Die Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung gehört zu den drängendsten aktuellen bildungspolitischen Herausforderungen.
Bei der Umsetzung in Hessen bestehen erhebliche Probleme. Sind von der angekündigten Novellierung des Schulgesetzes Fortschritte zu erwarten?
Die bildungspolitischen Sprecher der Koalitionsparteien Armin Schwarz (CDU) und Mathias Wagner (DIE GRÜNEN) haben im Oktober 2016 gemeinsam mit Kultusminister Alexander Lorz den Entwurf für eine Novellierung des Hessischen Schulgesetzes vorgestellt. Der Pressemitteilung des Ministeriums zufolge verfolgt die Koalition dabei drei Leitlinien: Qualität von Schule und Unterricht, bestmögliche individuelle Förderung sowie die Stärkung der Wahlfreiheit und der Chancengerechtigkeit. „Normprägende Handlungsmaxime“ hinsichtlich der Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und Beeinträchtigungen beschult werden, sei die weitere Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Ganz sicher gehört die Umsetzung des von der UN-Behindertenrechtskonvention verbrieften Rechts auf inklusive Bildung zu den drängendsten aktuellen bildungspolitischen Herausforderungen. Schließlich zeigen sich bei der Umsetzung in Hessen erhebliche Schwierigkeiten, auf die nicht zuletzt die Gruppe InklusionsBeobachtung wiederholt mit Nachdruck hingewiesen hat. Daher stellt sich die Frage, ob von der Novellierung substantielle Fortschritte zu erwarten sind – was zumindest die Formulierung des Kultusministers nahelegt: Die gesetzliche Verankerung von inklusiven Schulbündnissen solle sicherstellen, „dass möglichst kein Elternwunsch auf inklusive Beschulung abgelehnt werden muss und das Kindeswohl bei der Wahl des Förderorts im Mittelpunkt steht.“ (PM 04.10.2016) Aus dieser Formulierung lässt sich allerdings auch ableiten, dass ein Elternwunsch auf inklusive Beschulung in letzter Konsequenz weiterhin eben doch abgelehnt werden kann. Die angesprochene Frage nach dem Förderort wird sich in Hessen weiterhin auch in Bezug auf die Förderschule stellen, denn das etablierte Doppelsystem aus allgemeinen Schulen und Förderschulen soll offensichtlich auf Dauer Bestand haben.
Im November hat der Kulturpolitische Ausschuss als der zuständige Fachausschuss des Hessischen Landtages zahlreiche Verbände zu einer Stellungnahme zum Gesetzentwurf aufgefordert – darunter mit dem Landesausländerbeirat, Gemeinsam leben Hessen e.V. und der GEW Hessen auch mehrere Mitgliedsorganisationen der Gruppe InklusionsBeobachtung. Die mündliche Anhörung im Kulturpolitischen Ausschuss ist für den 8. Februar 2017 geplant. Das novellierte Schulgesetz soll zum Beginn des Schuljahres 2017/2018 in Kraft treten. Angesichts dieser Zeitplanung ist es nicht möglich, die Ergebnisse der Enquetekommission „Kein Kind zurücklassen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“ als Ausgangspunkt für den Gesetzgebungsprozess zu nutzen. In dieser Kommission befassen sich Landtagsabgeordnete und zahlreiche Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis mit verschiedenen bildungspolitischen Fragen, darunter unter anderem im Rahmen einer Anhörung am 18. Dezember 2015 mit dem Thema Inklusion. Der Abschlussbericht der Enquetekommission wird für das Frühjahr 2017 erwartet.
Bereits im Januar 2016 hatten das Kultusministerium und die Koalitionsparteien die Grundzüge der geplanten inklusiven Schulbündnisse vorgestellt. Innerhalb eines inklusiven Schulbündnisses sollen demnach alle allgemeinen Schulen, Förderschulen sowie Beratungs- und Förderzentren zusammenarbeiten. Dazu sollen sie sich eine Konferenzstruktur geben und Vereinbarungen zu den so genannten vorbeugenden Maßnahmen und zur sonderpädagogischen Förderung treffen. „Übergänge im Bildungsweg werden durch verbindliche Absprachen zwischen abgebenden und aufnehmenden Schulen klar geregelt, so dass zum Beispiel ein Kind, das in der Grundschule inklusiv beschult wurde, einen nahtlosen Anschluss an das passende inklusive Angebot im weiterführenden Bereich findet“. Zudem soll die Ressourcenzuweisung neu geregelt werden. Die Zusammenfassung der Stellen für die Inklusion und für die Förderschulen in einem Pool soll mehr Flexibilität ermöglichen. (PM 21.01.2016) Während die Öffentlichkeit in den folgenden Monaten nichts Näheres über die Details erfuhr, starteten bereits im Schuljahr 2016/2017 in mehreren Schulamtsbezirken die Vorbereitungen der inklusiven Schulbündnisse, auch wenn bislang keine gesetzliche Grundlage besteht. Mit dem Zuweisungserlass für das Schuljahr 2015/2016 richtet das Kultusministerium zudem 40 Stellen für die inklusiven Schulbündnisse ein – für deren Verwaltung wohlgemerkt, nicht für die praktische pädagogische Arbeit.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird nun endlich deutlich, wie die inklusiven Schulbündnisse ausgestaltet werden sollen. Wichtige Detail-Fragen werden allerdings auf dem Verordnungsweg geregelt, daher ist auch die anschließende Überarbeitung der Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen (VOSB) für die Umsetzung von großer Bedeutung. Für die entscheidende Frage der Personalausstattung sind hingegen der Haushalt des Landes sowie der bereits erwähnte Zuweisungserlass maßgeblich.
