Drei Profile und ein Pakt

Mehr Schulen mit ganztägigem Angebot in Hessen

HLZ 7-8/2022: Rechtsanspruch Ganztag?

Das Angebot an den hessischen Schulen ist in den vergangenen 20 Jahren rasant angewachsen: Im Schuljahr 2003/04 befanden sich lediglich 226 Schulen im Ganztagsprogramm des Landes. Für den Ganztagsbetrieb wurden diesen über die Grundunterrichtsversorgung hinaus 631 Stellen zusätzlich zugewiesen. Zum Schuljahr 2021/22 hat sich die Zahl der Schulen etwa versechsfacht, nämlich auf eine Gesamtzahl von 1.260. Knapp 4.000 Stellen werden inzwischen für den Ganztag aufgebracht (Tabelle 1).

Anlässlich des Schuljahresbeginns stellte Kultusminister Lorz im August 2021 fest, dass mittlerweile neun von zehn weiterführenden Schulen und mehr als zwei Drittel aller Grundschulen über ein Ganztagsprogramm verfügen:
„Statt einer verpflichtenden Ganztagsschule für alle setzen wir auch weiterhin auf eine Vielfalt freiwilliger Ganztagsangebote. Dadurch kommen wir dem Wunsch vieler Eltern nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer stärker nach und sind schon jetzt gut vorbereitet auf den voraussichtlich ab dem Jahr 2026 geltenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Grundschulkinder.“

Ob die Einführung des Rechtsanspruchs tatsächlich als gut vorbereitet gelten kann, muss angesichts der aktuellen Kalkulation der GEW Hessen zum zusätzlichen Personalbedarf in Frage gestellt werden. Zutreffender mag die Aussage sein, dass für die Landesregierung der Gesichtspunkt der Betreuung angesichts des – durchaus berechtigten – Elternwunschs nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Mittelpunkt steht. Hinter dem Euphemismus der „Vielfalt freiwilliger Angebote“ stehen allerdings höchst unterschiedliche Modelle.

Die „Richtlinie für ganztägig arbeitende Schulen in Hessen“, die zuletzt 2018 überarbeitet wurde, unterscheidet traditionell zwischen drei Profilen. Hinzugekommen ist der von der schwarz-grünen Koalition ins Leben gerufene „Pakt für den Nachmittag“.

Die Profile der Ganztagsschulrichtlinie

Die Profile werden von der Richtlinie wie folgt definiert:

  • Schulen in Profil 1 können je nach Konzept der einzelnen Schule Ganztagsangebote an drei, vier oder fünf Tagen in der Woche und für verschiedene Jahrgänge vorhalten. Sie decken an mindestens drei Tagen ein Angebot von 7 Zeitstunden von 7.30 bis 14.30 Uhr ab. Die Teilnahme an den Ganztagsangeboten ist für die Schülerinnen und Schüler freiwillig. Schulen mit Ganztagsangeboten im Profil 1 erhalten eine stufenweise Zuweisung in Stellen und Mitteln, mindestens jedoch in Höhe einer halben Lehrerstelle.
  • Schulen mit Ganztagsangeboten im Profil 2 bieten an fünf Tagen in der Woche ein Angebot von 7.30 bis 16 oder 17 Uhr für verschiedene Jahrgänge an. Am Freitagnachmittag ist die Schule verpflichtet, nach 14.00 Uhr ein Angebot für diejenigen Schülerinnen und Schüler vorzuhalten, die dies benötigen und angemeldet sind. Die Teilnahme an den Ganztagsangeboten ist für die Schülerinnen und Schüler freiwillig. Schulen mit Ganztagsangeboten im Profil 2 erhalten eine Zuweisung in Stellen und Mitteln von bis zu 20 % der Grundunterrichtszuweisung.
  • Ganztagsschulen (Profil 3) bieten an fünf Tagen in der Woche Unterricht, Betreuung und verpflichtende Ganztagsangebote in der Zeit von 7.30 bis 16 oder 17 Uhr für alle ihre Schülerinnen und Schüler an. Die Teilnahme an den zusätzlichen Angeboten ist im Rahmen des jeweiligen Ganztagskonzepts verpflichtend. Es ist eine Teilgebundenheit für Klassen oder Jahrgänge möglich. Die Höhe der Zuweisung beträgt für Grundschulen bis zu 30 %, für Förderschulen bis zu 25 % und für Schulen der Sekundarstufe I bis zu 20 % zusätzlich zur Grundunterrichtsversorgung.
  • Pakt für den Nachmittag: Auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Land und dem jeweiligen Schulträger bieten Grundschulen und Grundstufen von Förderschulen an fünf Tagen in der Woche von 7.30 bis 17.00 Uhr ein ganztägiges Angebot sowie in den Ferien Bildungs- und Betreuungsangebote zur freiwilligen Teilnahme an. Schulen im Pakt für den Nachmittag arbeiten nach den Kriterien des Profils 2. Ab 14.30 Uhr ist der Schulträger für die Finanzierung zuständig.

