Arbeitszeit unter der Lupe

Hessen und Sachsen: Mehrarbeit durch zusätzliche Aufgaben

HLZ März/April 2023

Am 8. März 2020 endete die Erhebungsphase der Studie „Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften an Frankfurter Schulen 2020“, deren Ergebnisse im September 2020 vorgestellt wurden. Die Auswirkungen der Coronapandemie auf Arbeitszeit und Belastung der Lehrkräfte wurden also nicht erfasst. Jetzt werden die Befunde und Trends der Frankfurter Studie in jüngster Zeit durch weitere Studien bestätigt, so in der Studie „Digitalisierung im Schulsystem 2021“ und zuletzt in der „Arbeitszeitstudie Sächsischer Lehrkräfte 2022“ (www.arbeitszeitstudie.de). Besorgniserregend ist, dass Entlastungen ausgeblieben sind und die Kultusministerkonferenz jetzt mit dem Gutachten ihrer Wissenschaftlichen Kommission sogar weitere zusätzliche Belastungen ins Auge fasst (SWK-Gutachten, HLZ S.24f).


2020: Arbeitszeit von Lehrkräften in Frankfurt

Schon bei der Sollarbeitszeit der Lehrkräfte nimmt Hessen eine Spitzenposition ein. Rechnet man die Arbeitszeit auf die Schulzeitwochen um, ergibt sich für eine hessische Vollzeitlehrkraft im Jahr 2020 eine über dem Bundesdurchschnitt liegende Sollarbeitszeit von 47 Stunden und 36 Minuten pro Woche. Auch bei der Anzahl der wöchentlichen Pflichtstunden liegt Hessen über dem Bundesdurchschnitt. Allerdings wurden diese bereits hohen Arbeitszeiten von den an der Studie teilnehmenden Lehrkräften noch um durchschnittlich 51 Minuten pro Woche übertroffen. 53 % der hessischen Lehrkräfte leisten Mehrarbeit. Die gesetzliche Obergrenze von 48 Stunden in der Woche, die nur in Ausnahmefällen und für begrenzte Zeit zulässig ist, wird von 21 % der Vollzeitlehrkräfte überschritten.

Bei den Teilzeitkräften sieht es nicht besser aus. Bei den in der Studie erhobenen Gründen für die individuelle Stundenreduzierung stehen die hohe zeitliche Beanspruchung, Zeitdruck und Stress, die Einschätzung, die Aufgaben einer Lehrkraft nicht in Vollzeit zu schaffen, und das Bedürfnis, mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige Unterrichtsvorbereitung haben zu wollen, im Vordergrund. Die Folge: Auch hier wird – gemessen am reduzierten Stundenanteil – Mehrarbeit in großem Umfang erbracht.


Die Frankfurter Arbeitszeitstudie nahm neben dem reinen Umfang der Arbeitszeit auch die Tätigkeiten selbst in den Blick. Die Erhebung ergab folgendes Bild:

  • 35% der Gesamtarbeitszeit entfielen auf den Unterricht selbst (17 Stunden und 1 Minute).
  • 27 % entfielen auf unterrichtsnahe Tätigkeiten wie Vor- und Nachbereitung und Korrekturen (13 Stunden und 7 Minuten).
  • Den größten Anteil nahmen mit 38 % die sonstigen Tätigkeiten wie Konferenzen und Elterngespräche ein (18 Stunden und 20 Minuten).


Vergleicht man dies mit früheren Erhebungen, sieht man eine deutliche Zunahme der sonstigen Tätigkeiten bei gleichzeitiger Verminderung der unterrichtsnahen Tätigkeiten. Vom Zeitvolumen her in etwa gleichgeblieben ist die reine Unterrichtszeit, die ja auch an die Pflichtstunden gebunden ist. Die Zunahme der sonstigen Tätigkeiten bei gleichbleibender Unterrichtsverpflichtung führt Lehrkräfte in das „Arbeitszeit-Qualitäts-Dilemma“: Wer viel Zeit für die nicht unterrichtsnahen bzw. außerunterrichtlichen Tätigkeiten braucht, dem fehlt sie für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Dadurch entsteht die berechtigte Befürchtung, dass die Qualität des eigenen Unterrichts leidet. Einziger Ausweg ist dann, die Unterrichtsverpflichtung zu reduzieren – auf eigene Kosten und meist in Verbindung mit unbezahlter Mehrarbeit.