Die inklusiven Schulbündnisse sollen in einem neu gefassten Artikel 52 des Hessischen Schulgesetzes verankert werden. In Absatz 1 ist vorgesehen, dass alle allgemeinen Schulen und Förderschulen des Dienstbezirks eines Staatlichen Schulamtes ein Schulbündnis bilden. Es können, entsprechend der regionalen Struktur, auch mehrere Bündnisse parallel gebildet werden. Absatz 2 sieht Folgendes vor: „Die inklusiven Schulbündnisse haben die Aufgabe, unter der Leitung der Schulaufsichtsbehörde die Standorte für den inklusiven Unterricht für die Schülerinnen und Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung entsprechend den Förderschwerpunkten (…) festzulegen. An den Beratungen nehmen die Schulleiterinnen und Schulleiter der Bündnisschulen und der Schule, an der das Beratungs- und Förderzentrum eingerichtet ist, sowie je eine Vertreterin oder ein Vertreter der Schulträger teil. Ziel der Beratungen ist es, dem Wunsch der Eltern von Kindern mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung nach einer inklusiven Beschulung grundsätzlich entsprechen zu können.“
Einerseits ist es zweifelsohne sinnvoll, dass Schulen und Schulträger auf regionaler Ebene gut zusammenarbeiten. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich in den inklusiven Schulbündnissen einzelne Schulen hinsichtlich ihrer Verantwortung für die Umsetzung der Inklusion zurücknehmen werden. Während bei bestimmten Bedarfen, wie beispielsweise beim Förderschwerpunkt Sehen, das Vorhalten von spezifischen Angeboten an einzelnen Schulen sinnvoll sein kann, droht im Rahmen der inklusiven Schulbündnisse jedoch eine Entwicklung hin zu de Facto-Schwerpunktschulen – auch wenn dieser Begriff in Hessen vermieden wird. In diesem Fall würden nur wenige Regelschulen den Großteil der Verantwortung für die Umsetzung der Inklusion übernehmen. Dies entspricht jedoch nicht der Intention der UN-Behindertenrechtskonvention, die vorsieht, dass „Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht (…) haben.“ (Artikel 24 Absatz 2 Buchstabe b). Die Gefahr einer solchen Entwicklung der inklusiven Schulbündnisse besteht insbesondere auch, weil die für Grundschulen bestehenden Schulbezirke in Zukunft ausdrücklich nicht für Standorte des inklusiven Unterrichts gelten sollen. Die Schulträger müssen nach dem Schulgesetz für die Grundschulen Schulbezirke bilden, um „eine hohe Qualität des Lernens bei pädagogisch und organisatorisch sinnvollen Klassengrößen zu erreichen“ (Artikel 143 Absatz 1). Inklusiv beschulte Grundschulkinder müssen demnach in Zukunft oft eine andere Schule als die gleichaltrigen Kinder aus der Nachbarschaft besuchen.
Wie oben dargestellt, sollen an den Beratungen der Schulbündnisse lediglich die Schulleiterinnen und Schulleiter der beteiligten Schulen sowie eine Vertreterin oder ein Vertreter des Schulträgers teilnehmen. Eine Beteiligung von Personalräten sowie Eltern- und Schülervertretung ist – entgegen anderslautender Vorankündigungen – nicht vorgesehen. Deren Perspektive und Sachkompetenz bleibt somit systematisch außen vor, sie können nicht als Korrektiv wirken. Zu der angekündigten Neuregelung der Ressourcensteuerung findet sich im Gesetzentwurf nichts. Es ist daher nicht absehbar, dass sich der Status der Förderschullehrerinnen und -lehrer an den allgemeinen Schulen ändert, da diese weiterhin den Beratungs- und Förderzentren zugeordnet bleiben.
