Das deutsche Schulsystem ist der internationalen Schulleistungsstudie PISA zufolge hinter das Niveau zurückgefallen, das es vor 20 Jahren erreicht hat. In allen untersuchten Bereichen fielen die durchschnittlichen Leistungen auf den niedrigsten je ermittelten Stand. Die erstmalige Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hatte den sogenannten PISA-Schock verursacht: Während sich Deutschland gefühlt eher an der Spitze verortete, attestierte diese Studie nicht mehr als internationales Mittelmaß. Und sie stellte fest, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Bildungserfolg deutlich stärker ausgeprägt ist als in den meisten anderen Ländern der OECD. In den Folgejahren herrschte bildungspolitischer Aktionismus. Neben fragwürdigen Entwicklungen, wie der Kompetenzorientierung, gab es auch zweifelsfrei hilfreiche Programme, etwa zur Einführung von Ganztagsschulen. Bei den folgenden PISA-Runden konnte sich Deutschland verbessern, wenn sich auch an der engen Verbindung von Schulleistungen und sozialer Herkunft nichts änderte.
Als nun die OECD Anfang Dezember 2023 die neusten Ergebnisse vorstellte, die für Deutschland überaus ernüchternd ausfielen, blieben die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Politik eher verhalten. Der damalige hessische Kultusminister Alexander Lorz ließ verlautbaren, dass die Ergebnisse für ihn „keine Überraschung“ darstellten. Das schlechte Abschneiden sei auf die Schulschließungen in der Corona-Pandemie zurückzuführen. Hinzu komme die heterogener werdende Schülerschaft aufgrund der Zuwanderung.
Das ist ein beschämender Erklärungsversuch für einen über zehn Jahre verantwortlichen Minister, auch wenn er einen wahren Kern enthält. Dazu ist Folgendes anzumerken:
• Überraschend waren die Ergebnisse insofern nicht, als dass bereits die zuvor veröffentlichten Studien des nationalen Bildungsmonitorings einen deutlichen Leistungsabfall aufgezeigt hatten.
- Die Erhebung der Daten erfolgte wie immer bei 15-Jährigen. Damit wurde eine Alterskohorte geprüft, die besonders stark von den Einschränkungen während der Corona-Pandemie betroffen gewesen ist. Dass dem so war, liegt aber auch daran, dass die Schulen denkbar schlecht vorbereitet in die zweite und dritte Welle der Pandemie geschickt wurden – keine Konzepte für Fern- und Wechselunterricht, schlechte digitale Ausstattung ... Außerdem war es die Entscheidung des Kultusministeriums, die Durchführung aller zentralen Abschlussprüfungen zu priorisieren. Die Folge war, dass gerade dieser Altersjahrgang besonders lange vom Präsenzunterricht ausgeschlossen geblieben ist.
- Die Schülerschaft ist seit Jahrzehnten heterogener geworden, ohne dass das Bildungssystem konzeptionell darauf ausgerichtet wurde. Noch immer gibt es etwa viel zu wenige in Deutsch als Zweitsprache ausgebildete Lehrkräfte. Zudem lässt sich auf das Beispiel Kanadas verweisen, das sich schon immer als Einwanderungsland versteht und dessen Bildungssystem bei PISA sehr gute Ergebnisse erzielt.
- Mit dem Hinweis auf Corona und Migration wird abgelenkt von anderen Problemen des Schulsystems, bei denen ein negativer Einfluss alles andere als unplausibel ist. An erster Stelle ist der Lehrkräftemangel zu nennen. Dass der Unterricht von ausgebildeten Lehrkräften in der Regel besser ist und somit zu höheren messbaren Leistungen führen dürfte, liegt auf der Hand. Die aktuelle PISA-Studie selbst weist darauf hin, dass die Ergebnisse an Schulen, die stärker vom Mangel betroffen sind, schlechter ausfallen.
Was sind die Ursachen?
Was die Rolle der Lehrkräfte anbelangt, hat der für PISA verantwortliche OECD-Bildungsdirektor, Andreas Schleicher, vor einigen Wochen tief blicken lassen. Für die behauptete Überlastung von Lehrkräften in Deutschland habe er wenig Verständnis, äußerte er in einem Presseinterview. Viele verstünden sich in erster Linie als „Befehlsempfänger“, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssten. Als nachahmenswertes Beispiel verwies er auf die chinesische Provinz Qingdao.
