Briefe aus dem NS-Arbeitslager

Peter Neumaier veröffentlicht die Briefe seines Onkels | HLZ 11 2024

 

Peter Neumaier, ehemals Lehrer an der Martin-Niemöller-Schule in Wiesbaden, hat seine Familiengeschichte erforscht und in bisher zwei Bänden das Schicksal seiner jüdischen Vorfahren während der nationalsozialistischen Verfolgung dargestellt. In seinem ersten Buch „‚Wehe dem, der allein ist‘. Mein Großvater Ernst Seidenberger, Münchner Rechtsanwalt in der NS-Zeit“ beschreibt er die Lebensgeschichte seines Großvaters – eines von den Nazis degradierten sogenannten „jüdischen Rechtsanwalts“, der nach Theresienstadt deportiert wurde – anhand unzähliger Schriftstücke aus dem Nachlass, Dokumente aus Münchner Archiven und der Erzählungen seiner Mutter. Damit liefert er einen eindrucksvollen Beitrag zur Erforschung der Judenverfolgung und -vernichtung während des NS-Regimes. Sein zweites Buch dokumentiert und kommentiert die Briefe seines Onkels Kurt Neumaier aus dem Zwangsarbeitslager Tiefenort in Thüringen, wo die Organisation Todt (OT) in mächtigen Salzstollen die unterirdische Rüstungsproduktion ausbauen wollte. Die vollständig erhaltenen und ausführlich kommentierten Briefe sind ein Dokument über die Pläne der Nazidiktatur, die letzten noch überlebenden Jüdinnen und Juden, die in „privilegierten Mischehen“ oder als „Mischlinge ersten Grades“ bis dahin von den Deportationen oft noch nicht betroffen waren, gegen Ende des Krieges zu verfolgen und zu ermorden (S. 75ff.).
 

Nach der Niederlage von Stalingrad 1943 mussten sich auch sogenannte „Halbjüdinnen“ und „Halbjuden“ bei der OT verpflichten lassen. Ab März 1944 stellten die Arbeitsverwaltungen Gruppen von jeweils einhundert Zwangsarbeitern aus „Wehrunwürdigen“, „jüdischen Mischlingen ersten Grades“ sowie „in Mischehe lebenden Ariern“ und „Zigeunern“ zusammen. Diese „Sonderdienstverpflichteten“ der OT wurden in Frankreich oder im „Altreich“ eingesetzt. Peter Neumaiers Onkel Kurt war ein Opfer dieser Deportationen. Er wurde zusammen mit anderen Münchner „Halbjuden“ in das Arbeitslager Tiefenort, heute ein Stadtteil von Bad Salzungen, deportiert. Aufgrund seiner für die Nazis nützlichen Erfahrungen als Wirtschaftsprüfer und in der Büroarbeit blieb er von der harten Arbeit unter Tage verschont und musste als Buchhalter arbeiten. In dieser Tätigkeit war er auch von Nutzen für die Mithäftlinge. So berichtet ein ebenfalls inhaftierter Freund von Kurt: „Für uns alle war es ein enormer Vorteil, daß einer von uns im Büro der OT saß und von daher uns informieren konnte, was dort geplant wurde.“ (S. 91)

Die Dokumentation der Briefe von Kurt an seine Frau Gretl stellt Peter Neumaier in den Kontext der Geschichte der letzten Jahre des NS-Regimes. Diese sind geprägt von der Intensivierung der Verfolgung der Jüdinnen und Juden sowie der „Halbjuden“. Er schildert die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter und die Eskalation der Maßnahmen des NS-Regimes in Anbetracht des absehbaren Siegs der Alliierten. So wird bedrückend deutlich, wie die Sorge um die Zukunft und um die Angehörigen ab Beginn des Jahres 1945 unter dem Eindruck der Luftangriffe zunimmt. Kurt gibt detaillierte Anweisungen in seinen Briefen nach Hause, um seiner eigenen Ohnmacht und Sorge Herr zu werden. Am 14. Januar 1945 schreibt er an seine Frau nach München:

„Es ist trostlos, dass ich von hier aus nicht helfen kann. Ich kann dir bloß gut zureden, die Kraft nicht zu verlieren und auszuhalten. Vielleicht besteht doch die Möglichkeit, dass unser Einsatz hier beendet wird. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir trotz allem gegenwärtigen Unglück doch auch den Rest des Krieges noch überstehen und weiterleben werden.“ (S. 194).
 

Ab Ende Januar 1945 verschlechtert sich auch Kurts Lebenssituation, da er von Tiefenort in das nahe Abteroda – dort liegt auch ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald – abgeordnet wird, wo er in eiskalten Lagerhallen arbeiten muss. Die Angst vor weiterer Verfolgung der Angehörigen, vor allem seiner Mutter und seines Schwiegervaters, die beide aus jüdischen Familien stammen, quält ihn: „Es ist recht schwer erträglich, hier so allein in der Ungewissheit zu hocken und nichts tun zu können.“ (S. 221)
 

Kurt Neumaier, seine Frau Gretl, seine Mutter und sein Schwiegervater überlebten die Nazizeit, da die Befreiung durch die Alliierten die Auslöschungsabsichten der Nazis gegenüber den letzten überlebenden Jüdinnen und Juden in Mischehen zunichtemachte. Der Wert von Peter Neumaiers Buch liegt zum einen darin, dass es die bisher wenig erforschte Deportation der Münchner „Halbjuden“ in den Blick rückt und damit die historische Forschungsperspektive erweitert. Gleichzeitig ermöglichen die Briefe eine einfühlende Erinnerung an die Opfer der Vernichtungspolitik. Hoffentlich bewirkt das Buch auch, dass in Bad Salzungen an das Lager Tiefenort und seine Insassen erinnert wird. In Thüringen – und überall – ist gegenwärtig die Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Verfolgungspolitik dringend geboten! Peter Neumaiers Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen, denn „Nie wieder ist jetzt“.