Das Forschungsteam fragte die Lehrkräfte auch nach ihrer Einschätzung, wie sich ihre Arbeitssituation gegenüber den Jahren vor 2020 verändert hat. 63 % der Lehrkräfte gaben an, dass sich der Arbeitsdruck in den letzten 12 Monaten im „hohen Maß“ bzw. im „sehr hohen Maß“ erhöht hat. Viele Lehrkräfte registrieren eine Zunahme von Konferenzen, Sitzungen, Besprechungen und Verwaltungstätigkeiten. Schließlich weisen vergleichsweise hohe Personal-Burnout-Werte auf beträchtliche Gesundheitsrisiken hin.


Corona und Digitalisierung: Studie in Sachsen

Im Juni und Juli 2022 wurde eine methodisch vergleichbare Studie in Sachsen durchgeführt, die zusätzlich Corona- und Digitalisierungseffekte auf Arbeitszeit und Arbeitsbelastung erfasst hat. An dem Forschungsprojekt haben sich 1.473 Lehrerinnen und Lehrer aus 300 sächsischen Grundschulen, Gymnasien und Oberschulen beteiligt. Die Qualität des Feldzugangs und die Beteiligungsquote von 6 % der Lehrkräfte in Sachsen an 26 % der sächsischen Schulen ermöglichen repräsentative Befunde. Die Gesamtarbeitszeit (IST) für die genannten drei Schulformen betrug auf Grundlage der Schätzergebnisse im Jahr 2022 insgesamt 49:58 Stunden pro Woche. Die Normarbeitszeit (SOLL) von 46:48 Stunden pro Woche wurde aggregiert somit um geschätzte 3:10 Stunden pro Woche je Vollzeitlehreräquivalent (VZLÄ) überschritten. Das Forschungsteam geht davon aus, dass 30 bis 60 Minuten der Mehrarbeit auf Corona- bzw. Digitalisierungseffekte zurückzuführen sind, ohne dass die beiden Faktoren in ihren exakten Anteilen ausgewiesen werden könnten.


Die Studie an sächsischen Schulen bestätigt die Frankfurter Ergebnisse: 59 % der Lehrkräfte liegen mit ihrer tatsächlichen Arbeitszeit über ihrem individuellen SOLL von 46:48 Stunden. Auch hier sind die „sonstigen oder weiteren Tätigkeiten“, die umgangssprachlich als „außerunterrichtliche Tätigkeiten“ bezeichnet werden, Hauptquelle überlanger Arbeitszeiten.


Arbeitswissenschaftlich besonders problematisch sind überlange Arbeitszeiten, die 2022 immerhin ein Drittel der Vollzeitkräfte in Sachsen betreffen. Während der Schulwochen arbeiten 36 % der Vollzeitkräfte durchschnittlich mehr als 48 Stunden pro Wochen und verstoßen damit gegen geltende Arbeitsschutznormen. Dass der Wert von 21% in Frankfurt (2020) deutlich übertroffen wurde, dürfte zu einem Gutteil ebenfalls auf Corona- bzw. Digitalisierungseffekte zurückzuführen sein. Dies erlaubt den Rückschluss, dass 2022 auch in Frankfurt entsprechend höhere Normverstöße zu verzeichnen sein dürften.


Auch hier hilft der Blick auf die Verteilung der Mehrarbeit weiter: Lehrkräfte, die viel Zeit für „sonstige oder weitere Tätigkeiten“ aufwenden, leisten auch viel Mehrarbeit. Ganz besonders schlagen dabei „neue und zusätzliche Aufgaben“ zu Buche, die in der Studie an sächsischen Schulen erstmals empirisch betrachtet wurden.


