Mein Name ist Dr. Ina Zöller. Geboren wurde ich in Hannover, wo ich auch die ersten 29 Jahre meines Lebens verbrachte. 1999 kam ich nach Gießen, mit dem festen Vorsatz im Gepäck, hier an der Abendschule meine Allgemeine Hochschulreife zu erlangen.
Meine Schullaufbahn hatte ich mit 17 Jahren in der Klasse 11 auf einem humanistischen Gymnasium auf eigenen Wunsch abgebrochen. Daran schloss ich zwei Ausbildungen zur Zahnmedizinischen Fachangestellten (ZFA) und Medizinisch-Technischen Assistentin (MTA) an. Nach sechsjähriger Berufstätigkeit in der Medizinischen Hochschule Hannover in der Mikrobiologie wurde mein Wunsch, Zahnmedizin zu studieren, immer deutlicher.
Zum Sommersemester 1999 meldete ich mich deshalb am Abendgymnasium in Gießen an. Ich hatte zu dem Zeitpunkt auch eine Anstellung als MTA in der Biochemie in der Forschung angetreten, so dass ich in der Woche von 8.00 bis 16.00 Uhr arbeitete und ab 17.30 Uhr in der Abendschule auf der Schulbank saß. Die größte Herausforderung war für mich zu diesem Zeitpunkt, erst einmal wieder das Lernen zu lernen. Das Klima in der Abendschule war ein anderes als in der normalen Schule. Hier saß jeder aus freien Stücken und investierte seine Freizeit, somit waren alle Schüler, ob alt oder jung, stark motiviert, wodurch auch die Lehrerschaft immer stark gefordert wurde. Auch in unserer Klasse waren Schüler im Alter von 20 bis 50 Jahren und ich empfand die Altersunterschiede und unterschiedlichen Ansichten als sehr inspirierend.
In den Herbstferien 1999 brachte ich meine Tochter zur Welt, somit arbeitete ich tagsüber nicht mehr und ging nur abends direkt danach weiter zur Abendschule. Die Abendschule war für mich als junge Mutter eine sehr willkommene Abwechslung zum Alltag und den Muttersorgen, und so investierte ich all meine Kraft in das Lernen. 2001 im Juni war es dann soweit: Ich hielt im Alter von 30 Jahren das Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife mit sehr gutem Ergebnis in meinen Händen. Ohne den guten Klassenverband und die Betreuung und Motivation durch die Lehrer hätten wir dieses, ich nenne es immer das zähe Abitur, nicht geschafft.
Nun stand dem Zahnmedizinstudium nichts mehr im Weg und ich erhielt direkt im Wintersemester 2001 meinen Studienplatz in Gießen an der Justus-Liebig-Universität. Ab Mitte 2002 zog ich mein Studium alleinerziehend mit meiner Tochter weiter durch und schloss es im Juli 2007 erfolgreich ab. Nach zweijähriger Assistenzzeit ließ ich mich 2010 in einer eigenen Praxis als Zahnärztin nieder und erhielt auch in diesem Jahr meine Promotion. Heute umfasst meine Zahnarztpraxis in der Wilhelmstr. 8 ein breites Behandlungsspektrum in angenehmer Atmosphäre und ein sehr freundliches, professionelles Team. Für Angstpatienten ist auch eine Behandlung in Begleitung eines Therapiehundes möglich.
Beruflich bin ich angekommen, dank der Möglichkeit, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg an der Abendschule Gießen zu erlangen. Würde ich es noch einmal so machen oder anderen etwas raten? Diese Frage würde ich gerne offen lassen, da jeder seinen eigenen Weg frei wählen sollte. Für mich war es der richtige.
Manuel Stielau, Solidarische Landwirtschaft
Ich bin Manuel Stielau und habe von 2009 bis 2011 meine allgemeine Hochschulreife an der Abendschule Gießen gemacht. Meine damalige Klassenlehrerin bat mich, einen Text über meine Beweggründe, mein Abitur nachzuholen, und wie mich diese Zeit beeinflusst hat, zu schreiben.
Ziemlich genervt von der Schule, mit keinem Gedanken daran, einen weiteren Abschluss zu erlangen, geschweige denn ein Studium zu beginnen, begann ich meine Ausbildung als Kunststoffmechaniker, die ich erfolgreich beendete. Während dieser, auch durch den beruflichen Kontakt mit Studierenden, regte sich der Gedanke in mir: Das kannst du auch! Doch wie studieren ohne geeignete Qualifikation, da ich die Schule mit einem Realschulabschluss verließ? Und wie lerne ich die nötigen Grundkenntnisse in Mathe, Deutsch und Englisch für ein Studium, ohne mir die Kenntnisse selbst beizubringen oder teure Kurse an Fernschulen und Volkshochschulen zu besuchen?