Diese Aussagen von Andreas Schleicher wurden von der GEW und anderen Verbänden deutlich zurückgewiesen. Einmal mehr wurden so zwei Probleme von PISA und anderen Schulleistungsstudien deutlich:
- Erstens bleiben bei diesen wichtige Dimensionen von Bildung unberücksichtigt, obwohl sie so viele Daten liefern. Das betrifft ganz elementare Teile des Bildungs- und Erziehungsauftrags, die sich einer empirischen Messung weitgehend entziehen, wie beispielsweise die musische Bildung, Demokratieerziehung und soziale Teilhabe.
- Zweitens können die Ursachen für die gemessenen Entwicklungen letztendlich kausal nicht eindeutig aufgeklärt werden. Daher werden Ergebnisse beispielsweise ebenso als Argument für das gegliederte Schulsystem ins Feld geführt wie als Argument für ein Gesamtschulsystem. Dass die Schulleistungen in den meisten ostasiatischen Ländern zu großen Teilen auf extremen Leistungsdruck und exorbitante Ausgaben für private Nachhilfe zurückzuführen sein dürften, wird so schnell übersehen – die Folgeprobleme ebenso.
Schulleistungsstudien können durchaus wichtige und belastbare Informationen zu bestimmten, jedoch begrenzten Fragestellungen liefern. Keinesfalls aber dürfen sie zum Maß aller Dinge gemacht werden. Die bestehenden Grenzen sollten immer in Erinnerung gerufen werden. Als besonders relevant können die Ergebnisse beurteilt werden, die sich auf das Erreichen von Mindeststandards beziehen. Denn für die soziale Teilhabe wie auch für die Erwerbsintegration ist es elementar, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler die grundlegenden Kenntnisse in Lesen, Schreiben, Rechnen und mindestens einer Fremdsprache erwerben. Das gilt auch für die naturwissenschaftliche Bildung, wie Joachim Curtius in der HLZ 12/2023-1/2024 argumentiert. Apropos Naturwissenschaften: Dies ist der einzige Bereich, in dem Deutschland bei PISA nach wie vor geringfügig oberhalb des OECD-Durchschnitts liegt. Gleichwohl kommen auch in diesem Bereich 23 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler nicht über Kompetenzstufe 2 hinaus, welche dem Mindeststandard entspricht. Hinsichtlich der Lesekompetenz (25 Prozent) und der Mathematik (30 Prozent) fällt der Anteil noch größer aus.
Hessen im Bundesvergleich
Die PISA-Ergebnisse erlauben nur eine bundesweite Auswertung, für einen Bundesländervergleich lässt sich jedoch auf die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends zurückgreifen. Die letzte Runde wurde wie PISA 2022 erhoben und bezog sich auf die gleiche Altersgruppe. Untersucht wurden die Leistungen in Deutsch, Englisch sowie teilweise auch Französisch. Im Fach Deutsch ist bundesweit ein deutlicher Leistungsrückgang festzustellen. Der Anteil, der die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss verfehlte, hat sich beim Lesen und Zuhören drastisch auf etwa ein Drittel erhöht. Das bedeutet konkret, dass jede dritte Schülerin und jeder dritte Schüler daran scheitert, mehrere aufeinanderfolgende Einzelinformationen aus strukturell komplexeren, längeren Texten miteinander zu verknüpfen. Wenn es am Verstehen von solchen Texten hapert, hat das weitreichende Folgen, für den weiteren Bildungsweg ebenso wie für die Teilhabe in vielen Lebensbereichen.
In Hessen fällt der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard beim Lesen und Zuhören verfehlen, noch größer aus als in Gesamtdeutschland. Nur bezogen auf die Orthografie liegt Hessen im Durchschnittsbereich. Doch schließen will ich mit einem erfreulicheren Ergebnis: Die Leistungen im Englischen haben sich deutschlandweit und auch in Hessen verbessert. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard verfehlen, ist entsprechend geschrumpft. Erneut lässt sich über die Ursachen nur spekulieren. So wurde gemutmaßt, dass das verstärkte Streamen von englischsprachigen Serien während der Pandemie zu dieser Entwicklung beigetragen haben könnte. Es gibt also noch gute Nachrichten aus der Bildungsforschung. Solche Befunde sollten Mut machen, denn sie zeigen auf, dass es auch anders und besser gehen könnte.
Literatur
OECD (2023): PISA 2022 Country Notes. Deutschland, OECD Publishing, Paris.
Stanat, Petra/Schipolowski, Stefan/Schneider, Rebecca/Weirich, Sebastian/Henschel, Sofie/Sachse, Karoline A. (Hg.) (2023): IQB-Bildungstrend 2022. Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster.