Jugendliche im Lockdown

Was familienbegleitende Unterstützung leisten kann

HLZ 7-8/2021: Hessen postkolonial

Dass die Corona-Krise allen psychisch und emotional viel abverlangt, ist immer wieder Thema in den Medien. Für Kinder und Jugendliche trifft das in besonderem Maße zu. Eine Fokussierung der Auseinandersetzung auf die Frage, wie Lernstoff nachgeholt werden kann oder ob alle Kinder geimpft werden sollen, halten wir für einseitig. Auch die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe, die Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter und das Bundesjugendkuratorium forderten am 23. 4. 2021 in einem Offenen Brief, „nicht nur Bildungslücken zu schließen“, sondern die Familien-, Kinder- und Jugendhilfe sowie Ferienaktivitäten und Familienferienzeiten stärker zu fördern:

„Auch während der Pandemie müssen Kinder und Jugendliche Ferien haben, um Abstand von den Belastungen des Alltags und dem Druck der Schulerwartungen zu gewinnen.“ (www.agj.de > Pressemeldungen).

Ein Schwerpunkt der Corona-Maßnahmen sind Kontaktbeschränkungen. Für Kinder und Jugendliche heißt das, dass nicht nur der Präsenzunterricht reduziert wird oder ausfällt, sondern auch das Angebot, das sie in ihrer unterrichtsfreien Zeit in Sportvereinen oder Musikschulen wahrgenommen haben. Auf Betreiben vieler Eltern wurden auch die Kontakte zu Gleichaltrigen reduziert: „Triff dich nur noch mit einer Freundin oder einem Freund, um das Risiko zu minimieren und dich und uns nicht anzustecken.“

Ersatz für entfallende Begegnungen und Aktivitäten bot das Internet: Die Zeit, die Kinder und Jugendliche im Netz verbringen, wuchs deutlich an (HLZ Seite 34 f.). Mit dem E-Sport wandern selbst die Sportangebote in die digitale Welt. Zeitliche Restriktionen, die bisher aus erzieherischen Gründen galten, fielen weg: Eine Win-win-Situation für kindliche bzw. jugendliche Bedürfnisse?

Immer mehr Zeit im Netz

Fachleute, die von Studien wie der COPSY-Studie bestätigt werden, machen eine ganz andere Bilanz auf: Die Zahl der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen ist stark gestiegen, die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind überfüllt. Von Schlaf-, Ess- und Angststörungen, depressiven Verstimmungen bis hin zu suizidalen Gedanken spricht Professor Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Wiener Universitätsklinik, in einem Interview mit der ZEIT vom 14.3.2021 (https://bit.ly/3yFsDrZ).

Auch ich (M.K.) habe im engsten Freundeskreis miterlebt, wie eine Zehnjährige Essstörungen entwickelte, eine Zwölfjährige sich zu ritzen begann und ein 18-Jähriger starke Ängste und wahnhafte Vorstellungen entwickelte. Unmittelbare Begegnungen lassen sich eben nicht einfach durch elektronische Kontakte ersetzen.

Die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die menschliche Psyche stand ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Mittelpunkt der Forschung, der Humanistischen Psychologie, der Bindungsforschung oder auch des Interaktionismus.
Die Entwicklung des Selbstwertgefühls und einer stabilen Psyche ist zentrales Thema der Kohut‘schen Selbstpsychologie, die sich besonders mit der Therapie narzisstischer Störungen beschäftigt. Ihr zufolge werden Selbstsicherheit vermittelnde Strukturen im Kontakt entwickelt. In der Spiegelung durch Andere erfahren wir, wer wir sind. In derartigen Erfahrungen findet sich das Selbst und konsolidiert sich zu einem Ganzen; Reifung vollzieht sich im unmittelbaren Kontakt mit anderen Menschen. Von besonderer Bedeutung für die Bindungsforschung sind Geruch, Haut- und Blickkontakt. Das gilt nicht nur für die frühkindliche Entwicklung, denn in Jugend und Adoleszenz geht es darum, neue Bindungen einzugehen.

