Unter 18 nie!

Kindersoldaten gibt es auch in der Bundeswehr

HLZ 1-2/2021

Hessen 2021: Jahr der Rechte für alle Kinder

Der 12. Februar ist in jedem Jahr der „Internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten“ (Red Hand Day). Wohlfeile Bekundungen wie die von Michael Brand, dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Menschenrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, kommen dann von (fast) allen Parteien: „Die Kinder in tödliche Gefahr zu schicken, ist ein schwerwiegendes Verbrechen, das mit Menschenrechtsverletzungen und der Missachtung der menschlichen Würde der Jüngsten einhergeht. Die psychischen Folgen sind verheerend. Die Betroffenen werden auf grausamste Weise ihrer Kindheit beraubt.“

Das ist zweifellos richtig. Doch die meisten Urheberinnen und Urheber solcher Verlautbarungen denken dabei an Kindersoldatinnen und Kindersoldaten in fernen Weltgegenden, in denen sich „unsere“ vielzitierten „Werte“ (anders als die Waffen aus deutscher Produktion) noch nicht durchgesetzt haben. Deutschland ist damit nicht gemeint: So etwas wäre hier undenkbar! Wirklich?

Vom Splitter und vom Balken …

1989 wurde nach zähem Ringen in der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) festgelegt, dass Kinder unter 18 Jahren besonderen Schutz und Rechte genießen und dass das Wohl des Kindes immer Vorrang haben muss. Ein Kind ist nach dem Wortlaut der Konvention „jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt“ (Artikel 1). Dennoch lässt Artikel 38 der UN-KRK zu, Kinder nach Vollendung des 15. Lebensjahrs als Soldatinnen oder Soldaten für das Militär einzuziehen: „Die Vertragsstaaten nehmen davon Abstand, Personen, die das fünfzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu ihren Streitkräften einzuziehen. Werden Personen zu den Streitkräften eingezogen, die zwar das fünfzehnte, nicht aber das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, so bemühen sich die Vertragsstaaten, vorrangig die jeweils ältesten einzuziehen.“ (Artikel 38 Abs.3 UN-KRK)

Ein Zusatzprotokoll, das die Altersgrenze für die Rekrutierung weltweit auf 18 Jahre anheben sollte, wurde auch wegen des Drucks aus Deutschland und anderen westlichen Ländern abgeschwächt. Danach können Jugendliche unter 18 Jahren zu nationalen Streitkräften eingezogen werden, wenn die Einziehung „tatsächlich freiwillig erfolgt“ und die „Zustimmung der Eltern oder des Vormunds“ vorliegt. Außerdem muss „die Person über die mit dem Militärdienst verbundenen Pflichten umfassend aufgeklärt“ werden und „einen verlässlichen Altersnachweis“ erbringen. Auch Deutschland macht von dieser Möglichkeit regen Gebrauch und nimmt jedes Jahr mehrere hundert 17-Jährige in die Bundeswehr auf. Damit ist Deutschland einer von weltweit 46 Staaten, die unter 18-Jährige rekrutieren. Da nach Artikel 1 der UN-KRK alle Menschen unter 18 Jahren als Kinder gelten, darf man also mit Fug und Recht davon sprechen, dass es auch in Deutschland Kindersoldaten in der Bundeswehr gibt.

Seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 hat sich die Zahl Minderjähriger in der Bundeswehr von 689 auf 2.126 im Jahr 2017 verdreifacht. 2018 traten 1.679 Minderjährige ihren Dienst bei der Bundeswehr an, 2019 waren es 1.706. Besonders stark stieg die Zahl der minderjährigen Soldatinnen: 2011 traten 57 Mädchen ihren Dienst in der Bundeswehr an, 2019 waren es bereits 288.