Mehrarbeit und überlange Arbeitszeiten gefährden die  Gesundheit. Lehrkräfte mit mehr oder weniger starker Überschreitung ihrer SOLL-Vorgaben haben nach dem Copenhagen Burnout Inventory deutlich höhere Gesundheitsrisiken.


Unterricht steht nicht mehr im Mittelpunkt

Danach steht fest, dass der Arbeitsalltag von Lehrkräften immer weniger durch das Unterrichten bestimmt wird, während andere Aufgaben und Tätigkeiten immer mehr Raum einnehmen. In Sachsen wurden 20 Tätigkeitscluster eingehender erfragt, 16 in der Rolle von Lehrkräften und vier in einer übertragenen Zuständigkeit oder als Schulleitung (zusätzliche Funktionstätigkeiten und Schulleitungsaufgaben). Die meiste Zeit in einer repräsentativen Durchschnittswoche von Lehrkräften und Schulleitungen nehmen dabei die folgenden Tätigkeitscluster in Anspruch:

 

  • Abrufen von Nachrichten aus dem Schulportal (Lernsax)
  • Digitale Unterrichtsgestaltung
  • Zusätzlicher Aufwand im Fernunterricht
  • Inklusion, Multiprofessionelle Teams, Ganztag
  • Hygienevorgaben während der Coronapandemie
  • Lernstandsdokumentationen
  • Neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit
  • Vergleichsarbeiten, Evaluationen, Wettbewerbe
  • Neue Aufgaben in Eigenverantwortung der Schule
  • Ungleiche Kompetenzen und Ausstattungen der Schülerinnen und Schüler bei digitalen Medien und Techniken
     

Die rein zeitliche Belastung ist das eine, die Belastungswirkung der „neuen und zusätzlichen Aufgaben“ das andere. Dies muss dringend neu geregelt werden, da viele dieser neuen Aufgaben und Tätigkeiten zum Teil hoch belastend sind. Für lediglich 26 % der befragten Lehrkräfte in Sachsen hält sich das Ausmaß der fokussierten zusätzlichen außerunterrichtlichen Verpflichtungen in ihrem Arbeitsalltag noch im Rahmen. Aber für relevante 30 % sprengt das Ausmaß der Verpflichtungen diesen Rahmen bereits und für weitere 44% wird der Rahmen teilweise (z. B. in Stressphasen) überschritten. In Frankfurt lag das Niveau übermäßiger außerunterrichtlicher Verpflichtungen sogar noch höher (vgl. Tabelle). Beides sind alarmierende Befunde, da diese Belastungsfaktoren schon längere Zeit bestehen. In Frankfurt fühlten sich 2020 71 % der Lehrkräfte „stark“ oder „eher“ stark beansprucht, weil sie durch außerunterrichtliche Verpflichtungen allgemein zu wenig Zeit für Vor- und Nachbereitungen haben (Sachsen 2022: 75 %). 73 % der Frankfurter Lehrkräfte sahen sich gezwungen, ihre Unterrichtsvor- und -nachbereitung zu reduzieren (Sachsen: 69 %) und 63 % mussten sich sogar eingestehen, dass die Qualität ihres eigenen Unterrichts unter diesen Anforderungen leidet (Sachsen: 60 %).
 

Die Belastung muss runter!

Betrachtet man die Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften wird in beiden Studien deutlich: Es gibt keine Spielräume für zusätzliche Belastungen. Im Gegenteil: Es ist allerhöchste Zeit für mehr Entlastungen im Schulbereich, nicht nur um die Gesundheit der Bestandslehrkräfte zu erhalten und die Unterrichtsversorgung wenigstens mit den bekannten Einschränkungen aufrecht zu erhalten, sondern auch um die Attraktivität des Berufs wieder zu steigern und so in Zukunft genug neue Lehrkräfte gewinnen zu können.


Sebastian Guttmann und Dr. Frank Mußmann

Sebastian Guttmann ist im Team mit Laura Preusker Vorsitzender des GEW-Bezirksverbands Frankfurt und mitverantwortlich für die Durchführung der Frankfurter Arbeitszeitstudie. Dr. Frank Mußmann ist Leiter der Kooperationsstelle der Universität Göttingen.