Auch wenn Kontakte immer häufiger elektronisch angebahnt werden, weil die Distanz Sicherheit bietet: Wenn Jugendliche wirklich erfahren wollen, wie andere sie sehen und annehmen, sind weitere Schritte nötig. Für nonverbale Signale benötigt man Blickkontakt, doch in der Videokonferenz schaut man die Kamera an. Wenn Kontakte elektronisch bleiben, werden Reifungsschritte ausbleiben. Dies ist problematisch in einem Alter, in dem eine Ablösung von den frühen Bindungspersonen angesagt ist.

Kinder und Jugendliche mit besonderen Ängsten können einen Rückzug in die häusliche Umgebung unter Umständen zunächst als entlastend erleben. Um so schwieriger wird es, wenn die Schule wieder öffnet. Es geht um sehr viel mehr als das Nachholen versäumter Lerninhalte. Familienbegleitende Unterstützung kann vieles erleichtern, wie der Bericht von Anna Elsässer zeigt (S. 29). Ihre Erfahrungen, die von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt werden, zeigen, wie wichtig es ist, Räume der Reflexion, des Innehaltens und zum Austausch über emotionale Erlebnisse und Bedürfnisse zu schaffen: in der ambulanten Jugendhilfe, in der Schule und in Kindertageseinrichtungen.

Partizipation und Demokratie

Ein Jahr Lockdown ist für Kinder und Jugendliche ein sehr viel bedeutenderer Zeitraum als für Erwachsene, wenn man ihn im Verhältnis zu ihrer bisherigen Lebenszeit sieht. Auch angesichts ihrer Entbehrungen im vergangenen Jahr sollten wir auf politischer Ebene für eine Ausweitung der Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche eintreten, sich gemeinsam frei zu entfalten.

Partizipation wird in der Pädagogik großgeschrieben, auch um demokratische Verhaltensweisen einzuüben. Angesichts einer Vielzahl sich schnell ändernder Vorgaben war das vergangene Jahr jedoch vor allem durch Ohnmachtserfahrungen der Kinder und Jugendlichen geprägt. Das geht auch aus den Befragungen „Jugend und Corona“ hervor, die von den Universitäten Hildesheim und Frankfurt am Main durchgeführt wurden. Die JuCo-Studie 2 kommt zu dem folgenden Ergebnis:

„Knapp 60 % der Befragten geben an, den Eindruck zu haben, die Situation junger Menschen sei Politiker:innen nicht wichtig und fast 65 % haben eher nicht oder gar nicht den Eindruck, dass die Sorgen junger Menschen in der Politik gehört werden.“ (https://bit.ly/3p924a6).

Wenn sich dieser Eindruck verfestigt, ist unsere Demokratie ernsthaft in Gefahr. Namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die COPSY- und JuCo-Studien ausgewertet haben, fordern deshalb einen Nachteilsausgleich für Kinder und Jugendliche, die wieder Akteurinnen und Akteure des gesellschaftlichen Handelns werden müssen:

„Angesichts der Vielfältigkeit der Folgen der Pandemie für junge Menschen plädieren wir dafür, dass eine ad-hoc-Sachverständigen-Kommission unter Beteiligung von jungen Menschen von der Bundesregierung eingesetzt wird, die noch in diesem Jahr einen Maßnahmenkatalog für den Nachteilsausgleich in Bezug auf Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter erarbeitet und einen Bericht zu den Folgen der Pandemie für junge Menschen erstellt.“ (https://bit.ly/3imcIJm)

Konkrete Forderungen betreffen den Schutz und die Beteiligungs- und Förderrechte von jungen Menschen auch in Zeiten einer Pandemie im institutionellen Gefüge des Aufwachsens in der Angebotsstruktur von Kitas, Bildungseinrichtungen oder in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere auch für junge Menschen in prekären Lebenslagen.

Michael Köditz und Anna Elsässer

Michael Köditz ist Mitglied im Vorsitzendenteam der GEW Südhessen. Anna Elsässer ist Mitglied im Vorsitzendenteam der Landesfachgruppe Sozialpädagogische Berufe der GEW Hessen.