Die Mädchen und Jungen treten einen freiwilligen Wehrdienst an oder verpflichten sich als Soldatinnen und Soldaten auf Zeit. Sie werden an der Waffe ausgebildet und unterliegen demselben militärischen Drill wie Erwachsene. Sie werden mit erwachsenen Soldatinnen und Soldaten zusammen untergebracht. Das Jugendarbeitsschutzgesetz und der gesetzliche Jugendschutz können in der Bundeswehr nicht eingehalten werden. Ausgenommen sind sie nur von Auslandseinsätzen und bewaffneten Wachdiensten, ansonsten gibt es keine besonderen Schutzmaßnahmen. Eine Kündigung der oft langjährigen Verträge ist nach Ablauf der halbjährigen Probezeit nur schwer möglich. Ein Fernbleiben von der Bundeswehr gilt dann als strafbewehrte Desertion.

Aggressive Bundeswehrwerbung

Die hohe Zahl minderjähriger Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr ist das Ergebnis einer aggressiven Werbung der Bundeswehr in Schulen, bei Abenteuer- und Sportevents, bei Ausstellungen und Messen wie der Gamescom, der weltweit größten Messe für Computer- und Videospiele. Geworben wird auch auf der didacta oder bei Landesfesten wie dem Hessentag, wo die Bundeswehr regelmäßig mit der größten Ausstellungsfläche in Erscheinung tritt, bei Vorträgen in Jobcentern, Arbeitsagenturen und Berufsinformationszentren.

Bei diesen Veranstaltungen wirbt die Bundeswehr insbesondere bei minderjährigen Jugendlichen. Auf Facebook, Snapchat oder Instagram ist die Bundeswehr ebenso präsent wie auf YouTube. Hier laufen hochprofessionell gemachte Serien wie „Die Rekruten“, „Mali“ oder auch „KSK – Kämpfe nie für Dich allein“. Sie kommen als Action-Serien daher und werden millionenfach (!) aufgerufen. Die Risiken von Kriegseinsätzen werden in diesen Serien ebensowenig thematisiert wie die nachgewiesene massive Unterwanderung der „Elitetruppe“ KSK durch Rechtsextreme.

Kritische Anmerkungen findet man sogar in den Berichten des Wehrbeauftragten. 2018 berichtete der damalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) über die Kritik von Eltern an der Werbung der Bundeswehr: „Jugendliche hatten ungebeten Postkarten erhalten, auf denen auf der Vorderseite im Stil des Namensschildes des Kampfanzuges der Name des Minderjährigen aufgedruckt ist. Damit verbunden ist die Frage an den Adressaten, ob er oder sie bereit für den Dienst sei. Gerade in Bezug auf Minderjährige sollte die Bundeswehr zurückhaltender agieren und ihre personalisierte Werbung überdenken.“

Die Ausgaben der Bundeswehr für Nachwuchswerbung liegen nach offiziellen Angaben bei rund 35 Millionen Euro.

Seit Jahren wächst die Kritik an dieser Rekrutierungspraxis. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, der die Einhaltung der UN-Kinderrechtskonvention überprüft, hat Deutschland schon mehrfach aufgefordert, das Rekrutierungsalter endlich auf 18 Jahre zu erhöhen und jede militärische Werbung bei Minderjährigen zu verbieten. Unterstützt wird diese Forderung von der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder des Deutschen Bundestages und von zahlreichen zivilgesellschaftlichen, kirchlichen und gewerkschaftlichen Akteuren. Die GEW ist Gründungsmitglied der Kampagne „Unter 18 nie!“.

Die Praxis der Anwerbung von Minderjährigen wird sogar in der Bundeswehr kritisch gesehen: Dem Bericht des Wehrbeauftragten zufolge fühlen sich viele Vorgesetzte mit der steigenden Zahl minderjähriger Soldatinnen und Soldaten überfordert. Den Minderjährigen müsse eine besondere Fürsorge zukommen, weswegen sie für viele Aufgaben nicht eingesetzt werden könnten. Zudem müsse in vielen Fragen die Erlaubnis der Eltern eingeholt werden. Noch einmal der Wehrbeauftragte Bartels in seinem Bericht aus dem Jahr 2016: „Mit dem Engagement Deutschlands bei der Wahrnehmung der völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen des Kinder- und Minderjährigenschutzes scheint es nicht ganz leicht zu vereinbaren, wenn die ausnahmsweise Rekrutierung Minderjähriger zum Regelfall mit steigender Tendenz wird.“

