leon erzählt, er würde der Gruppe gerne einen Aussichtsturm in der Nähe zeigen.
Was war geschehen? Ohne weitere biographische Einblicke kann man drei Beziehungsebenen beschreiben und befragen: die Kinder als Gruppe, die Beziehung zwischen den Kindern und Fachkräften und die Beziehung zwischen den Fachkräften selbst. Szenisch zeigt der Streit zwischen den Kindern ein klassisches Thema in Beziehungen zwischen drei Parteien – einer wird ausgeschlossen, hier auch pauschal entwertet. Als ein gemeinsames Entwicklungsthema der Kinder stellt sich der Konflikt dar, dass, wenn zwei zusammen sind, der Dritte keinen Platz mehr hat. Fachkräfte sollten an dieser Stelle vermuten, dass in diesem Trio jeder mangelnd gute Erfahrungen triangulärer Beziehungen machen musste. Der Ausgeschlossene kämpft um seinen Selbstwert und seine Identität als Junge, eine verbale Konfliktlösung steht ihm irgendwann nicht mehr zur Verfügung. Gemeinsame, nach außen drängende affektive Themen sind Auf- und Abwertung sowie Fragen nach gelingenden Trennungen. Die traurigen Anteile eigener, wenig guter Beziehungserfahrungen werden durch die Aktivität und mit Aggressionen abgewehrt, sind nicht mehr sichtbar.
Hier kommen die Fachkräfte als Erwachsene ins Spiel. Sie erleben die Ohnmacht, die Passivität und ebenfalls die Wut – was zwischen beiden geschlechterkonventionell und elterlich geteilt erlebt wird (Beziehung zwischen den Fachkräften). In den asymmetrischen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern liegen lebensgeschichtliche Familienerfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche, wie Abhängigkeit, Anerkennung, Liebe, auch Missachtung, Entwertung etc. Wieder wissen wir nichts über die Biographien der Beteiligten, jedoch ignorieren die Jungen die Ermahnungen der weiblichen Fachkraft. Die an alle gerichtete körperlichere Intervention der männlichen Fachkraft wiederum führt bei Leon zum Kontrollverlust. Er, der sich als Opfer in Notwehr erlebt, empfindet diese als Ungerechtigkeit, sieht sich erneut angegriffen und abgewertet. Es erscheint für ihn nicht aushaltbar und so reagiert er mit verbaler Gegenabwertung und Flucht. Als die weibliche Fachkraft ihm folgt, ergibt sich nun ein Zweiersetting. In diesem beruhigt sich Leon schnell und es gelingt ein guter Kontakt mit ihm. Leon verbalisiert ohne Aufforderung eine positive Gruppenphantasie, in der er der Gruppe einen Aussichtsturm zeigen möchte. Hierbei könnte er als Zeigender eine hervorgehobene Position einnehmen.
Es wird sichtbar, dass die Kinder mit der Bewältigung von Herausforderungen triangulärer Beziehungen befasst sind und unter anderem zur Verarbeitung von Trennungsängsten sowie -aggressionen noch viel Unterstützung durch zugewandte Erwachsene brauchen. Ein Ziel wäre es, emotionale Reflexion so zu fördern, dass sie ihre unbewusst in Szene gesetzten konfliktträchtigen Entwicklungsthemen zukünftig nicht mehr agieren, das heißt handelnd ausleben müssen, sondern in verbalisierter Form innerlich sowie mit anderen zur Diskussion stellen können. Dazu bedarf es eines containenden, das heißt Affekte haltenden und stellvertretend verarbeitenden Zugangs von Fachkräften.
Ein solcher fördernder Dialog ist zunächst ein Handlungsdialog, in dem zunehmend emotionale Kompetenzen und auch realitätsgerechtere Wahrnehmungen ermöglicht werden, bevor es gemeinsame Worte für die „schlechten Gefühle“ gibt. In der Fallszene wird die hohe emotionale Bedürftigkeit institutionell zunächst missverstanden, sowohl im Ermahnen (es ist kein kognitives, sondern ein emotionales Problem), dann auch in der Intervention („was das soll“, wissen die Kinder selbst bewusst nicht). Dies verstärkt ungewollt die bereits von Leon stellvertretend erlebte Abwertung und den Ausschluss. In der Gegenübertragung, so könnte man vermuten, sind die Fachkräfte zur abwesenden Mutter und zum strafenden Vater geworden. Eine Reflexion der affektiven Verstrickungen eröffnet ein Lesen der Szene als Gruppenthema, wie auch als eingebrachte biographische Erfahrung der Kinder.
Was es dazu braucht
Das immer mitschwingende Unbewusste kann als sensibles und resonanzfähiges Instrument von Fachkräften genutzt werden, die ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle als Erkenntnisinstrument ernst nehmen und dem Verstehen Raum geben: Um unser Gegenüber zu verstehen „hilft uns praktisch nur das, was uns auch hilft, uns selbst zu begreifen“ (Reiser 1993: 254). Neben der Fähigkeit zur Selbstreflexion brauchen Fachkräfte auch angemessene Rahmenbedingungen und Ressourcen. Dies bedeutet unter anderem Freiräume für kollegiale Fallarbeit, regelmäßige Supervision, eine ausreichend gute Personalausstattung und haltende, wertschätzende Strukturen in der Organisation.
Anke Kerschgens ist Professorin für psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Fliedner FH in Düsseldorf und hat eine gruppenanalytische Weiterbildung. Hauke Witzel, M.A. Soz. Arb., ist analytischer Psychotherapeut für Kinder- und Jugendliche i. A. (Anna-Freud-Institut) und ist Mitarbeiter des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums Frankfurt (JBZ). Beide sind im Vorstand des Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP) aktiv. Der FAPP bietet Fort- und Weiterbildungen zur psychoanalytischen Pädagogik, Beratung, Elternarbeit, Schule, Trauma und weiteren Themen sowie Supervision und fachlichen Austausch. Näheres unter: https://www.fapp-frankfurt.de/
Literatur
Günter, Michael/ Bruns, Georg (2010): Psychoanalytische Sozialarbeit, Stuttgart: Klett-Cotta
Günther, Marga/ Heilmann, Joachim/ Kerschgens, Anke (2022): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit, Gießen: Psychosozial
Hierdeis, Helmwart (2016): Psychoanalytische Pädagogik – Psychoanalyse in der Pädagogik, Stuttgart: Kohlhammer
Reiser, H. (1993): Entwicklung und Störung – Vom Sinn kindlichen Verhaltens. In: Behindertenpädagogik 3 (32 .Jg.), S. 254-263