Kinderarmut und Migration

Personalausstattung der Schulen und schulische Lernbedingungen

In Hessen lebt jedes fünfte Kind von Hilfe zum Lebensunterhalt (Leistungen nach SGBII). Durch Wohnungsknappheit und steigende Mietpreise konzentrieren sich diese als arm zu bezeichnenden Kinder in den hessischen Großstädten und dort zusätzlich in wenigen Stadtteilen mit insgesamt niedriger Sozialstruktur. Durch die zunehmende, nach Artikel 7 Abs.5 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich  fragwürdige Privatisierung des Grundschulangebots (1) und die Praxis der Gestattungen konzentrieren sich die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler noch mehr auf wenige Grundschulen als die sozial benachteiligte Bevölkerung auf die Stadtteile, in denen die Grundschulen gelegen sind.

Für die Kinder mit Migrationshintergrund, die inzwischen die Hälfte der Bevölkerung unter 10 Jahren in Hessen ausmachen, lassen sich diese Segregationsprozesse noch verstärkt nachweisen. Die Schulstatistik bildet die Migrationssituation nicht zutreffend ab, weil nur eine kleine Minderheit der Schülerinnen und Schüler im Ausland geboren wurde und seit der Änderung des Ausländerrechts nur knapp ein Viertel der Kinder mit Migrationshintergrund (nur) eine ausländische Staatsbürgerschaft hat. Elternmerkmale erfasst die Schulstatistik nicht und dadurch ist die wichtigste Information zur Bestimmung des Migrationshintergrunds in der Schulstatistik die Auskunft über die zu Hause gesprochene Sprache. 93 % der von der Schulstatistik erfassten hessischen Grundschülerinnen und Grundschüler mit Migrationshintergrund haben eine nichtdeutsche Familiensprache (2).

Große regionale Unterschiede
Der Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler kann nicht für jede Schule in Hessen anhand statistischer Daten belegt werden, aber wenigstens auf der Ebene der kreisfreien Städte und der Landkreise (siehe Schaubild). Am deutlichsten wird der Zusammenhang in der Stadt Offenbach: In keiner Stadt und in keinem Landkreis ist der Anteil der Grundschulkinder mit Migrationshintergrund höher als dort (über 70 %). Und nirgendwo gibt es einen höheren Anteil von Kindern im Alter zwischen sechs und neun Jahren, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen (über 35 %). Und diese extreme Situation besteht auch im bundesweiten Vergleich (3). Die weitreichenden psychosozialen Folgen von Kinderarmut analysiert ein neuer Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und der Bildungsbericht 2016 thematisiert aktuell die andauernde Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund (4).

Das Verzeichnis der hessischen Grundschulen gestattet die Analyse der Migrationssituation nach der Definition der Schulstatistik an den einzelnen Schulen im Schuljahr 2016/17 (5):
In mehr als der Hälfte der Grundschulen liegt der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund unter 25 %. Fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund besucht solche Schulen, bei Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind es 14 %. 13 % der Grundschülerinnen und Grundschüler ohne Migrationshintergrund besuchen eine der 173 Schulen in Hessen, in denen die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler nach der Definition der Schulstatistik einen Migrationshintergrund hat, bei den Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ist es fast die Hälfte. 17 % der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund besuchen eine Grundschule, in der mehr als drei Viertel der Kinder einen Migrationshintergrund haben.

Förderbedarf und soziale Lage
Aus der Forschung ist lange bekannt, dass auch sonderpädagogischer Förderbedarf eng mit der sozialen Lage der Schülerinnen und Schüler verbunden ist. Nach dem hessischen Schulverzeichnis werden in zwei von drei hessischen Grundschulen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet und zwar in 84 % der Schulen, die mehrheitlich von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besucht werden, aber nur in 62 % der restlichen Schulen. Unter den 37 hessischen „Inklusionsgrundschulen“, an denen mehr als 5 % der Schülerinnen und Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, sind 12 Schulen, die mehrheitlich von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besucht werden.
Intensivklassen und Intensivkurse für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache gibt es an 39 % der Schulen, die überwiegend von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besucht werden, aber nur an 18 % der übrigen Grundschulen.