Die Kritik wächst, die Politik hört weg

Viele der fundamentalen Rechte und Schutzgarantien für Minderjährige, zu denen sich Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, können im deutschen Wehrdienst nicht gewährleistet werden. Bei militärischen Übungen der Bundeswehr kommt es immer wieder zu schweren Verletzungen und Todesfällen. Auch sexualisierte Rituale, sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen von minderjährigen oder gerade erst volljährigen Soldatinnen und Soldaten finden Eingang in die Berichte der Wehrbeauftragten. 2018 berichtete der Wehrbeauftragte von einem Stabsgefreiten, der „als Gegenleistung für eine Mitfahrgelegenheit von einer minderjährigen Soldatin Oralsex“ verlangte, 2019 von einem Oberleutnant, der „nicht davor zurückscheute, einen minderjährigen Rekruten mit in ein Bordell zu nehmen“. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.

Unter 18 nie! – Die Kampagne

Für mich besteht kein Zweifel: In einer Armee, auch in der Bundeswehr, haben Kinder und Jugendliche nichts zu suchen. 151 Länder, die große Mehrheit der globalen Staatengemeinschaft, verzichten vollständig auf die Rekrutierung minderjähriger Soldatinnen und Soldaten. Lediglich 46 Armeen weltweit rekrutieren noch Minderjährige, darunter nur wenige EU- und NATO-Staaten. Die Zahl 500 wird nur in drei Ländern überschritten: von den USA, von Großbritannien und – von Deutschland. Im internationalen Vergleich gibt die Bundesrepublik ein schlechtes Beispiel ab.

Der Kampf gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten und für die Einhaltung des internationalen 18-Jahres-Standards bei der Rekrutierung (Straight 18) muss deshalb in Deutschland beginnen, statt mit den Fingern auf andere zu zeigen.

Die GEW Hessen ist Mitinitiatorin und Gründungsmitglied der Kampagne „Unter 18 nie!“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, durch Kampagnen und gezielte Lobbyarbeit eine Anhebung des Rekrutierungsalters für den Militärdienst auf 18 Jahre sowie als Fernziel ein Verbot jeglicher Bundeswehrwerbung bei Minderjährigen in Deutschland zu erreichen. Das Bündnis wird getragen von Friedensinitiativen, Kirchen, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen. Alle Informationen sowie Möglichkeiten der Unterstützung finden sich auf der Homepage www.unter18nie.de.

Tony C. Schwarz

Tony C. Schwarz ist stellvertretender Landesvorsitzender der GEW Hessen.


Bündnis „Demokratiebildung nachhaltig gestalten“

Am 20.11.2019, dem Tag der Kinderrechte, wurde auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe), der Sportjugend Hessen und von MAKISTA (Bildung für Kinderrechte & Demokratie) das hessische Bündnis „Demokratiebildung nachhaltig gestalten“ gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehören auch die GEW Hessen, der DGB Hessen-Thüringen, die Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte, die Diakonie Hessen, Arolsen Archives und das Sarah-Nussbaum-Zentrum. Angesichts rassistischer Morde und der Zunahme von Rechtspopulismus und -extremismus hat sich das Bündnis die Aufgabe gesetzt,  demokratische Bildungsarbeit zu vernetzen, Aktionen für Kinderrechte zu organisieren und Möglichkeiten der gemeinsamen Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu eruieren. Im Zentrum steht die Bemühung, die Themenfelder Politische Bildung, historisches und globales Lernen und Demokratielernen und Kinderrechtsbildung zusammen zu denken. 2021 wird das Bündnis die Aktivitäten bei der Verbreitung der Kinderrechte unterstützen. Hierzu gibt es bereits gute Kontakte zur hessischen Kinder- und Jugendrechtsbeauftragten Miriam Zeleke und zum Sozialministerium, die das hessische Jahr der Rechte für alle Kinder ausgerufen haben. Im September fanden Spendenläufe für Kinderrechte statt, deren Einnahmen MAKISTA und dem Jugendzentrum k-town in Hanau zugute kamen.

Christa Kaletsch und Helmolt Rademacher, DeGeDe Hessen