Es verbergen sich also höchst unterschiedliche Formen an ganztägigen Angeboten hinter der Gesamtzahl von 1.260. Lediglich unter Profil 3 ist ein gebundener Ganztag mit einer Rhythmisierung des Unterrichts über den Vor- und den Nachmittag zu verstehen. Viele potentielle Vorteile, insbesondere die Verteilung von Phasen der An- und der Entspannung über den ganzen Schultag, lassen sich somit nur im Rahmen von Profil 3 realisieren. Um eine Übersicht über die Verbreitung der Profile zu erhalten, wurde eine von der Serviceagentur Hessen „Ganztägig Lernen“ zur Verfügung gestellte Übersicht über alle Schulen im Ganztagsprogramm ausgewertet. Dabei kann es zu abweichenden Werten gegenüber anderen Quellen kommen, etwa weil verbundene Schulen unterschiedlich gezählt werden. In Fällen, in denen eine Grundschule mit einer Schulform aus dem Sekundarbereich verbunden ist, wird diese hier nur als Grundschule berücksichtigt. Die Zusammenfassung in Tabelle 2 zeigt auf, dass sich die Situation je nach Schulform sehr unterschiedlich darstellt. An den Grundschulen befindet sich mit einer Gesamtzahl von 348 inzwischen die Mehrzahl im Pakt für den Nachmittag, welcher von der Landesregierung forciert wird. Gleichwohl ist die Zahl der Grundschulen in Profil 1 mit 293 nur wenig geringer. Profil 2 hingegen ist mit 85 Schulen deutlich seltener vertreten. Angebote nach Profil 3 gibt es nur an 16 Grundschulen und mit diesen verbundenen Schulen.

 

Gebundene Ganztagsschulen in Ballungsräumen

 

Unter den weiterführenden Schulen befindet sich mit 201 mehr als die Hälfte in Profil 2, 159 sind in Profil 1. Auch im Sekundarbereich stellt Profil 3 die Ausnahme dar: Die Gesamtzahl liegt bei 32, fast allesamt integrierte oder kooperative Gesamtschulen. Bei den Förderschulen hingegen ist mit 65 die Mehrzahl in Profil 3 zu verorten. Überwiegend handelt es sich dabei um Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Auch in Profil 1 finden sich 52 Förderschulen, während Profil 2 nur von untergeordneter Bedeutung ist.
Da der Pakt für den Nachmittag auf einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Land und dem Schulträger beruht, ist die Situation vor allem im Primarbereich regional sehr unterschiedlich. Das zeigt Tabelle 3 auf: Lediglich im Odenwaldkreis, der Stadt Fulda, dem Kreis Marburg-Biedenkopf, dem Rheingau-Taunus-Kreis sowie dem Schwalm-Eder-Kreis befindet sich noch keine einzige Grundschule im Pakt. Umgekehrt nimmt in der Stadt Darmstadt, im Kreis Darmstadt-Dieburg, im Kreis Gießen, im Werra-Meißner-Kreis sowie in der Stadt Kassel die deutliche Mehrheit der Ganztagsgrundschulen am Pakt teil. Tendenziell ist festzustellen, dass der Pakt und Profil 1 in den eher ländlich geprägten Regionen klar dominieren. Gebundene Ganztagsgrundschulen in Profil 3 gibt es hingegen primär in den Städten Frankfurt, Gießen, Kassel, Marburg, Offenbach und Wiesbaden, jedoch nur vereinzelt in Flächenkreisen wie dem Kreis Gießen, dem Wetteraukreis sowie dem Kreis Limburg-Weilburg.

Die Summe von knapp 4.000 Stellen für den Ganztagsbetrieb läuft bei 1.260 Schulen auf eine durchschnittliche Zuweisung von rund drei Stellen pro Schule hinaus. Davon können die Schulen einen gewissen Anteil in „Mittel“ umwandeln, aus welchen dann beispielsweise Honorarkräfte engagiert werden. Auf die damit verbundene Problematik geht der Kommentar von Harald Freiling in dieser HLZ ein. Vielen Grundschulen in Profil 1 wird nicht mehr als eine Stelle zusätzlich zugewiesen, mit der sie den gesamten Ganztagsbetrieb sicherstellen müssen. Die Zuweisung für weiterführende Schulen ist zwar zumeist höher, diese sind allerdings auch deutlich größer und haben entsprechend mehr Schülerinnen und Schüler. Auf Basis einer so geringen Ressourcenzuweisung ist die Umsetzung von guten Ganztagskonzepten schwierig. Trotz des Engagements, das viele Kollegien schon jetzt bei der Ganztagsschulentwicklung an den Tag legen, gilt: Wenn es nicht nur um Betreuung gehen soll, sondern auch um gute Bildung, dann sind bessere Rahmenbedingungen unerlässlich.

Roman George