Wie nicht anders zu erwarten konzentrieren sich die Schulen mit einem sehr hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund auf die Städte Offenbach, Frankfurt, Wiesbaden, Kassel und Darmstadt und auf die Landkreise Groß-Gerau und Offenbach (siehe Schaubild). Aber auch in anderen Kreisen gibt es Schulen mit hoher sozialer Belastung. Die drei „Inklusionsgrundschulen“ mit sehr hohem Migrantenanteil und Intensivklassen befinden sich in Eschborn, Marburg und Wetzlar. In der Sekundarstufe I gibt es vor allem an den Hauptschulen und Hauptschulzweigen Konstellationen, die noch schwieriger sind als an den Grundschulen.

Keine Zuweisung nach Bedarf
Lehrkräfte wissen um die extrem unterschiedlichen pädagogischen Aufgaben beim Umgang mit den psychosozialen Folgen von Armut, bei Defiziten in der deutschen Sprache, bei kultureller Distanz zu den schulischen Anforderungen, bei sonderpädagogischem Förderbedarf und bei der schulischen Integration von Flüchtlingskindern. Die notwendigen individualisierenden pädagogischen Konzepte können im Rahmen der üblichen Standards der Personalversorgung von Schulen unmöglich umgesetzt werden.

Doch wie steht es um eine bedarfs­orientierte Differenzierung der Personalausstattung der Schulen in Hessen? In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Hessischen Landtag informierte das Hessische Kultusministerium über die Personalausstattung der Schulen im Schuljahr 2016/17 (6). Vergleicht man die in der Tabelle zusammengefassten Informationen über die erteilten Unterrichtswochenstunden, dann findet man nur unerhebliche Unterschiede zwischen den Schulen mit einem niedrigen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und solchen mit einem hohen Anteil. Hinzu kommt noch, dass die Schulen, die mehrheitlich von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besucht werden, häufiger Ganztagsangebote haben. Doch hat dies ebenfalls keine erkennbare Auswirkung auf die Personalversorgung.

Fast die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund bzw. nichtdeutscher Familiensprache wird in Hessen in Grundschulen unterrichtet, in denen sie die Mehrheit stellen. Viele dieser Schulen haben noch weitere herausfordernde pädagogische Aufgaben. Doch um diesen besonderen pädagogischen Anforderungen gerecht werden zu können, fehlt die Unterstützung des Landes durch eine substanziell bessere Personalversorgung.

Horst Weishaupt

Professor Dr. Horst Weishaupt war bis 2008 Professor für Empirische Bildungsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal. In den Jahren 2008 bis 2013 leitete er die Abteilung Steuerung und Finanzierung des Bildungswesens am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Er ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.


(1) H. Weishaupt und T. Kemper (2015): Die Entwicklung privater Grundschulen in Hessen. Analysen und Überlegungen. SchulVerwaltung. Ausgabe Hessen und Rheinland-Pfalz, 20 (5), S. 150-153.
(2) Nach der Schulstatistik haben 34,6 % der Grundschulkinder in Hessen einen Migrationshintergrund und 32,1% eine nichtdeutsche Familiensprache. Zieht man zusätzlich den Mikrozensus 2016 heran, nach dem 49,3 % der Kinder von 5 bis 9 Jahren in Hessen einen Migrationshintergrund haben, wird deutlich, dass etwa zwei Drittel der Grundschulkinder mit Migrationshintergrund mit nichtdeutscher Familiensprache aufwachsen.
(3) H. Weishaupt (2016): Schulen in schwieriger Lage und Schulfinanzierung. Die Deutsche Schule, 4/2016, S. 354-369
(4) S. Tophoven, C. Wenzig und T. Lietzmann (2016): Kinder in Armutslagen. Konzepte, aktuelle Zahlen und Forschungsstand. (IAB-Forschungsbericht 11/2016) (http://doku.iab.de); Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld: Bertelsmann (www.bildungsbericht.de).
(5) Berücksichtigt sind nur die 1.008 öffentlichen Grundschulen ohne weitere Schulzweige (z.B. Förderschule, Hauptschule), die von 90 % aller Grundschülerinnen und Grundschüler an öffentlichen Grundschulen in Hessen besucht werden.
(6) Kleine Anfrage des Abgeordneten Degen (SPD) vom 27.6.2017 betreffend Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache bzw. Migrationshintergrund in Hessen und Antwort des Kultusministers vom 11.8.2017; Drucksache 19/5046 (http://starweb.hessen.de)