Artikel 52 Absatz 2 soll lauten: „Die zuständigen sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentren beraten und unterstützen die allgemeinen Schulen bei vorbeugenden Maßnahmen und Maßnahmen zur Minderung von Beeinträchtigungen sowie bei der inklusiven Beschulung. Sie stellen den allgemeinen Schulen Förderschullehrkräfte für den inklusiven Unterricht im Rahmen des Stellenkontingents zur Verfügung.“ Die begrüßenswerte Ankündigung aus dem Januar 2016, dass Sonderpädagoginnen und -pädagogen im Rahmen der inklusiven Schulbündnisse mit ihrer vollen Stundenzahl an nur einer allgemeinen Schule eingesetzt werden sollen, wird ist so wohl kaum zu realisieren. Vielmehr ist zu befürchten, dass das weit verbreitete Phänomen der „Wanderlehrerinnen“ und -lehrer Bestand haben wird – auf Kosten von Präsenz und Kontinuität. In Zukunft sollen Beratungs- und Förderzentren nicht nur an Förderschulen, sondern auch an allgemeinen Schulen angesiedelt werden können (Artikel 52 Absatz 4). Dadurch kann sich zwar die Rolle von allgemeinen Schulen entsprechend ändern, es bleibt aber bei der problematischen Dominanz der Beratungs- und Förderzentren bei der Umsetzung der Inklusion.
In der jetzigen Fassung formuliert das Hessische Schulgesetz einen Ressourcenvorbehalt, mit dem das Recht auf inklusive Beschulung ausgehebelt werden kann. In Artikel 54, der die Beschulung bei Anspruch auf sonderpädagogische Förderung regelt, heißt es in Absatz 4: „Kann an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpädagogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen, weil die räumlichen und personellen Möglichkeiten oder die erforderlichen apparativen Hilfsmittel oder die besonderen Lehr- und Lernmittel nicht zur Verfügung gestellt werden können, bestimmt die Schulaufsichtsbehörde auf der Grundlage einer Empfehlung des Förderausschusses nach Anhörung der Eltern, an welcher allgemeinen Schule oder Förderschule die Beschulung erfolgt.“
Dieser Artikel soll nun wie folgt formuliert werden: „Kann an der zuständigen allgemeinen Schule die notwendige sonderpädagogische Förderung nicht oder nicht ausreichend erfolgen, bestimmt die Schulaufsichtsbehörde auf der Grundlage der Empfehlung des Förderausschusses nach Anhörung der Eltern im Rahmen der Festlegung des inklusiven Schulbündnisses (…), an welcher allgemeinen Schule oder Förderschule die Beschulung erfolgt.“ Diese Neuformulierung ändert nichts daran, dass das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Hessen unter einen Vorbehalt gestellt wird. Durch den Wegfall der konkreten Benennung von Ressourcen wird es unter Umständen – entgegen der proklamierten Intention der Koalition – sogar für die Schulaufsicht juristisch leichter, einen Wunsch auf inklusive Beschulung abzulehnen. Dies gilt nicht zuletzt auch, weil die Beratungs- und Förderzentren Förderschullehrkräfte für den inklusiven Unterricht, wie oben dargestellt, nur „im Rahmen des Stellenkontingents“ zur Verfügung stellen können.
Die Zahl der abgelehnten Elternwünsche auf inklusive Beschulung ist dem Kultusministerium zufolge seit der letzten Novellierung des Schulgesetzes 2011 zurückgegangen. Dennoch bleibt der Ressourcenvorbehalt hoch problematisch. Die wünschenswerte Entwicklung hin zu einem wirklich inklusiven Schulsystem ist aber auch durch eine unzureichende Ressourcenausstattung gefährdet. In den vergangenen Jahren hat sich die Ausstattung mit Förderressourcen pro Schülerin und Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf im inklusiven Unterricht stetig verschlechtert. Die reale Ressourcenausstattung ist immer weiter hinter den von der Verordnung vorgesehenen mindestens vier Förderschullehrerstunden pro Schülerin oder Schüler mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung zurückgeblieben. Eine paradoxe Folge der verfehlten Umsetzung sind steigende Anmeldezahlen an einzelnen Förderschulen, insbesondere beim Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Da die Koalition einerseits das Elternwahlrecht hinsichtlich des Förderorts betont und andererseits die Inklusion mit zu wenigen Ressourcen ausstattet, trägt sie so zu einer dauerhaften Stabilisierung des Sondersystems bei, anstatt dieses im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu überwinden.