Nach einigem Hin und Her war für mich schließlich die Abendschule der Weg zu Studium und beruflichem Aufstieg. Also los zur Anmeldung in der Schule, zum Zulassungstest und dann, nach Monaten des Wartens, nach Jahren der erste Schultag! Meine Familie schenkte mir eine Schultüte mit Traubenzucker und Energydrinks, die ich in den nächsten drei Jahren gut gebrauchen konnte. In meinen ersten Wochen an der Schule wunderte ich mich über die bunte Mischung an Menschen in meiner und der Parallelklasse. Mit Anfang zwanzig war ich einer der Jüngsten und hatte nun sechzigjährige Klassenkameradinnen. Alle waren die ersten Wochen mit vollem Tatendrang im Unterricht. Und auch wenn sich, bedingt durch die Doppelbelastung von Arbeitsstelle und abendlicher Gehirnakrobatik, nach den ersten Monaten die Reihen moderat leerten, war das Lernklima bestens.
Es bedurfte einer gewissen Jonglage, Leben, Freunde, Partnerin, Arbeit, Hausaufgaben und Lernen in Einklang zu bringen. So wurden schon mal Arbeitskollegen eingebunden, mit mir gemeinsam eine Geschichte auf Englisch zu erdenken, die dann in der Mittagspause schnell verschriftlicht wurde. Oder das Französischvokabelheft lag in der Werkbank, und in jeder freien Minute ging die Schublade auf und der Blick ins Heft. Anwesenheitspflichten wurden manchmal bis aufs Letzte ausgereizt, was auch mal die eine oder andere bessere Note gekostet hat.
Nach drei intensiven Jahren und mit dem Abschluss der allgemeinen Hochschulreife in der Tasche begann ich, meinen ursprünglichen Plan vom beruflichen Aufstieg zu verfolgen, und schrieb mich für ein Studium des Maschinenbaus ein. Ob es nun die zusammengewürfelten, zum Teil lebenserfahrenen, von vielen verschiedenen Orten kommenden Menschen, der Input aus dem Unterricht, die Vorbilder oder die anregenden Gespräche und Diskussionen in meiner Klasse gewesen waren oder auch nicht – auf jeden Fall hatte sich meine Einstellung zum Leben, zu Natur und „Karriere“ geändert, was sich nun in dieser Zeit verfestigte.
Ich brach erfolgreich mein Maschinenbaustudium ab und begann, mein Leben meinen Interessen anzupassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen Bienenstock, einen kleinen Gemüsegarten, eine Ziegenherde und meinen Angelschein, sodass der Gedanke nahe lag, Agrarwissenschaften zu studieren. Während des Studiums stand ich vor der Entscheidung des wissenschaftlichen oder des praktischen Weges. Ich nahm den Abzweig zur praktischen Landwirtschaft, machte eine Lehre zum biodynamischen Landwirt/Gärtner und gründete 2021 eine eigene Gemüsegärtnerei „Terra Lumbricus“, die nach dem Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft, kurz SoLawi, arbeitet. SoLawi ist ein Zusammenschluss aus Konsument*innen und Erzeuger*innen. Die Konsument*innen übernehmen dabei durch regelmäßige Zahlungen das Risiko von Missernten und finanzieren die Produktion von Nahrungsmitteln. Sie bekommen im Gegenzug einen wöchentlichen Ernteanteil, sind Teil der Gärtnerei, können dort mithelfen, Erfahrungen sammeln, etwas über Natur und Nahrungsmittelproduktion lernen und einen Beitrag für eine enkeltaugliche Landwirtschaft leisten.
Ich möchte meine Zeit an der Abendschule nicht missen. Der Umgang mit der jahrelangen Doppelbelastung zwischen Beruf und Abendschule ließ mich an mir selbst wachsen. Ich bin froh, diese Zeit gemeistert zu haben, und es zeigte mir, dass der Lebensweg nicht geradlinig verlaufen muss und es immer eine zweite Möglichkeit gibt, um an sein Ziel zu gelangen. Allerdings bin ich auch froh, dass es „nur“ drei Jahre Schulzeit waren.