Lehrkräfte am Limit

Überlastungsanzeigen aus 30 nordhessischen Schulen

Am ersten Schultag nach den Herbstferien wurden Überlastungsanzeigen aus fast 30 nordhessischen Schulen ans Kultusministerium geschickt. Weitere sind angekündigt.

In der Pressemitteilung des Bezirksverbands vom 15. Oktober 2018 heißt es:

Mit dem heutigen Tag haben Lehrkräfte von fast 30 nordhessischen Schulen Überlastungsanzeigen an das hessische Kultusministerium geschickt. Weitere Überlastungsanzeigen sind angekündigt. Die Lehrkräfte aus Schulen verschiedener Schulformen beklagen eine stetige Zunahme ihrer Aufgaben bei gleichzeitiger Verschlechterung der Bedingungen. Die Lehrkräfte zeigen an, ihr Pensum angesichts der Aufgabenfülle nicht mehr in der gebotenen Qualität zu schaffen und sind überzeugt, dass die Arbeitsbedingungen ihre Gesundheit langfristig schädigen. 

Hervorgegangen ist die kollektive Anzeigenaktion aus einer Konferenz von Schulpersonalräten, die die GEW Ende August in Kassel durchgeführt hat. Im Anschluss an ein Fachreferat von Dr. Frank Mußmann, Universität Göttingen, zu aktuellen Studien aus Niedersachsen, in denen sowohl die Arbeitszeit als auch die Belastung von Lehrkräften wissenschaftlich untersucht wurden, befasste sich eine Arbeitsgruppe mit dem Instrument der Überlastungsanzeige und beschloss, es nicht bei der theoretischen Beschäftigung mit dem Thema zu belassen, sondern selbst aktiv zu werden. „Die Ergebnisse, die Dr. Mußmann vorgetragen hat, zeigten elektrifizierende Wirkung“, so Johannes Batton vom GEW-Vorsitzendenteam. „Was gefühlt allen klar war, bekam auf einmal eine wissenschaftliche Grundlage und wurde nicht länger als individuelles Problem gesehen, sondern als ein strukturelles Problem erkannt.“ 
Dr. Mußmann hatte unter anderem aufgezeigt, dass immer neue zusätzliche Aufgaben in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt haben, dass die reine Unterrichtszeit der Lehrkräfte einen immer kleineren Teil ihrer Gesamtarbeitszeit ausmacht. Dieser liegt je nach Lehramt nur noch zwischen 30 und 40 Prozent. Diese Veränderung hätte kompensiert werden müssen durch eine entsprechende Verringerung der Unterrichtsstundenzahl und durch andere Entlastungen. Doch das Gegenteil ist geschehen. Lehrkräfte fast aller Lehrämter müssen heute in Hessen sogar mehr Stunden unterrichten als im Jahre 1975. Verschärft wird die Belastung noch durch Verhaltensprobleme von Schülern und nachlassende Unterstützung durch Eltern. Eine Folge: Es gibt kaum noch Lehrkräfte, die die Regelaltersgrenze gesund erreichen, viele scheiden krankheitsbedingt vorzeitig aus dem Dienst, andere gehen auf eine Teilzeitstelle, um das Pensum zu schaffen. „So kann es nicht weiter gehen“, ist auch die Co-Vorsitzende Andrea Michel überzeugt und verweist auf einen Nebenaspekt des Themas, den aktuellen Lehrermangel, der nach ihrer Überzeugung auch mit den schlechten Arbeitsbedingungen zusammenhängt.

Die GEW Nordhessen appelliert an die politisch Verantwortlichen, nach der Landtagswahl dafür zu sorgen, dass die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte reduziert und besondere Aufgaben wie Referendarsbetreuung mit zusätzlichen Stunden entlastet werden. Die gerade begonnene Unterstützung der Schulen durch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen müsse in erheblich stärkerem Umfang ausgebaut werden. Den hessischen Kultusminister fordert die GEW auf, sich seiner Verantwortung zu stellen und das Problem nicht, wie in der Vergangenheit bei Überlastungsanzeigen, wieder an die Schulämter und Schulen zurückzugeben. Der Kultusminister solle insbesondere alle Versuche unterlassen, Anzeigensteller und ihre Schulleitungen durch zusätzliche Berichtspflichten abzustrafen. „Die Gestaltungsmöglichkeiten liegen auf höchster politischer Ebene, nicht bei Schulleiterinnen und Schulleitern, die selbst hochbelastet und überlastet sind, wie u.a. eine Anhörung im hessischen Landtag im Juni 2018 eindrücklich belegt hat“, so Carsten Leimbach, ebenfalls im Vorsitzendenteam, abschließend. 

Johannes Batton, Carsten Leimbach, Andrea Michel 

Hintergrund 

Überlastungsanzeigen sind schriftliche Hinweise an den Arbeitgeber, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsleistung gefährdet ist und Schäden zu befürchten sind. Die Anzeigensteller berufen sich in der Regel auf das Arbeitsschutzgesetz, das Kultusministerium bewertet die Anzeigen jedoch nicht als Überlastungsanzeigen im arbeitsrechtlichen Sinne, weil bestimmte Kriterien des Arbeitsschutzgesetzes nicht erfüllt seien. Es behandelt sie als „Eingaben“. Für die GEW ist die Bezeichnung durch das Ministerium zweitrangig. Wichtig sei, dass Überlastungsanzeigen ein praktikables und gelebtes Instrument darstellen, um auf die eigene Arbeitsüberlastung hinzuweisen. Nach Auskunft des Kultusministers auf eine kleine Landtagsanfrage der SPD wurden im Schuljahr 2017/2018 hessenweit 95 als Überlastungsanzeigen gekennzeichnete Eingaben aus allen Schulformen gestellt. (Quelle:Landtagsdrucksache 19/6566 vom 2. August.2018)